Journale Lyrik Hölle Nr. 13

Hölle Nr. 13

Ein Reisebericht zu Dantes Divina Commedia, Inferno XIII

März 2021, 1. Schritt
März 2021, 2. Schritt
März 2021, 3. Schritt
April 2021, 4. Schritt
Mai 2021, 5. Schritt
Mai 2021, 6. Schritt
Später im Mai 2021, 7. Schritt
Ende Mai, 8. Schritt
Juni 2021, 9. Schritt
Juni 2021, 10. Schritt
August 2021, 11. und letzter Schritt

Mit zwei Gesprächen, mit Matteo Colombi und Andrea Grill

Anja Utlers Lesung von Hölle 13 bei der Lectura Dantis am 27.09.2021 in Berlin

März 2021, 1. Schritt

Ich übersetze einen Gesang aus Dantes Göttlicher Komödie.
Ich kann kein Italienisch.

Für sich genommen ist jeder dieser beiden Sätze ok. Zusammen sind sie absurd.


Allerdings ist der Ort, an dem diese beiden Sätze aufeinanderprallen, eingehegt durch das Projekt, in dessen Rahmen ich diese Übersetzung versuche: „Lectura Dantis in 33 Gesängen“, auf den Weg gebracht und begleitet von Theresia Prammer. 33 deutschsprachige Dichter·innen setzen sich zum 700-Jahre-Jubiläum des Dichters mit je einem Canto der Divina Commedia auseinander. ‚Auseinandersetzung‘ ist dabei wörtlich zu nehmen: Es geht nicht darum, möglichst viele neue Übersetzungen abzurufen. Sondern um die Arbeit heutiger Dichter·innen mit dem Überlieferten, und die kann viele Formen annehmen. „Übersetzung“ ist nur eine Option.

Die Projektseite im Netz spricht vom „Potential der aktiven poetischen Bezugnahme“. Davon, dass Dante, „schon dem Namen nach ein ‚Gebender‘ sei, sein Weltgedicht prädestiniert zur Plattform des Austauschs und der Ansteckung, der spezifischen Immunantwort und der nachschaffenden Begegnung“. Das gefällt mir als Startpunkt, und es überzeugt mich, dass all die Auseinandersetzungen mit Dante schließlich auf einem 3-tägigen Festival „den kanonischen Dante-Kosmos“ um „ein poetisches Pluriversum“ erweitern sollen. Nicht zuletzt, indem vorgelesen wird. Das scheint mir gut. Denn Dichtung ist Sound und Sound muss man hören – als das, was bei ‚uns‘ heute daraus geworden ist.

Ich stünde mir also frei, eine Übersetzung gar nicht erst zu versuchen. Und angesichts meiner bisherigen Lektürewege wäre das vielleicht auch klüger: Zu Dante und seiner Commedia verfüge ich nämlich nur über eine Art kulturelles Sickerwissen. Ich weiß das, was alle wissen. Hölle, Fegefeuer, Paradies. Gesänge, je 33. Ich kenne die Zitate, die alle kennen. Ja, ich habe immer mal wieder ein wenig in der Commedia gelesen, unsystematisch, streunend. Aber das ist alles. Als Slawistin ist mir der vermittelte Dante aus Mandelstams Gespräch über Dante präsenter als der tatsächliche. Aber das ist bei solchen Figuren, die für ganze Zeiträume stehen – also wirklich: bestimmte Räume in zeitlicher Erstreckung und umgekehrt – ja nicht ungewöhnlich.

Warum also möchte ich trotzdem in irgendeiner Form ‚übersetzen‘? Einerseits hat das damit zu tun, dass ich – als Dichterin – den Spielarten der ‚poetischen Reaktion‘, des ‚poetischen Dialogs‘, eines ‚Übersetzens ins Eigene‘ zögerlich gegenüberstehe. Bei anderen sehe ich solche Herangehensweisen gerne; ich selbst aber möchte es nicht. Ich habe den Texten anderer nichts hinzuzufügen. Andererseits speist sich der Wunsch zu ‚übersetzen‘ aus der Commedia selbst. Aus ihrer strengen Form. Ich empfinde die Art, wie sie mit ihrer rhythmischen Struktur, Silbenzahl, Reimen die Mündlichkeit herausfordert, als enorm anziehend. Weil eine solche Textgestalt von vornherein klarstellt, dass sie sich nicht ohne weiteres in eine andere Sprache mit anderer lautlicher Struktur und Organisationsprinzip wird transplantieren lassen. Weil ich beständig neu werde austarieren müssen, wie sich eine solche Form im Deutschen heute aufsetzen lässt, so dass sie beweglich, aber erkennbar bleibt, und weil ich die Antwort darauf erst durch das Tun, also performativ, erhalten kann. Weil damit aber auch ein Scheitern auf mehreren Ebenen unausweichlich sein wird. Und daraus entsteht eine Freiheit. Gerade weil Dante ein Denkmal ist: Weder er noch seine Commedia brauchen mich oder können von mir irgendwie beschädigt werden. Deshalb darf ich mich unbekümmert freuen auf diesen Canto, der jetzt ‚meiner‘ geworden ist: Theresia Prammer hat mich mit der Hölle Nr. 13 verkuppelt, deren Gestrüpp ich nun durchstreife. Diese Unbekümmertheit werde ich brauchen; aber dann darf es genau um solche Freude gehen, und um punktuelles Gelingen.


Die Frage ist lediglich: Was kann Gelingen hier überhaupt heißen?


Die Deutsche Dante-Gesellschaft listet auf ihrer Webseite sämtliche Übersetzungen der Commedia ins Deutsche auf. Es sind 52. Es gab also offenbar stets Bedarf an weiteren Gelingensversuchen. Die Dante-Gesellschaft gibt zu den allermeisten Übersetzungen eine kurze formale Charakteristik (z.B. „Terzinen mit vorwiegend weibl. Reimen“ zur Falkenhausen-Übersetzung, oder „zumeist Blankverse mit männl. und weibl. Schlüssen; mehrfach Sechsheber und Vierheber“ über Nora Urban). Unter den gelisteten Übersetzungen sind auch eine ins sauerländische Platt (Karl Willeke) und die von Rudolf Borchardt in ein „Oberdeutsch von 1300“ – was vielleicht zu seinem Programm der ‚schöpferischen Restauration‘ gehörte. Als früheste Übersetzung führt die Seite die Prosaübersetzung von Lebrecht Bachenschwanz, erschienen 1767. Später wird dann viel gereimt, aber seit einigen Jahrzehnten scheint sich ‚Gelingen‘ wieder vom Bemühen um den Reim zu entkoppeln. Allein in meiner Lebenszeit sind 11 neue Übersetzungen erschienen. „Derzeit sind“, schreibt die Dante-Gesellschaft, „soweit uns bekannt, weitere vier Gesamtübersetzungen in Vorbereitung oder teilweise bereits erschienen“. Und demnächst kommen nochmal 33 Gesänge aus dem poetischen Pluriversum dazu.


Und was kann eine schriftliche Begleitung einer Dante-Übersetzung liefern, wenn die Übersetzerin keine Dante-Expertise vorweisen kann? Vermutlich genau das: die reflektierende Begleitung eines Übersetzungsprozesses. Eine Dokumentation dessen, was die Übersetzerin sieht, wenn sie sich beim Übersetzen über die Schulter schaut. Ergänzt um die Bitte an die Lesenden, sich für Hinführungen oder neue Einsichten zu Dante an die zahlreichen kenntnisreichen Schriften zu wenden. Um schon vor dem Lectura Dantis-Festival einen Einblick in tatsächliche Begegnungen mit Dante zu bekommen, die nicht in eine Spezialisierung gemündet sind, möchte ich aber auch Gespräche mit zwei Dante-Leser·innen aus verschiedenen Kontexten führen: Einmal mit dem italienischen Literaturwissenschaftler Matteo Colombi, der an der Uni Leipzig westslawische Literaturwissenschaft lehrt, und zum zweiten mit der Schriftstellerin und Biologin Andrea Grill, die in Italien studiert und geforscht hat.


Theresia Prammer überlässt mich in der Frage, was ‚Gelingen‘ bei meiner Dante-Übersetzungen heißen könnte, nicht einfach meinem Schicksal. Sie hat uns allen, die wir an der Lectura Dantis beteiligt sind, zur Handreichung eine vergilische Gruppe komponiert, bestehend aus sich selbst, dem Literaturkritiker Roberto Galaverni und den Dante-Forscher·innen Manuele Gragnolati und Andrea Renker. „Uns“ heißt hier: wir ‚Lesende‘ machen uns aus verschiedenen Ländern auf den Weg, vor allem aus Österreich und Deutschland, wir sind zwischen jung und nicht mehr ganz so, sind viele und gemischt. Das sehe ich bei unserem ersten gemeinsamen Zoom-Workshop Mitte März 2021. In ihrer Einführung zu Dante erinnern uns Roberto Galaverni und Theresia Prammer daran, wie sich der exilierte Dante in der Commedia ausmalt, er werde sich durch dieses Werk einen solchen Ruhm erschreiben, dass er – im Triumph – in seine Heimatstadt Florenz würde zurückkehren können. Üblicherweise bin ich mit einer gesunden Distanz gegenüber Dichterbiografien gesegnet (Texte müssen anonym funktionieren!), aber diese Information werde ich auf einmal nicht mehr los. Diese Sehnsucht – bleiben zu können, wo man sein will – trifft mich plötzlich. Ich muss einerseits an etwas denken, wovon eine Freundin berichtete: Von der Hoffnung eines aus Syrien geflohenen Fotografen, er werde doch in der EU bleiben können, wenn seine Fotografien nur gut seien und genug Anerkennung fänden. Und es stimmt ja, Rang korrespondiert mit der Freiheit, über Aufenthaltsorte und -dauer verfügen zu können. Nur leider vagabundiert künstlerischer Rang oft folgenlos durch solche Kategorien. Andererseits ist auch unsere Situation speziell: Wir Dante-Übersetzer·innen auf Zeit sitzen im Corona-Lockdown in unseren Zimmern, und bestimmt können nicht alle dort sein, wo sie gerne wären. Immerhin sind wir alle mit diesem Auftrag versorgt, der mit großzügigen, kostenlosen Wissenslieferungen daherkommt, und ja, für manche hängt vielleicht was davon ab, wie dieser Auftrag erledigt wird – Ob man sich danach wieder und weiter in vergleichbaren Gegenden wird aufhalten dürfen? – für die meisten aber ganz sicher nicht; sie können sich auf die Sache selbst fokussieren. (Finanziert werden die Wissenslieferungen und unser aller Arbeit übrigens vom Berliner Hauptstadtkulturfonds und dem Projektfonds des DÜF.)


