Journale Hölle Nr. 13

Unübersetzbare Trompetentöne – Ein Gespräch mit Matteo Colombi über eine Kindheit und Schulzeit mit Dante

 

Matteo Colombi     …und habe festgestellt, das letzte Mal, als ich Dante gelesen habe, war ich noch Student. In der Schule habe ich viel Dante gelesen, dann an der Uni nochmal und dann nicht mehr. Es war interessant für mich, gestern Abend festzustellen, dass ich Dantes Sprache jetzt eigentlich viel besser verstehe als vor 20 Jahren. Das alte Italienisch kommt mir jetzt leichter vor. Für Schülerinnen und Schüler ist das sehr hart zu lesen.

Anja Utler     Jetzt sind wir so schnell ins Gespräch gekommen, dass ich mein Aufnahmegerät gar nicht rechtzeitig einschalten konnte. Aber in die Richtung wäre auch meine erste Frage gegangen. Wenn man in der Schule mit Dante in Kontakt kommt, wie verläuft so eine Begegnung?

M.C.      Am besten zeige ich dir das Buch. Ich muss dir aber auch sagen, ich habe das Gymnasium in den 90ern besucht, ich kann nicht versprechen, dass das heute noch genauso ist. Aber ich sehe an meinem Freund, der 11 Jahre jünger ist als ich, dass es bei ihm ganz ähnlich war. Das erste Mal, dass ich von Dante in der Schule gehört habe, war in der Mittelschule. Ich hatte zwar schon vorher die Hölle als Comic, mit Mickey Mouse als Protagonist, ein Klassiker aus der Zeit um 1950. Aber die erste schulische Begegnung war in der Mittelschule, das ist in Italien die 6. bis 9. Klasse. Wir haben ein wenig gelesen, den Anfang der Hölle [trägt auswendig die ersten paar Terzinen vor]. Kann sein, dass wir ihn sogar auswendig gelernt haben, denn das ist relativ einfach zu verstehen: Da ist dieser Typ, der diese Reise macht, durch die Hölle, das Fegefeuer und das Paradies. Davon haben alle einen Begriff, weil sehr viele Italiener Katholiken sind, und immer noch gehen die meisten am Sonntag in die Kirche, sie haben Vorbereitungstreffen zur Kommunion und so weiter (oder es war zumindest noch so, als ich ein Kind war). Vielleicht ist das Fegefeuer ein schwieriges Konzept, aber Hölle und Paradies, das kennt man, auch von Opa, Oma. Man versteht, das ist ein altes Ding, aus der alten italienischen Geschichte, auch Florenz, diese alten Kommunen in Italien, von all dem hat man schon in der Grundschule gehört.
Und dann liest man Dante wieder im Gymnasium, von der 10. bis zur 13. Klasse. Ich habe ein humanistisches Gymnasium besucht, dort hat man in den letzten 3 Jahren einmal in der Woche Dante gelesen. In der 11. die Hölle, in der 12. das Fegefeuer, in der 13. das Paradies. Man schafft zwar nicht alle Gesänge, aber die meisten, und am Ende hat man fast das ganze Buch gelesen. Man liest auf Altitalienisch, und die Seiten sehen immer aus wie in diesem Buch: Sehr wenig Dante auf jeder Seite, vielleicht vier, fünf Verse, und der Rest sind Kommentare. Den meisten Lehrern ist es egal, welche von den tausenden Ausgaben man benutzt, ich hatte diese alte, von meinem Onkel. Bei neueren Ausgaben sind die Kommentare vielleicht eher für die Schule angepasst, aber das hier ist sehr philologisch, für Schule und Uni. Wir lesen das also, und lernen, das ins Neuitalienische zu übersetzen.

A.U.      Ach ja.