Für die Übersetzung jedenfalls mache ich mir während dieses ersten Workshops eine innere Notiz: besonderes Augenmerk auf die Bewegungen! Der durchs Exil nomadisierende Dante hat sich einen verwegenen Pfad geschrieben, der ihn nicht nur über sich und seine Welt hinaus ins Jenseits, sondern dort auch zur Geliebten und ins Paradies führt. Fähigkeit und Zwang sich zu bewegen, wer darf wohin und wer nicht, Zielgerichtetheit, Ziellosigkeit, Enge und Weite dürften also auch in Hölle Nr. 13 nicht irrelevant sein. Zumal dieser Canto von den Selbstmördern handelt. Für ihre Weigerung, sich weiter in ihrem Körper auf dem ihnen zugedachten Weg zu bewegen, schlägt Dante diese Strafe vor: Sie werden in Pflanzen verwandelt, also in Körper, die sich überhaupt nicht mehr fortbewegen können. Die auch keine Hände haben, die sie gegen sich selbst richten oder mit denen sie wenigstens Verletzungen von außen abwehren könnten. Kein Davonkommen mehr.


Nicht sicher bin ich allerdings, ob das, was auf mich heute verwegen wirkt – sich selbst auf einer Reise durchs Jenseits zu imaginieren – wirklich so ungewöhnlich war. Ich lese nach: Bereits seit der karolingischen Zeit, ab dem späten 8. Jahrhundert, waren Jenseitsreisen offenbar ein populäres Genre. Zuerst ging es vor allem durch die aufregende Hölle, allmählich auch durchs Fegefeuer, ungewöhnlich bei Dante sei, dass er auch das Paradies voll ausgestalte. Der Himmel also nicht länger die massiv-goldene Fläche, denke ich. Ebenfalls nicht ungewöhnlich sei – so Alison Morgan in Dante and the Medieval Other World – dass Dante sich die Strafen für seine Zeitgenossen ausmalte. Besonders war eher, dass er die Verbindung zur Antike herstellt und die von dort überlieferten Figuren integriert.


Mit dem Gedanken der Pflanze als Hölle aber tue ich mich schwer – mich faszinieren die Komplexität, Fremdheit, die Vorgehensweisen von Pflanzen. Roberto Galaverni macht aber darauf aufmerksam, dass die Pflanzen von Hölle Nr. 13 eben gar keine richtigen Pflanzen sind: Sie sind nicht mal grün, sondern dunkel und finster, „ma di color fosco“. Das ist nun irgendwie schön für mich, fürs Übersetzen aber muss es ohnehin egal sein, wie schwer ich mich mit einem Gedanken tue.

März 2021, 2. Schritt

Die Pflanzen von Hölle Nr. 13 sind auch nicht gerade oder glatt oder himmelwärts strebend. Sie sind „knotig“, „verschlungen“, „Gestrüpp“ – so die Interlinear-Übersetzung, die Theresia Prammer für mich gemacht hat. Die „Unwegsamkeit“ von Depression und Angst (gesehen mit Andrea Grills Cherubino – das Gespräch mit Andrea Grill lesen Sie hier) wird auf mehreren Ebenen ausgespielt: die Selbstmörder, die ihrer eigenen Unwegsamkeit die finale Absage erteilen, die zur Strafe selbst zu einer Unwegsamkeit werden, einem weglosen Depressions-Gestrüpp, als das sie wiederum andere konfrontieren.


Mein Weg in die Commedia verläuft auch nicht gerade. Ich gehe eigentlich gar nicht hinein. Ich tanze um sie herum. Das hat mit der Sprache zu tun. Bei Texten auf Englisch, Russisch oder Slowakisch fange ich einfach an zu übersetzen. Ich folge dem Text, wohin er mich mitnimmt. Auch auf die Wege, die aus ihm wieder hinausführen. Bei jedem neuen Öffnen der Übersetzungsdatei gehe ich das Erarbeitete nochmal durch, ändere, und mache dann mit dem Text ein paar weitere Schritte. Am Ende kommt meist eine kurze Phase, in der ich alles, Text und Übersetzung, komplett im Kopf habe. Fertig schließlich heißt: ich kann anfangen zu vergessen.

Der Commedia dagegen kann ich nicht folgen. Und ich kann sie nicht durch mich durchlaufen lassen wie andere Texte. Es hat mehr etwas von spitzen Fingern, von Zupfen und Pinzetten – hier durch Übersetzungen blättern, da durch Kommentare, dort ein Zipfelchen anheben, sehen: puh; ich komme nicht hinterher. Ich weiß seit Weihnachten, dass ich diese Aufgabe haben werde und ich habe noch keinen Vers übersetzt. Nicht einen.


Workshop von Manuele Gragnolati zu Dantes „Plurilingualism“. Keine sprachliche Exklusion bei Dante, nehme ich mit, sondern alle verfügbaren Sprachschichten zusammen, Umgangssprache(n) statt nur Latein, Kontamination statt Reinheit. Der Altphilologe Thomas Poiss, der auch in unserer Zoom-Gruppe ist, erklärt, dass Kontamination einmal hieß „in Kontakt bringen, ein Stück Literatur erzeugen durch Kontakt mit anderen literarischen Stücken“. Hier taucht wieder auf, was Theresia Prammer auch auf der Webseite schreibt: Dass Ansteckungen möglich seien. Mandelstam spricht davon, dass das Poetische in den Kreuzungen liege, und Dante ein Meister solcher Kreuzungen sei. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (www.dwds.de) sagt zum Thema: „Kontamination f. ‚Zusammenziehung, Vermischung zweier sprachlicher Einheiten zu einer neuen‘, entlehnt aus lat. contāminātio (Genitiv contāminātiōnis) oder frz. contamination ‚Befleckung, Verderbnis, Verunreinigung‘ (zu lat. contāmināre ‚durch Berührung, Vermischung verderben, besudeln‘, frz. contaminer), zunächst ‚Besudelung, Befleckung‘ (Ende 18. Jh.), dann ‚Verschmelzung zweier Wörter, Konstruktionen zu einem neuen Wort bzw. einer neuen Konstruktion‘ (19. Jh.), heute auch Fachwort des Strahlenschutzes ‚radioaktive Verunreinigung, Verseuchung‘ (20. Jh.).“ Das sind vielleicht wirklich richtungsweisende Bilder. Dante von einer übersetzen lassen, die selbst zwar kein Italienisch kann, aber im Dichten immerhin etwas Erfahrung mitbringt, das könnte eine einfache Kreuzungsfortsetzung sein (die, wie immer, auch ins Nichts führen kann). Und eine Art Aussaat, wie sie in der Beschreibung auf der Webseite der Lectura Dantis anklingt, wenn es heißt, die „zwischensprachliche Übertragung“ sei immer eine „Lectura“, die „den Ursprungstext dialogisch öffnet und an einem unvertrauten Ort der Rezeption zur Entfaltung bringt“.


Was es für die Übersetzung aber heißen kann, dass Dante maßgeblich dazu beitrug, aus verschiedenen mündlichen Varianten eine neue italienische Schriftsprache zu erzeugen (auszukreuzen? durch Einkreuzung zu schaffen?), das weiß ich noch nicht. Zwar heißt es definitiv: keine Poetismen, nicht automatisch das ‚schönere‘, entrücktere Wort statt des einfacheren; aber das gilt für die allermeisten Gedichtübersetzungen. Es könnte aber auch heißen: Slang, Jugendsprache, Einsprengsel aus anderen Sprachen, Arabisch, Türkisch, Russisch, Polnisch, Englisch natürlich. Andererseits veraltet nichts schneller als forciert rotzige Übersetzungen. An diesem Punkt aber sollte ich innehalten, denn was wird das für ein Anspruch: Mein Übersetzungsgraffito am Denkmalsockel kann zwar nicht anders als recht brüchig werden, aber keinesfalls soll dieses Übersetzungsgraffito zu schnell veralten? Da passt was nicht zusammen.


Was ich aber mitnehmen kann: Keine Scheu vor der lockeren Formulierung! Die stülpt Dantes Text nichts über, was er nicht sein wollte.

März 2021, 3. Schritt

Im Workshop ist auch die Frage aufgekommen, ob sich die Commedia sprachlich entwickle. Ob also in der Hölle „niedrigere“ Sprachschichten dominierten, während das Paradies auf größere sprachliche Reinheit, mehr Latein setze? Ich habe die Antwort irgendwie nicht mitbekommen, aber es lässt mir jetzt keine Ruhe: Wäre das denn nicht eine Reduktion des Plurilingualismus, wenn die Alltagssprache im Sündenkeller steckenbleibt und ins Paradies nur die besenreinen Varianten vorgelassen werden? Aber das ist wohl viel zu ahistorisch gedacht.


Angesichts von Dantes Plurilingualismus – alle Sprachschichten werden Teil des Poetischen – ließe sich ‚Gelingen‘ wenigstens partiell mit ‚Lesbarkeit‘ verknüpfen. Die Zeitgenoss·innen Dantes konnten sich und ihre Alltagssprache(n) in diesem Werk wiederfinden, Zutritt zum Werk war nicht gleichbedeutend mit dem vollständigen Zurücklassen ihres alltäglichen sprachlichen Kontexts. Das Gedicht war also breiter lesbar bzw. hörbar als lateinisch-schriftsprachliche Texte und zielte darauf auch ab. Für eine Übersetzung heute könnte das u.a. bedeuten: Eine Syntax, in der die Informationsübermittlung sich möglichst locker entfaltet. Auf den ersten Blick könnte das für eine Übersetzung in Prosa sprechen. Ich meine aber, das wäre ein Kurzschluss und das Gegenteil ist richtig: Gerade über die Verschränkung von rhythmisch gefassten Versen – die ihre eigene Logik entwickeln und durch das Muster aus Wiederholung und Abweichung begünstigend auf die Informationsentfaltung wirken – mit einer Syntax, die im Deutschen möglichst unauffällig ist, könnte hier etwas erreicht werden. Immerhin machen sich Verse etwas zunutze, das sich auch die Alltagssprache zunutze macht: Rhythmus und Lautmuster sind die Schmiermittel von Sprache und Information. Wie sehr das alltägliche Sprechen auf sie angewiesen ist, fällt meist erst dann auf, wenn es nicht funktioniert – ich erinnere mich an meine vergeblichen Versuche, in Ungarn auf Ungarisch einen Milchkaffee zu bestellen. Später erklärte mir eine Kollegin, bei meiner Bestellung habe abgesehen von den einzelnen Wörtern einfach nichts gepasst: die Laute nicht, die Intonation nicht, nicht das rhythmische Zusammenspiel. Ohne all das habe man meinen Satz einfach nicht mehr decodieren können. Rhythmus und Lautstruktur mögen also zunächst wie Extras auf zusätzlichen Ebenen wirken, in Wahrheit aber ermöglicht diese Art sprachlicher Komplexitätssteigerung erst die Informationsübermittlung. Das gilt für den Alltag wie auch für den Vers und könnte bei Dante in gesteigertem Maß gelten. Ob das auch auf den Reim anwendbar ist, oder ob dessen Nachahmung im Deutschen aus der Komplexität doch eher eine bloße (Ver-)Komplizierung macht, muss sich noch zeigen. (Alles reimt sich im Italienischen, schauen Sie sich nur mal ein Wörterbuch an, sagt Mandelstam – selbst kommend aus dem nicht eben reimabweisenden Russischen (Vgl. О.Э. Мандельштам, „Разговор о Данте“, in: Слово и культура. Москва 1987, S.110)).

April 2021, 4. Schritt

In Manfred Hardts Nachwort zur Dante-Übersetzung von Friedrich Freiherrn von Falkenhausen (Insel, 2002) heißt es: „Dante rechnete, bevor er schrieb“ (S. 825). Nicht nur christliche Zahlensymbolik (3, 7, 10 etc.) sei präsent, vor allem geometrische Verfahren trügen die Werkarchitektur – also die Umrechnung von Namen in Zahlen gemäß der Werte der Buchstaben nach ihrer Alphabetstelle (woraus sich ergibt Dante = 41, Beatrice = 61, Bice = 19) (vgl. S. 828ff.). Außerdem sei Beatrice „eine Neun, ein Wunder der Trinität und aus ihr hervorgegangen, so wie die Neun aus der Quadrierung der Drei hervorgeht, dem Symbol der Dreieinigkeit“ (S. 831). Interessant. „Amore“, das zentrale Wort für Dante und Beatrice, erscheint laut Hardts Analyse zum ersten Mal im 39. Vers. 3 und 9 aber „sind die Zahlen der Beatrice“ (S. 831). Insgesamt komme das Wort „amore“ im Inferno 19-mal vor, und 19 sei der Zahlenwert von „Bice“, der Kurzform von Beatrice. Über die Komposition der Zahlen sei Beatrice „an allen Ecken und Enden des großen Gedichts gegenwärtig, auch dann, wenn im Wortlaut des Textes nicht von ihr die Rede ist“ (S. 832). Verteilung und Frequenz der Wörter richtet sich also, mehr als in poetischen Texten ohnehin gängig, nach numerischen Prinzipien. Es gab ein Verteilschema, bevor überhaupt zu schreiben begonnen wurde. Ich denke an Franz Dodels Langgedicht Nicht bei Trost, das alle 500 Verse zu Proust und seiner Suche nach der verlorenen Zeit zurückkehrt. Das seien wie Anker, sagt Dodel (oder so habe ich es in Erinnerung), an die sich das Gewebe knüpfen lasse. Dante hat offensichtlich ein ganzes Netz solcher Ankerpunkte, das die Commedia zusammenhält und zugleich auffaltet. Nicht ohne Komik ist Hardts Feststellung: „Dantes umfangreiche Arbeiten mit der Zahl haben mit Sicherheit die Abfassungszeit des Gedichts erheblich verlängert“ (S. 829). Hätte er nicht so viel gerechnet, hätte er noch eine Divina Commedia Reloaded schreiben können!

Für die Übersetzung der ganzen Commedia müsste man also auch diese Baupläne kennen oder sie beim Übersetzen aufmerksam verfolgen. Für die Übersetzung nur eines Canto könnte man argumentieren, dass der Versuch, Wörter in dem Vers zu belassen, in dem sie im Original stehen, genügen sollte. Auch das spräche dafür, nicht zu reimen, weil der Reim meistens größere Umbauarbeiten nötig macht. Aber schon die gewünschte, syntaktisch begünstigte, möglichst mühelose Informationsübermittlung wird Verschiebungen zwischen Versen – im Sinne von: ‚das da‘ eins nach oben, ‚das da‘ eins nach unten – nahelegen. Und dem Gebäude wird es die Winkel verschieben.

Mai 2021, 5. Schritt

Der 5. Schritt entfällt. Wie eine Pflanze stehe ich am Eingang zu Hölle Nr. 13 und komme nicht vom Fleck.

Mai 2021, 6. Schritt

Theresia Prammer antwortet mir ausführlich auf meine Frage, wie sich der Plurilingualismus im Verlauf der Divina Commedia entwickelt:

„Die Frage, die Du bezüglich der Entwicklung der sprachlichen Register stellst, ist groß; es gibt tatsächlich einen Unterschied im Ausdruck zwischen Inferno und Paradiso, der auch immerzu herbeizitiert wird: Die Reime seien ‚aspre‘ e ‚chiocce‘, sagt Dante ja einmal selbst über das Inferno, ‚rauh‘ und ‚heiser‘ (o. a.), das muss auch so sein, denn nur so wird er der Materie gerecht, dem Blut und der Strafe und der Sünde, und nur so ist es möglich, die Kontraste im Rahmen der Heilsgeschichte herauszuarbeiten.

Mindestens ebenso bezeichnend sind jedoch die Kontinuitäten, denn die Sprache bleibt auch im Paradiso sehr differenziert: was an materieller Konkretheit verlorengeht, wird an philosophisch-spiritueller-theologischer Dichtheit gewonnen. Die Themen sind andere, die Konzepte. Vor dem dogmatischen Hintergrund agiert das lateinische Substrat vielleicht mehr, das Lexikon greift eher nach oben als nach unten, denn das Paradiso ist die Cantica des Lichts (...). In der Betrachtung der Engelshierarchien wird man keine Misstöne finden. Dennoch bleibt die Sprache durchwachsen, fern von jedem Purismus. Auch das Böse wird nicht ausgeblendet, sondern immer wieder herbeizitiert, um es dann zu verscheuchen, wie einen unguten Schatten, der das leuchtende Bild verstellt. Niemals wird Dante im Paradiso aber so ungehindert darin schwelgen, wie er es, allerdings nur an wenigen Stellen, wo er dann gleich von Vergil dafür gemaßregelt wird, im Inferno tut. Auch Obszönitäten (Inferno 21) und Ekel wird man im Paradiso vergeblich suchen. Aber die negativen Energien sind noch da, Empörung und Aufbegehren, in das sich auch Wehmut und Stolz mischen: ‚ich werde das alles aufschreiben.‘ ‚Ich werde es euch zeigen!‘ In der Regel werden für diese Tendenz die Cacciaguida-Gesänge (Paradiso 15-17) ins Treffen geführt, wo Dante in der Begegnung mit seinem ‚Urahn‘ (den er zu einem ganz noblen Kreuzfahrer stilisiert) noch einmal seinem gesammelten Frust über die Exilierung aus Florenz Luft macht. Oder auch der Canto 30, wo er, fast schon im Angesicht Gottes, noch einmal zu einer giftigen Papstschelte ansetzt. So gibt es diese Tendenz zu einer ‚geläuterten Rede‘ also gewiss, traditionell wird die Sprache jedoch nicht, sondern bleibt reich, lebendig und originell wie immer bei Dante. Auch das Paradiso ist voller Neologismen - viele stehen im Zusammenhang mit diesem Übersichhinausgehen des Menschen hin zum Göttlichen, dem ‚trasumanar‘.

Es sind auch drei unterschiedliche narrative Systeme. Im Inferno steht alle sprachliche Darstellung im Dienste des ewigen Schreckens; im Paradiso steht sie im Dienste der ewigen göttlichen Gnade und Aufgehobenheit in Gott. Der einzige Jenseitsort, in dem die Leute nicht an einen definitiven Ort gebannt sind, ist das Purgatorio. Das macht die 2. Cantica vielleicht am menschlichsten und bringt alle die in Verlegenheit, die allzu linear an die Sache herangehen wollen.“


Mit jeder zusätzlichen Information, die mich zur Commedia erreicht, kann ich mir schlechter vorstellen, überhaupt einen Schritt Deutsch in ‚meinen‘ Canto hineinzusetzen. Die Informationen zeigen mir zu deutlich, wie lange man diesen Text studieren müsste, um überhaupt (…). Vermutlich werde ich dem Impuls, immer weitere und tiefere Analysen einzuholen – dem ich ja ohnehin nie hatte folgen wollen, der aber mächtig ist – besser widerstehen müssen. Es wird in diesem Projekt um Sachen wie „erfassen“, „durchdringen“, „erschöpfend“ oder auch nur „ausreichend“ einfach nicht gehen können.


Ungeachtet dessen fasziniert mich Theresias Hinweis, dass zwar natürlich die Seelen in der Hölle allesamt festsitzen, dass aber denen im Paradies ihre Orte genauso zugewiesen werden – es sind halt nur deutlich bessere Orte. Lediglich die Seelen im Fegefeuer haben eine gewisse Bewegungsfreiheit. Die Hölle Nr. 13 aber kennt auch etwas, das sich unter dem heutigen Schlagwort vom rasenden Stillstand oder dem Hamsterrad fassen ließe: Gejagtsein, Panik, Flucht, nur um doch von Hunden zerrissen zu werden, aber das ist kein Tod, denn tot ist man ja schon, und damit kann es wieder von vorne losgehen, Gejagtsein, etc. –

Später im Mai 2021, 7. Schritt

Endlich habe ich die ersten Verse übersetzt. Damit es ging, musste ich mich weniger von eingangenen Informationen, als von zwei sehr konkreten Wünschen an meinen deutschen Text verabschieden.

1. Wunsch: Von den ersten 7 Versen von Hölle Nr. 13 beginnen 5 mit dem Wort „Non“. Dieses auffällige Muster wollte ich natürlich nachahmen, das musste ich nachahmen wollen, auch wenn ich gesehen hatte: Andere Übersetzungen schaffen das auch nicht (scheinen es teilweise aber auch gar nicht zu versuchen). Diesen Wunsch rauszuwinken war noch relativ leicht, weil diese Wiederholungsstruktur im Deutschen nicht ohne erhebliche Verrenkungen hinzubekommen wäre. Aber dann wollte ich (mir? dem Text?) wenigstens den zweiten Wunsch erfüllen.

2. Wunsch: Den „Nessus“ wie im Italienischen gegen Ende der ersten Zeile belassen – „Non era ancor di là Nesso arrivato“ – und nicht den Satz mit ihm beginnen. Denn Nessus gehört zum Gesang vorher: Er ist der Kentaur, der die Wanderer über den Blutfluss gebracht hat, in dem die Tyrannen bis auf alle Ewigkeit Oberkante Unterlippe im Blut stehen. Im ersten Vers von Hölle Nr. 13 wird Nessus verabschiedet, es geht nicht mehr um ihn, und es gefällt mir, wie Nessus in der italienischen Variante einer „noch-nicht“-Konstruktion nach ein paar Wörtern nochmal kurz aufblitzt – wie schon durch Bäume hindurch gesehen – um dann ganz zu verschwinden. Im Deutschen finde ich dazu keine passende Konstruktion. Der Satz könnte z.B. mit ‚es war‘ anfangen, oder mit ‚noch war‘, aber dann käme als 3. Wort eh schon ‚Nessus‘ und dafür wäre der Text bereits im allerersten Vers unaufhaltsam in einen getragenen Ton hineingestolpert. In einen Satz, der sich so in sich selbst verdreht, dass sich von ihm aus nur mit Mühe weiter übersetzen lässt – und lesen wohl genauso.

In diesem Wunschkorsett hatte ich mich verhakt, und erst heute konnte ich es aufschnüren. Doch einfach los mit Nessus. Dem Kentauren seinen letzten starken Auftritt am Eingang zum Wald: „Nessus war noch nichtmal wieder drüben“ – Partizip („arrivato“) streichen, denn das ‚angekommen‘, ‚angelangt‘, ‚eingetroffen‘ versteht sich von selbst – und dann kann es weitergehen, „da kamen…“, die weiteren Verse rollen sich bereitwillig auf: „Nessus war noch nichtmal wieder drüben / da kamen wir bereits in einen Wald / und der war uns von keinem Pfad markiert.“

Ende Mai, 8. Schritt

Die zweite Terzine beginnt so: „Non fronda verde, ma di color fosco“ und sie sendet schöne Grüße vom ‚ü‘. „Verde“ ist grün und muss auch im Deutschen so genannt werden – das Gedicht betont ja hier die fehlende Normalität, indem es diese nochmal beschwört. Blätter sind grün und wir sagen es. Bzw. die „fronda“ sind grün; ohne Italienischkenntnisse hockt sich das Hirn auf das, was es aus anderen Sprachen kennt – „fronds“, im Englischen, die Wedel, Farnwedel, auch palm fronds, etwas Breiteres, Größeres als nur Blätter. Später kommt das Wort nochmal vor, und Theresia Prammer bestätigt in ihrer Interlinearversion, dass das keine false fronds sind: fronda beziehe sich insgesamt auf die Baumkrone. Also eigentlich das Laub. Nur klingt ‚Laub‘ in meinen Ohren etwas schlank. Ich weiche auf ‚Blattwerk‘ aus, da steckt mehr Materie drin, und auch eine eigenartige Bewegtheit.

Zurück zum ‚ü‘. Besagtes Blattwerk ist also nicht grün, sondern: „ma di color fosco“. Schön wäre ‚düster‘, wegen seines ausgeprägten Changierens in die Stimmung, aber dann trügen die beiden Adjektive, ‚grün‘ und ‚düster‘, die diese Welt beschreiben und dabei einen Gegensatz aufmachen sollen, denselben betonten Vokal. Nun geht es in diesem Gesang zwar auch um Umschlagspunkte – erst läuft alles, und dann schnappt das Leben in die Katastrophe über – aber diese Stelle ist zu früh im Text, um einen Gegensatz in einer Gleichlautung zu verstecken und zu hoffen, dass die Leser·innen sich das dann schon denken können, ja, sich daran erfreuen werden, wie auch Blattgrün jederzeit ins Düstere umschlagen kann. Nein, diese Blätter sind nicht grün und sie vertragen deshalb auch kein ‚ü‘. Nach einigen Schleifen durch ‚dunkel‘, ‚finster‘, ‚matt‘, ‚schmutzig‘ entscheide ich mich für eine Lösung, die erstmal nicht auf der Hand liegt: „Nicht grün das Blattwerk, Finstrigkeiten bloß“. Im übernächsten Vers nämlich werde ich das „giftige Gestiel“ setzen für „stecchi con tosco“ und das geht eine gute lautliche Beziehung zu den ‚Finstrigkeiten‘ ein. Außerdem bringt ‚Finstrigkeiten‘ eine Vielteiligkeit, Unübersichtlichkeit mit, die für den gesamten Gesang wichtig ist.


Und so geht die Terzine weiter:

„non rami schietti, ma nodosi e 'nvolti;
non pomi v'eran, ma stecchi con tosco“

Ich übersetze:

„nicht ranke Äste, bloß Buckel, knotig;
nicht sattes Obst, bloß giftiges Gestiel“

Meine deutsche Satzstellung in den je zweiten Vershälften dreht sich nach dem inversen „Finstrigkeiten bloß“ langsam weiter. Zuerst in eine neue Verklumpung im stockenden „bloß Buckel, knotig“, und erst danach löse ich in die direkte, merkmallose Wortfolge „bloß giftiges Gestiel“ auf. Sie markiert auch die Ablösung in eine erzählende Distanz: Die folgende Terzine nämlich liefert eine vergleichende, diesseitige Einordnung – sowas wie das hier schätzen nichtmal die wilden Tiere zwischen Cecina und Corneto. Ich bevorzuge damit eine Syntax, die das Knotige der beschriebenen Gewächse in sich aufnimmt, gegenüber einer Imitation des strengen italienischen Parallelismus. Rechtfertigung? Keine überzeugende. Vielleicht, dass sich so auf einer Ebene eine Dichte herstellen lässt, die durch den Verlust der Reime andernorts fehlt.

Das „giftige Gestiel“ jedenfalls bindet den dritten Vers übers ‚i‘ an die „Finstrigkeiten“ des ersten und schließt so die Strophe, sein „gi – ige – ge“ suggeriert eine Anhäufung, eine biestige Multiplikation, Gestrüppgleiches. Diese angestrebte ‚i‘-Dichte ist auch der Grund, warum ich mich am Auftakt der Zeilen für das ‚nicht‘ entschieden habe, und nicht für ‚kein‘. Außerdem lässt sich so – wenn auch mit einem anderen Vokal – nachahmen, wie das Italienische das ‚o‘ des anlautenden „Non“ in den Reimwörtern „fosco / 'nvolti / tosco“ wieder aufnimmt. Das scheint mir hier relevant, weil die Häufung der ‚o‘s in den Reimwörtern dieser Terzine auffällig ist.

Ein wenig wundert mich dagegen, dass ich nicht ‚Äpfel‘ schreibe, für „pomi“, sondern „sattes Obst“. Auch die Übersetzungen, die mir vorliegen, entscheiden sich gegen die Äpfel, sie setzen auf „Früchte“. Man gibt damit den paradiesischen Apfel, in den die Erzählung doch die Hölle bereits eingepflanzt hat, bereitwillig für weniger aufgeladene Wörter auf. Mein Grund ist, dass „pomi“ rund klingt, ‚Äpfel‘ aber nicht, und die Äpfel gehen auch rhythmisch nicht auf. „Obst“ aber schon, es ist prall und fügsam. Außerdem binden die Laute ‚o‘ und ‚s‘ das Obst zur zweiten, höllischen Vershälfte hinüber – eine lautliche Verschränkung, die Dante (über andere Laute) mit „schietti“ und „stecchi“ auch herzustellen scheint. Und mit „satt“ lege ich noch eine Schippe drauf, so dass Rhythmus und bildlicher Eindruck funktionieren – denke ich. Nochmal diese zweite Terzine als Ganzes: „Nicht grün das Blattwerk, Finstrigkeiten bloß; nicht ranke Äste, bloß Buckel, knotig; / nicht sattes Obst, bloß giftiges Gestiel“.


Eine Schippe draufzulegen ist immer verführerisch, am Beginn einer Übersetzungsarbeit. Und sehr oft eine Falle. Das ist ein weiteres Problem beim Übersetzen aus einer unzureichend bekannten Sprache: wenn ich aus dem Englischen, Russischen, Slowakischen übersetze, pocht der Text auf sich; er gibt Klopfzeichen, die mich aus meinen Spintisierereien wieder zurückholen. Die Commedia klopft bestimmt auch; ich weiß nur nicht, was.


3. Terzine, 1. Vers

„non han sì aspri sterpi nè sì folti“

„Gestrüppe so verzottet, undurchdringlich“

Eine weitere Wiederholung von „nicht“/“non“ kriege ich hier nicht ohne größere Verrenkungen hin. Die Verbindung zur Terzine davor versuche ich daher über ‚o‘ und ‚t‘ in „verzottet“ herzustellen (zu „Obst“, „knotig“ und natürlich „bloß“), sowie über die ‚i‘s und das ‚g‘ in „undurchdringlich“.

Versende, 2. Vers

„che in odio hanno“

„die sonst scheißen“

Ermuntert durch die Schilderungen von Dantes auch derber Sprachfreude pfeife ich auf die Gleichung „avere in odio“ = „hassen“, und vertraue meine Übersetzung dem deutschen Vergnügen an den Ausscheidungen an.

Außerdem, so klärt mich Wikipedia auf, wird „Cecina“ auf dem ‚e‘ betont. Meine erste Übersetzung, „auf Cecinas und Cornetos kultiviertes Land“, würde aber rhythmisch nur funktionieren, wenn „Cecina“, wie von mir vermutet, auf der zweiten Silbe betont wäre. Also umstellen, und die Terzine lautet: „Gestrüppe so verzottet, undurchdringlich / schätzen nichtmal jene Biester, die sonst scheißen / aufs kultivierte Land von Cecina, Corneto“.


Und weiter umstellen. In der dritten Terzine tausche ich den zweiten und dritten Vers. Denn das Italienische legt hier steil vor: Erst werden die Harpyien als neue Kategorie eingeführt, und dann jagt ihnen der zweite Vers gleich noch die Trojaner und die Strofades hinterher. Das scheint mir – selbst für jene Mitteleuropäer·innen, die sofort parat haben, dass die Strofades zwei Inseln sind, von denen eine Arpyia heißt – ein etwas dicker Informationsballen. Ich entscheide mich also dafür, zunächst die „Harpyien“ vorzustellen, die (wegen ‚gar-‘/‚har-‘) natürlich „garstig“ sein müssen, dann im zweiten Vers ihre Angewohnheit anzusprechen, „unheilsschwanger“ zu kreischen, und sie erst im dritten Vers damit auf die Trojaner auf den Strofades loszulassen. Zumal die Trojaner hier nur kurz aufblitzen und keine weitere – zumindest keine mir erkennbare – Rolle für diesen Gesang spielen; da können sie bis zum dritten Vers warten, bis die für den gesamten Canto bedeutsamen Harpyien ihre erste Charakterisierung durchlaufen haben: „Die garstigen Harpyien nisten hier, / die durch ihr unheilsschwangeres Gekreisch / gescheucht von den Strofades die Trojaner.“


Die fünfte Terzine beschreibt die Harpyien noch näher. Beantwortet u.a. Fragen zu Flügelspannweite, Fußbeschaffenheit und Bauchbehaarung. Das Italienische setzt mit „Ali hanno late“, „Flügel haben sie weite“, zur Beschreibung an, im Deutschen würde das silbentechnisch etwas ausufern. Ich entscheide mich für die prädikative Konstruktion – x ist y (die auf das ‚ist‘ oder ‚sind‘ immer wieder auch verzichten kann). Grund ist einmal mehr die Informationsübermittlung: Man nennt erst den Körperteil, den die Harpyien haben, und sagt dann, wie er beschaffen ist. Häppchen für Häppchen. Mir scheint in Konstruktionen wie „die Schwingen breit“, „die Bäuche dick“ deutlich mehr verdauungsfördernder Raum zu stecken, als in den enger zusammengeschmolzenen Kombinationen von Adjektiv + Substantiv (‚breite Schwingen‘, ‚dicke Bäuche‘). Die Terzine lautet bei mir: „Die Schwingen breit, menschlich sind Gesicht und Hals, / Krallenfüße, die Bäuche dick mit Federn; / bizarr die Bäume unter ihren Klagen.“

Im dritten Vers ändere ich im Vergleich zum Italienischen die Richtung. Dort heißt es über die Harpyien, dass sie auf den seltsamen Bäumen klagen, also oben, „su“, aber mir galoppieren damit Vers und Zusammenhang unaufhaltsam davon. Ich wiederhole deshalb nochmal die Konstruktion x ist y und lenke den Blick der Leserin, des Lesers nach unten statt nach oben – „Bizarr die Bäume unter ihren Klagen“. Damit verliere ich zwar den suchenden Blick des Sprechers, der etwas ratlos durch diese Unwegsamkeit flattert, aber dafür lande ich ‚unten‘, wo schon Vergil wartet, um im nächsten Vers zu sprechen zu beginnen.


Die sechste und siebte Terzine bieten die Gelegenheit zu ein paar schönen – wie ich finde – aufgerauten Binnenreimen. Der Meister, Vergil, fängt an zu erklären, wo sich die beiden befinden, und sagt, „du bist im zweiten Ring, und bleibst darin // bis du gelangst zum Rand der Schreckenssande: / schau nur gut hin, und du wirst Dinge sehen“. Durch du bist im – Ring – und – darin – bis du – nur gut hin – und du wirst Dinge und, dazwischen hineingeschoben und etwas modifiziert, in gelangst – Rand – Schreckenssande drehen sich die Laute kaleidoskopgleich und puzzeln der ausweglosen Situation ein Echo, dem Motiv des Rings, den man nur für etwas wiederum Schreckliches verlassen kann, genauso wie der Gefangenschaft der Seelen in den Bäumen.


Die siebte Terzine liefert auch ein schönes Beispiel dafür, dass, in der entsprechenden rhythmischen Umgebung, die komplexere Satzstellung das bessere Schmiermittel sein kann, als eine vermeintlich einfachere:

„schau nur gut hin, und du wirst Dinge sehen
zu glauben nicht, würd ich sie bloß erzählen“

Die übliche Wortfolge im zweiten Vers wäre: „nicht zu glauben“; die hatte ich zunächst auch probiert, war aber bei jedem Wiederlesen in diesem Vers gestolpert. Oder besser: mit der Zeile eingeknickt. „nicht zu glauben, würd ich“ unterbricht in der Versmitte das jambische Muster und erzeugt durch das Aufeinandertreffen der beiden unbetonten Silben eine Art Schlagloch, in dem sich Rede und Gedankengang verfangen. Die etwas ungewöhnlichere Variante „zu glauben nicht, würd ich“ dagegen ist nicht nur rhythmisch stabil, sie läuft auch parallel zum unmittelbar voranstehenden Vers: Beide Verse steuern nach drei Silben mit einem einsilbigen Wort auf ‚i‘ in die Zäsur. Der gleiche Bau der Verse trägt und stützt die semantische Entfaltung besser als die merkmallosere (alltagssprachlichere, prosanähere) Satzstellung.


„Ein paar schöne Binnenreime“, „ein schönes Beispiel für…“ – aus anderen Übersetzungsarbeiten weiß ich, dass der Impuls, der eigenen Übersetzung immer wieder ein „schön!“ zuzurufen, nichts anderes als ein recht deutliches Warnsignal ist. Vor allem, wenn diese ‚schönen Stellen‘ eher leicht zu erreichen waren. Man übersetzt dann mit hoher Wahrscheinlichkeit nur sich, folgt den eigenen Gewohnheiten und Fertigkeiten, und lässt sich vom zu übersetzenden Text dabei nicht groß stören. Aber es ist, wie ich oben schon gesagt habe: Mit Sicherheit pocht die Commedia auf sich, ich kann sie nur nicht hören.

Juni 2021, 9. Schritt

Ich treffe mich mit dem Literaturwissenschaftler Matteo Colombi. Ihn habe ich um ein Gespräch gebeten, weil er in Italien aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, er als Literaturwissenschaftler aber gerade nicht die Romanistik gewählt hat; er ist Slawist. Heißt: Er hat ein völlig anderes Informationsniveau als ich, und doch sind seine Lese-Erfahrungen, die er als junger Mensch mit Dante gemacht hat, nicht durch eine später erworbene Dante-Spezialisierung geschliffen. Wenn ich schon aus Dantes Ausdehnung des poetisch verwendbaren Sprachspektrums etwas wie „Lesbarkeit“ als Übersetzungsziel abgeleitet habe, so dachte ich, könnte das eine günstige Perspektivierung sein.

Und, wie sich herausstellt, ist sie das auch. Es wird im Gespräch nämlich deutlich, dass meine Ideen von Lesbarkeit, sich mühelos aufrollenden Sätzen und semantischen Zusammenhängen, so gar nichts mit dem zu tun hat, wie Schüler·innen in Italien Dantes Divina Commedia begegnen. In italienischen Klassenzimmern wird erschlossen, mithilfe von Kommentaren und eigenen Übersetzungsübungen ins Neu-Italienische, eingebettet und mit Blick auf andere gedankliche Formationen desselben zeitlichen Kontexts ein Verständnis kulturgeschichtlicher Entwicklungslinien aufgebaut. Mit anderen Worten: Es werden vernünftige Bildungsziele verfolgt.

Ich greife diesen Aspekt aus dem sehr reichen Gespräch mit Matteo Colombi heraus (das ganze Interview hier), weil darin, gewissermaßen hinter einer Kurve, eine Frage sichtbar wird, die bisher unausgesprochen geblieben ist: An wen kann sich meine Übersetzung richten? An wen richten sich die Übersetzungen dieses gesamten Projekts? Verfolgt man ein redliches Bildungsinteresse, ist man mit Hartmut Köhlers Version gut beraten (erschienen bei Reclam, 2010-12): Doppelseiten mit dem italienischen Original links, rechts eine sehr wortnahe (nicht zu Versen bearbeitete) Übersetzung, darunter ebenso ausführliche wie aufschlussreiche Kommentare. Welches andere Interesse also könnten „unsere“ Übersetzungen adressieren? Es könnte ein dezidiert literarisches sein: Mit welchen Mitteln begegnen heutige Dichter·innen Dante? Was sehen bzw. hören sie und was entsteht daraus? Vermutlich ist der Reiz hier das Spektrum unterschiedlicher Reaktionen, Perspektiven, Umgangsweisen. Zweifellos ist das Schöne  dieses „Fest der Gegenwartslyrik als grenzüberschreitende Dante-Reminiszenz“, als das die Lectura Dantis entworfen ist. Dort und auch ansonsten hoffe ich auf die, auf die ich immer hoffe: Die Zufallsbekanntschaften zwischen Text und Einzelperson. Auf die Zufallszusammentreffen, von denen man selten erfährt, und noch seltener davon, was sich aus ihnen dann entwickelt hat.

Juni 2021, 10. Schritt

9. Terzine. Die erste Verszeile wird viel kommentiert: „Cred'ïo ch'ei credette ch'io credesse“ – Vermutungen über die Vermutungen anderer, theory of mind, Empathie und Spiegelung. Ich entscheide mich dafür, die drei verschiedenen Formen eines Verbs nachzubilden. Statt meiner ersten Lösung „Ich dachte, dass er dachte, ich dächte“ nehme ich letztlich: „Ich dachte er dächte ich würde denken / es erhebe dieses Stimmgeästel sich / aus Menschen, die vor uns sich versteckten.“ Mit dem Wegfall des „-cht-“ nach Doppelung nehme ich eine geringe lautliche Diskrepanz in Kauf, immerhin kann ich die ‚ä/e‘-Lautungen in den folgenden zwei Zeilen wieder aufgreifen.

„Stimmgeästel“ ist ein durchs Original nicht gedeckter Neologismus, der aber über Lautlichkeit und Motivik den Vers an das „giftige Gestiel“, die „Finstrigkeiten“ und die "Gestrüppe" vom Anfang bindet. Immerhin geht es genau darum, dass die Stimmen und das Gestrüpp praktisch deckungsgleich sind. Auf den Gedanken, dass ich hier eine Engführung zwischen Stimmen und Ästen versuchen könnte, hat mich aber die Interlinearübersetzung von Theresia Prammer gebracht, mit ihrem Hinweis, dass Dantes „bronchi“ zwar Äste sind, heute aber die Bronchien meinen.


Auch die nächste Terzine, die zehnte, gehört zu den viel kommentierten, und bei ihr kann ich endlich das ‚ü‘ so richtig brauchen. Vergil rät Dante, ein Zweiglein von einer der Pflanzen abzubrechen, damit werde auch seine Grübelei aufhören – er werde also besser verstehen, was es mit diesem Gestrüpp auf sich hat. Ich halte mich hier stark an Hartmut Köhlers Übersetzung, die die eigenartige Parallelisierung mit einem gedoppelten „abbrechen“ unterstreicht. Köhler schreibt: „Wenn du ein kleines Stück Zweig von einer dieser Pflanzen abbrichst, dann wird dein Grübeln ebenfalls abbrechen“ (Dante Alighieri. La Commedia / Die göttliche Komödie. I. Inferno / Hölle. Italienisch/Deutsch. Übers. v. Hartmut Köhler. Reclam, 2010, S. 197). Auch ich verwende zwei Mal ‚brechen‘, und ich übernehme ebenfalls die beiden Wörter auf ‚ü‘: Stück und Grübeln. Um den Zusammenhang deutlicher herauszuarbeiten, achte ich darauf, dass zweimal ‚brich-‘ steht und eine Kreuzstellung (brich – Stückchen – Grübeln – abbricht) die beiden Satzteile sauber miteinander verschränkt: „Brich dir nur / ein Stückchen Zweig von einer dieser Pflanzen / und sieh wie auch dein Grübeln daran abbricht.“ ‚i‘ und ‚ü‘ im Verein halten die Dinge hier gut zusammen.

August 2021, 11. und letzter Schritt

Die Wiederkehr des ‚ü‘ war für mich auch ein Hinweis darauf, dass die wesentlichen Prinzipien dieser Übersetzungsarbeit – rhythmische Stringenz, lautlich-semantische Verschränkung, Aufbau einer lautlichen Logik durch Vernetzung, Beachtung des Wechselspiels zwischen Syntax und Informationsentfaltung und Wahl eines so oft wie möglich lockeren Registers – an den Beispielen wohl deutlich geworden sind. Ich habe deshalb, um mich nicht zu sehr zu wiederholen, meine Arbeit nicht mehr laufend kommentiert. Nachdem ich die Hölle Nr. 13 im Lauf des Juli fertig übersetzt habe, bleiben fünf Punkte, die mir so wesentlich scheinen, dass sie noch (einmal) angesprochen werden sollten: die gewundene wörtliche Rede, hohe Wörter, Zäsur vs. Slackline, Doppelungen, und schließlich der letzte Vers dieses Gesangs.


Die wörtliche Rede und ihre Windungen. Aus den Workshops hatte ich mitgenommen, dass in Hölle Nr. 13 der Kanzler Friedrichs II., Pier della Vigna, in einem höheren Register spricht, das seine Rede vom Rest des Gesangs abhebt. Ich kann mir hier selbst kein Urteil bilden, aber ich habe diese Information versucht zu berücksichtigen. Als der Baum, dem Dante einen Zweig abgerissen hat, Vergils Einladung zu sprechen annimmt, lasse ich ihn eher ziseliert-geziert beginnen: „Wie locken diese Worte süß, / ich will, euch nicht zur Last, nicht schweigen / und ein wenig im Erzählen schwelgen“ (19. Terzine). In etwas abgeschwächter Form – eingedenk der Höflichkeitsgesten dialogischer Wechselrede – adressiert Vergil den Strunk bei mir zunächst ebenfalls im hohen Register und in komplexer Satzstellung als „versehrte Seele / du“ (16. Terzine). Aber der mobile Vergil wandert bei mir im Lauf seiner drei Terzinen dauernden Ansprache durch die Sprachschichten und gelangt zu einem eher saloppen Schluss: „Doch sag ihm, wer du warst, damit er dich / entschädigt und dir deinen Ruf poliert / droben in der Welt. Er darf nämlich zurück“ (18. Terzine).


Eine Rede in ein höheres Register zu setzen, weil jemand gesagt hat, im Italienischen sei das so, ist das eine. Etwas anderes ist es, wenn die Übersetzerin sich von Kontext und Inhalt selbst dazu gedrängt fühlt, zu hohen Wörtern zu greifen. In einer bedrückenden Schilderung erklärt der zum Baum gewordene Selbstmörder, wie der jüngste Tag für die Seelen von Seinesgleichen aussehen wird: „Wie alle hol'n wir dereinst unsre Hüllen, / kleiden aber darf nicht eine sich darin / keine kriegt zurück, was sie weggeworfen hat“ (Terzine 35). Man hat die mittelalterlichen Darstellungen vor Augen: Wie die Verstorbenen aus den Särgen steigen und gleichsam ihre Körper wieder anlegen. Die Selbstmörder aber dürfen ihr Fleisch nur über die eigenen Äste hängen. Wie Fetzen, denke ich, ein schauerliches Bild. Bei meiner Übersetzung finde ich nun nicht das Wort „hol'n“ auffällig – da markiere ich nur aus rhythmischen Gründen, dass die übliche Aussprache mit stark abgeschwächtem bis abwesendem ‚e‘ hier melodisch echt günstiger ist. Die Schreibung wirkt etwas antiquiert, aber der Vers würde (gesprochen) auch ohne diese Kennzeichnung funktionieren. Mir geht es um das Wort „dereinst“. „Dereinst“ ist deutlich am Veralten, es gehört gar nicht zu meinem aktiven Wortschatz, ich habe seine Bedeutung sicherheitshalber nochmal nachgeschlagen. Ja, es gibt hier wenige Alternativen: ‚am jüngsten Tag‘ könnte man sagen, oder ‚am Ende der Zeit‘, es ließe sich diesem ‚dereinst‘ also ohnehin schwer ausweichen. Eigenartig aber finde ich, dass es hier so ungeheuer stimmig wirkt. So geradezu unwiderstehlich. Ist es die religiös aufgeladene Szene, die das Antiquierte gleichsam anzieht? Müssen sich solche transzendenten Entwürfe automatisch durch eine nicht-alltägliche Sprache auszeichnen, die bereits Spuren unalltäglichen Überdauerns zeigt? Ich hatte zu Beginn dieses Journals ja gefragt, ob etwa Dantes Integrationsprogramm – alle Sprachschichten hinein in die Poesie! – für die Paradies-Poesie nicht gelte? Ob das Alltägliche in der Rede also mit der Hölle gleichzusetzen sei? Und nun schlittere ich selbst, sobald es um die Erzählung vom Jüngsten Tag geht, nicht nur hinein in eine Tendenz zur sprachlichen Entrückung, ich empfinde sie sogar als adäquat. Schon in der Hölle. Das finde ich – aufgewachsen in einer Kultur, die schon vor ihrer Säkularisierung sich weit von der Idee einer heiligen Sprache entfernt hatte – einerseits erstaunlich. Andererseits auch nicht: Über Hochstehendes bis Jenseitiges auch in einer gehobenen, die Zeitlichkeit des Alltäglichen transzendierenden Sprachschicht zu sprechen, ist schlicht Konvention, bis zum ‚heilig‘ muss man dazu gar nicht gehen. Mir scheint aber, dass damit noch nicht alles gesagt ist; diesen Zwiespalt gälte es weiter zu ergründen, aber dafür ist diese Übersetzungsbegleitung nicht der Ort.


Zäsur vs. Slackline. Bei der Besprechung der 7. Terzine habe ich erklärt, wie sich in der Mitte eines Verses eine Art sprecherisch-gedankliches Schlagloch bildet, wenn eine merkmallose Satzstellung dort mehrere unbetonte Silben zusammenbringt – und dass sich der Leseprozess vereinfacht, sobald man auf eine komplexere Satzstellung ausweicht, und die rhythmische Logik zum tragenden Element wird. Der Übersetzungsprozess hat gezeigt, dass dies für den gesamten Gesang gilt (vermutlich gilt es für die gesamte Commedia). In Kommentaren bin ich immer wieder auf den Hinweis gestoßen, dass Dantes 11silbige Terzine im Italienischen etwas Vorwärtstreibendes hat; auch Matteo Colombi hat diesen Aspekt zur Sprache gebracht. Im Deutschen scheint es dieselbe Tendenz zu geben, auf sie gekommen bin ich aber ex negativo: Mir ist aufgefallen, dass meinen Versen – die den 11 Silben nicht streng folgen, sie aber sehr bewusst umspielen – leicht die Spannkraft ausgeht. Dass sie zu labbern beginnen wie eine sehr nachlässig aufgezogene Slackline. Und dass man dann den Vers nicht mehr sauber durchqueren kann, sondern sich in ihm verheddert.

Wie ausgeprägt dieser Effekt ist, hat mich – bei diesen kurzen Versen aus meist 10, 11, 12 Silben! – erstaunt. Beizukommen war ihm nicht allein mit der Beachtung des jambischen Musters; es brauchte etwas mehr, am besten eine Zäsur, eine Staupause im Vers, zur Mitte hin. Ich gebe ein weiteres Beispiel. Der Vertraute Friedrichs II. schildert sein Problem in Terzine 22f.:

„Die Ränkeschmiederei, die nie das Haus
       des Kaisers lässt aus ihrem scheelen Blick,
       Tod der Gemeinschaft, Laster der Höfe,

erhitzte restlos die Gemüter gegen mich“

Für den zweiten Vers hatte ich zunächst folgende Formulierung: „des Kaisers aus ihrem bösen Blick entlässt“. Die Wörter gefielen mir, aber nicht so, als labbrige Slackline. Ich stellte um. Zieht man das Verb vor, als „lässt“, stimmt nicht nur der Jambus; noch wichtiger ist, dass man mit dem Verb im Deutschen ein Satzende markieren kann, oder, wie hier, das Ende eine Phrase. Wo sich kurz innehalten lässt, neu ansetzen. Es ist, als würde der Vers einen Atemgipfel erreichen, an dem er sich minimal staut, bevor er weiterläuft. Die Satzstellung wird durch dieses Manöver auffälliger; aber objektiv ist sie besser und dem Gedicht zuträglich: Wobei sich ‚objektiv‘ hier daran zu erkennen gibt, dass sie ein stolper- und verhedderfreies Lesen (Aussprechen, Hersagen, Mitdenken) ermöglicht. Dennoch wirkt diese Satzstellung etwas gezierter, weswegen ich die veraltende „Ränkeschmiederei“ gewissermaßen nochmal aufgreife, indem ich ihr das ebenfalls sehr merkmalhafte „scheel“ (statt „böse“) zur Seite stelle.

Der Effekt der Zäsur in diesem Vers lässt sich verallgemeinern: Sie zieht die Versteile zuverlässig zu kurzen, knackigen Einheiten zusammen. Man kann über diese Einheiten dann hüpfen und federn wie über trockene Steine in einem Bach und behält dabei doch das Ganze im Blick. Den locker zäsurierten Vers als ein Muster für den gesamten Gesang zu etablieren, hatte einen weiteren, unschätzbaren Vorteil: Mit der Abweichung vom einmal aufgestellten Muster lassen sich semantische Effekte erzielen, die eine sinnlich-unmittelbare Logik entfalten. Ich gebe drei Beispiele.

In Terzine 30 wird danach gefragt, wie die Seelen denn zu diesem Holz werden, und ob der Prozess auch umkehrbar ist:

„zu sagen, wie strickt denn eine Seele sich
       hinein in dieses Holz, und, falls du das kannst,
       ob je sich eine raus auch wieder wickelt.“

Im dritten Vers dominieren die ‚kleinen‘, meist einsilbigen Wörter – ob, je, sich, eine, raus, auch in schneller Folge; er findet zu keiner Zäsur. Obwohl ihm ein jambisches Muster zugrunde liegt, ist es doch schwach: Es gibt einfach keine bedeutungsstarken Zentren, in denen sich die Betonung voll ausbilden und an deren Seite die unbetonten Silben tatsächlich leicht wirken könnten. So entsteht rhythmisch kein Lauf, sondern eine Art Fläche, weit entfernt von einer Gliederung durch Zäsur, man filzt sich durch diese Wörter, verfängt sich, wie die Seelen im Holz – die Orientierungsschwierigkeit und die Unmöglichkeit, sich auch wieder ‚rauszuwickeln‘, gewissermaßen zu ‚ent/wickeln‘ aus dem Baum, transportiert der flächige Rhythmus des Wortmaterials.

Das entgegengesetzte Beispiel ist Terzine 33. Dort wuchern die Zäsuren. Diese Verse sprechen davon, wie die Selbstmörderseele nach dem vollzogenen Akt in diesen Wald geschleudert wird, irgendwohin, wo sie dann hilflos liegen bleibt, austreibt, festsitzt:

„Sie fällt dann in den Wald. Ihr ist kein Platz
       bestimmt. Wohin der Zufall ziellos sie auch
       wirft, dort keimt sie, ganz wie Dinkelkorn. Treibt

aus als Verbene“

Der gewaltsame Schnitt, den der Selbstmord bedeutet, wiederholt sich in der Zerteilung der Sinneinheiten: Die einzelnen Satzteile enden nicht mit dem Vers oder der Terzine, sondern springen darüber hinaus („Platz / bestimmt“, „Treibt // aus“). Das Enjambement ist ein ganz normales Verfahren; hier nun verbindet es sich zunächst mit einer hinters erste Wort vorgezogenen Zäsur in der zweiten Verszeile („bestimmt. | Wohin“). In der dritten Verszeile dann beginnt die Zäsur gewissermaßen selbst damit, Ableger zu bilden: „wirft, | dort keimt sie, | ganz wie Dinkelkorn. | Treibt |“. Zufall, Willkür, Vereinzelung und Schrecken, Atem- wie Hilflosigkeit, die Verschiebung in ein ‚Un-‘, das vielfach Gewaltsame der Situation werden so vom Vers selbst ausgetragen.

Für das dritte Beispiel schließlich gehe ich noch einmal zurück zur Schilderung des Jüngsten Tags. Die Selbstmörder holen ihre Körper und hängen sie über ihre eigenen Äste, Terzine 36 lautet in meiner Übersetzung:

„Wir werden unsre Leiber hierher schleifen,
       den düstren Wald vollhängen damit, jeder
       aufgeknüpft in seines Schattens Schreckensstrauch.“

Im zweiten Vers arbeite ich mit zwei starken Zäsuren, die auch das jambische Muster brechen: „den düstren Wald | vollhängen damit, | jeder“. Bei beiden Zäsuren prallen zwei Betonungen aufeinander, an der ersten, semantisch prägnanteren Stelle, ist der Zusammenstoß heftiger als an der zweiten. Der Grund ist: Mir bleibt bei diesem Bild die Spucke weg. Es verursacht in meinem Kopf eine Art Auffahrunfall. Die beiden betonten Wörter/Silben „Wald voll-“ (die überdies die Lautfolge Vokal + ‚l‘ teilen) setzen diesen Crash meines Erachtens adäquat um. Dann folgen 3 unbetonte Silben – „-hängen da-“ wie beim Wäscheaufhängen, kleine multiplizierte Bewegungen, es sind viele dort im Selbstmörderwald, die ihren Körper an die Äste hängen. Und am Versausgang nochmal ein – schwächerer – Betonungsprall, „damit | jeder“, der die Vervielfältigung auch lautlich unterbricht und den Blick wieder auf den einsamen Einzelnen mit seinem eigenen Schicksal(sstrauch) zurücklenkt.


Im silbischen „Auffahrunfall“ des letzten Absatzes klingt etwas an, das mir für einen weiteren Aspekt dieser Übersetzungsarbeit relevant scheint, ich habe ihn hier mit Doppelungen überschrieben und werde das gleich konkret ausführen. Dieser Ausführung aber möchte ich eine grundsätzliche Überlegung voranstellen. „Mir“, habe ich im letzten Absatz geschrieben, bleibt bei diesem Bild von den Selbstmördern, die ihre Körper aufhängen, „die Spucke weg“, und als Leserin und Übersetzerin möchte ich, dass sich das transportiert. In diesem – auf den ersten Blick vielleicht naheliegenden – Wunsch, verbirgt sich aber ein fundamentaler Konflikt, den ich mit mir als Übersetzerin austrage: Dass ‚mir‘ die Spucke wegbleibt, müsste eigentlich für meine Arbeit irrelevant sein. Relevant müsste für mich sein, ob dem Text, den ich übersetze, an der fraglichen Stelle die Spucke wegbleibt. Ich sollte als Übersetzerin mit der Sprache arbeiten, die allen gleichermaßen gehört, die ihre Funktionen nicht erfüllen könnte, wenn sie nicht für alle ihre Sprecher·innen zuallererst gleich und geteilt wäre. In dieser Sprache sollte ich möglichst exakt nachbilden, wie der Körper des Textes in der Sprache, aus der er kommt, gelagert ist und wie er sich durch sie bewegt. (Und dass bei einer Poesieübersetzung ein im strengen Sinne ‚wortgetreues‘ Vorgehen Fiktionen statt Exaktheit produziert, habe ich mich bis hierher bemüht, deutlich zu machen.) Ich sollte, als Übersetzerin, so das Reinheitsideal, komplett durchlässig und transparent sein. Gleichzeitig weiß ich schon als Sprecherin einer Sprache, aber natürlich auch als Dichterin, als Hörforscherin, dass es genau diese allen in gleicher Weise gehörende Sprache in dieser Form nicht gibt. Zum Glück, es gäbe sonst keine Bewegung. Es gibt keine Sprache ohne Benutzung und Benutzer·innen, die wiederum gibt es nicht ohne Erfahrung, die Erfahrungen hängen in den Personen, die in einer für sie erfahrungsgetränkten Sprache (fest)hängen, es existiert damit kein Sprechen oder Schreiben und schon überhaupt kein Lesen oder Hören ohne Persönlichkeit. Existierte es, womöglich als Einziges, steckte man gewissermaßen in einer erstarrten Selbstmördersprache. Wollte ich vom Reinheitsideal her formulieren, müsste ich sagen: Jedes Individuum schmutzt. Wenn ich das loslassen kann, dann kann ich auch sagen: Die Welt duftet nun mal, und die Welt riecht. Und Sprache ist ein weltliches Phänomen.

Wie viel ‚von mir‘ verträgt also meine Übersetzung? Wo werde ‚ich‘ im Text zum nervtötenden Parfümflakon? Und wo geht dieses ‚ich‘ überhaupt los? Oder, anders gewendet: Wo doppelt sich der Text mit gewissen Verschiebungen in einer anderen Sprache, und wo verdopple bloß ich mich selbst? Diesen Konflikt schleppe ich – nicht als einzige – mit mir herum, seit ich übersetze. Mittlerweile vermute ich: Von dieser Spannung, und dass sie sich niemals gültig und übertragbar auflösen lässt, leben Übersetzungen, zumal literarische. Schließlich ist die Tatsache, dass überhaupt Übersetzungen nötig sind, gleichbedeutend mit der Erkenntnis, dass ‚für alle gleich gültig‘ als zeitlich und lokal höchst begrenzt zu verstehen ist. ‚Alle‘ ist eben nicht alle. Gleichzeitig verlangt gerade die Vermittlung von einem Verständigungsmittel ins andere jene größtmögliche erreichbare Allgemeingültigkeit, deren Beschränktheit doch durch die Vermittlungsnotwendigkeit gerade erst akut geworden ist. Das literarische Kommunikat verkompliziert das Ganze zusätzlich etc. – „ob je sich eine raus auch wieder wickelt“ könnte man fragen, und erfreulicherweise wäre das hier eine weniger dramatische Frage, weil der Wickelort nicht starr ist, sondern belebt, wie eine nicht-dante'eske Pflanze, eine echte.

Bei einer nicht Italienisch sprechenden Dante-Übersetzerin wie mir werden die Persönlichkeitsanteile – da sie die Konturen des Texts unzureichend erkennt – notwendigerweise gesteigert sein. Ein Feld, bei dem ich das für meine Hölle Nr. 13 vermute, ist das der Doppelungen. Doppelungen gibt es definitiv und zahlreich auch in Dantes Text – sonst wäre ich nicht auf sie gekommen – die von mir nicht beantwortbare Frage ist nur, ob im selben Ausmaß. Sie sind in Inferno XIII ein sprachlich-materielles (über die Reime hinausgehendes!) wie inhaltlich-philosophisches Grundmotiv; sie beginnen mit einem starken Auftritt in der schon zitierten 9. Terzine: „Cred'ïo ch'ei credette ch'io credesse“. „Ich dachte er dächte ich würde denken“ markiert einen Bremsvorgang; die Reaktionsgeschwindigkeit wird zugunsten einen Spiegelspiels heruntergefahren, ich sehe mich, wie er mich sieht oder glaubt mich zu sehen wie ich glaube dass er, etc. Das Individuum tritt neben sich. Es entfernt sich von sich selbst. Hier zugunsten von Kommunikation. Diese Fähigkeit hat, denke ich, viel mit dem zu tun, was Andrea Grill meinen könnte, wenn sie sagt, Dante habe ihr beigebracht „Keine Scheu davor zu haben, etwas Schreckliches so zu beschreiben, dass es die Leser nicht würgt oder foltert und nicht ihres Lebensmuts beraubt, dass sie es ruhig und gefasst und klaren Sinnes aufnehmen können“ (Gespräch mit Andrea Grill). In der Hölle Nr. 13 finden sich überall Spuren hiervon. Meine – vielleicht – Lieblingsstelle ist in Terzine 15, wo Dante versteht, dass der Baum selbst spricht, und ihm vor Schreck der abgerissene Zweig aus der Hand fällt und es heißt: „e stetti come l'uom che teme“ – er also nicht etwas sagt wie „ich stand verängstigt“, sondern sagt, „ich stand wie ein Mensch, der Angst hat“. Er tritt einen Schritt von sich zur Seite, betrachtet sich von außen, vergleicht, verallgemeinert. In meiner Übersetzung unterstreiche ich – ungedeckt vom Original – diese Doppelung, indem ich zweimal „stand“ setze, wenn auch in unterschiedlichen Formen: „und ich stand, wie ein Mensch im Schockzustand“.

Aber diese Entfernung von sich durch Verlangsamung, Doppelung, Spiegelung ist eben auch der Moment, in dem sich die Entscheidungs- und Urteilsmöglichkeiten vervielfachen, die Wege auffächern. Ist der Ort, an dem das Leben kippen und umschlagen kann – und zwar nicht nur oder nichtmal zuerst im bloß körperlichen Sinn, sondern vor allem im Kopf, der danach hinter sich selbst nicht mehr zurück kann. Hier sitzt für mich der haarige Kern dieser Höllenvision: Dieselbe Spiegelbegabung, die zu Kommunikation, Verständigung und Anteilnahme verhilft – die Welt und sich selbst durch andere Augen zu sehen und entsprechend zu handeln – wird in Hölle Nr. 13 zu jenem Stachel, der den Vertrauten Friedrichs in den Selbstmord treibt: „Mein Geist aber, ganz in die Hochachtung vernarrt, / wollt im Tod entfliehen der Verachtung“ und noch sein Wunsch an Dante dreht sich darum, dass sein Bild in den Augen der anderen wieder gerade gerückt werde: „dann richte er mein Angedenken auf, / das hingestreckt vom Neid am Boden liegt“. Die Entfernung von sich selbst zugunsten der Integration des anderen Blicks, im Grunde für alles Verständnis, alle Kooperation die Bedingung, wird hier gewaltsam, von außen wie von innen, und mündet in die ultimative Selbstentfernung, den Selbstmord. Ich bin versucht zu sagen, Du hast offenbar zu gut verstanden, Höfling Pier; es war gleichsam Berufsrisiko, und dessen Erkenntnis wird dann auch noch bestraft. Ich empfinde diesen Entwurf als zutiefst schmerzlich, ja gnadenlos. Besonders schmerzt, dass er sich nicht ohne Weiteres von der Hand weisen lässt. (Wer sich für menschliche Kommunikation, wechselseitige Bewertung, Selbstbewertung interessiert, dem/der möchte ich in diesem Zusammenhang die parallele Lektüre zweier Bücher ans Herz legen: Michael Tomasello, Mensch werden (Suhrkamp, 2020) und Christine M. Korsgaard, Tiere wie wir (C.H. Beck, 2021)). Jedenfalls, diese Stelle, Terzine 24, markiert auch Dante mit einer Doppelung, sogar mit zweien: „L'animo mio, per disdegnoso gusto, / credendo col morir fuggir disdegno, / ingiusto fece me contra me giusto“. Bei mir gibt es sie auch: „Mein Geist aber, ganz in die Hochachtung vernarrt, / wollt im Tod entfliehen der Verachtung, / hieß mich Aufrechten Unrecht tun an mir“. Aber ich setze, wohl unter dem Eindruck der Tragik, auch in der Terzine vorher schon Doppelungen: „erhitzte restlos die Gemüter gegen mich / und die Erhitzten verhetzten den Herrscher, / kehrten Freude und Ehre zu Schmerz und Schwere“. Es ist eine Stelle, an der mich die eigenen, von mir selbst auch akzeptierten Lösungen doch beunruhigt zurückgelassen hatten – und an der ich nun dankbar sein kann, dass ich dieses Journal schreibe. Das Journal nämlich hat mich gezwungen, noch einmal Blicke ins unverstandene italienische Original zu werfen, und dort habe ich nun gesehen, so schlimm und schwer, wie ich es in Erinnerung hatte, hängt das Ich-Parfüm gar nicht drin in diesen Doppelungen, zumindest nicht hier, denn Dante legt in Terzine 23 ebenfalls auf: „infiammò contra me li animi tutti; / e li 'nfiammati infiammar sì Augusto, / che' lieti onor tornaro in tristi ludi.“


Und mit dieser Erleichterung endet dieses Journal. Die angekündigte Reflexion der letzten Verszeile entfällt aus Gründen verschärften Durchatmens; das Journal endet so abrupt wie auch Inferno XIII recht unvermittelt endet, übrigens auf die Zeile „Nur ich macht' meine Häuser mir zum Galgen“, die der erste Vers der 51. Terzine wäre, „Io fei giubbetto a me delle mie case.“ Und hier lautet der letzte Satz: Es hat Spaß gemacht.

 

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Anja Utler, geboren 1973 in Schwandorf, lebt nach Jahren in Wien, Regensburg und Prag derzeit in Leipzig. Sie arbeitet als Dichterin, Übersetzerin und Essayistin und hat zu Fragen der Lyriktheorie publiziert. Anja Utler übersetzt aus verschiedenen slavischen Sprachen und aus dem Englischen, zuletzt erschienen Aber nicht damit von Semjon Hanin (aus dem Russischen, Edition Korrespondenzen: Wien 2021), Dreizehn Blickwinkel auf Einige Worte / Thirteen Ways of Looking at a Short Talk: Berliner Rede zur Poesie 2020 (Wallstein: Göttingen) von Anne Carson und Zwischen zwei Leeren von Mila Haugová (aus dem Slowakischen, Edition Korrespondenzen: Wien 2020). Als Dichterin veröffentlichte sie zuletzt "kommen sehen. Lobgesang" (Edition Korrespondenzen: Wien 2020), einen poetischen Monolog aus einer Zukunft nach einer Hitzekatastrophe. Anja Utler wurde für ihre Arbeit vielfach ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie den Ernst-Meister-Preis für Lyrik 2021.

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