M.C.      Ja. Mündliche Prüfungen sehen so aus, dass man 10-15 Verse vorlesen und auch erklären muss. Warum ist eine Sache im Altitalienischen anders als im Neuitalienischen. Ein wenig hängt das auch von der Schule ab. Auf dem humanistischen Gymnasium hatten wir auch 5 bis 9 Stunden pro Woche Latein und Altgriechisch, da musste man dann die Beziehung zum Lateinischen erklären. Wichtig sind auch Dantes Vorbilder, wo zitiert er Vergil, oder spielt auf ihn an, oder Statius. Und natürlich spielen auch literaturwissenschaftliche Erkenntnisse eine Rolle. Die Unterschiede zwischen den drei Cantiche. Dante schreibt sehr stark nach dem Stilprinzip des Mittelalters. Er übernimmt die Rhetorik aus der Antike, aber im Vergleich zur Antike 'verfestigt' er sie, es wird kaum improvisiert. Alles, was mit der Hölle zu tun hat, ist vor allem im komischen Register, es geht um niedrigere Dinge, Körper spielen eine große Rolle – es ist, im Sinne des Mittelalters, realistisch. Dann kommt das Fegefeuer, das ist ein elegisches Register, eine Art mittlere Ebene, genau wie in der Antike, Dante hat sehr viel Mitleid mit diesen Seelen, die nach oben pilgern. Und dann das Paradies, dort dominiert das erhabene Register. Wir lernen in der Schule, das an bestimmten Eigenschaften der Sprache festzumachen, an den Metaphern oder auch an den Gleichnissen, die Dante hat. Das gibt es bei Dante oft: Er will in den Gesängen erklären, was er sieht, und dann kommt das „wie“ und das Gleichnis. Eigentlich kommt das aus der alten Epik, von Homer, den wir auch sehr intensiv lesen und übersetzen. Das betrifft übrigens nicht nur das humanistische Gymnasium; alle lesen Homer in der Schule, auch Realschüler ein bisschen. Man weiß schon von dort, dass es diese Gleichnisse gibt. In der Hölle sind sie sehr körperlich, im Paradies dagegen spricht Dante ständig von Musik und Klängen, das ist viel ätherischer.

A.U.      Vorhin hast du die ersten Verse der Hölle zitiert. Hast du ein sehr starkes Klangbild von Dante?

M.C.      Gute Frage. Jein. Diese terzina dantesca ist sehr stark. Die Reimform treibt die Geschichte voran, über die Verkettung, das geht immer weiter, und das merkt man auch als junger Mensch. Aber ich bin vielleicht nicht besonders musikalisch, ich fand Prosa immer einfacher zu lesen als Lyrik, ich hatte immer Probleme mit der Metrik – und wir hatten jede Menge Metrik in der Schule. Aber ich glaube, insgesamt ist es für Schüler so schwierig, Dante zu lesen und zu verstehen, sich mit all diesen Kommentaren auseinander zu setzen. Wir sehen ja immer ganz wenig Verse, und ganz viel Kommentar, und genauso lesen wir Vergil oder die anderen Autoren der Antike. Dass wir zum Beispiel einmal nur einen Gesang hätten, ohne Kommentare, und wir ihn lesen würden, vielleicht ohne alles genau zu verstehen, und sich dabei mehr auf den Klang zu verlassen, das passiert nie, das ist nicht Teil der Didaktik. Vielleicht machen es manche Lehrer trotzdem. Aber im allgemeinen assoziiert man Dante hiermit, mit so einer Seite: wenig Dante, sehr viel Literaturforschung.

A.U.      Ja, das sieht man gleich an diesen fantastischen Büchern, die du da dabei hast. Das sind ja offensichtlich auch Erbstücke. Ist es denn vor allem ein Ziel, den Schülern ein historisches Bewusstsein zu vermitteln?

M.C.      Ja.

A.U.      Oder sogar eine Identität?

M.C.      Um die nationale Identität geht es kaum. Im 19. Jahrhundert war das natürlich sehr stark. Und im humanistischen Gymnasium, wo sehr viel über Literatur gesprochen wird, wird das zum Teil auch reflektiert, dass Dante über die Jahrhunderte eine Rolle für die Entwicklung der italienischen Literatur gespielt hat. Für die italienische Schule war aber 1968 eine Wende und seither ist der Unterricht zu Dante genauso wie der zu anderer Literatur sehr kulturgeschichtlich. Es geht darum zu sehen, wie sich die Kultur durch die Epochen entwickelt hat. Antike, Mittelalter, Renaissance, Barock, Klassizismus, Aufklärung, Romantik und so weiter, bis heute. Dante steht für das Mittelalter, zusammen mit Petrarca und Boccaccio, wir lesen alle drei, das sind drei Momente von Mittelalter, von Spätmittelalter, und wir schauen uns die Entwicklung an. Das ist ein wichtiger Punkt, weil das in Deutschland offenbar so komplett anders ist, was ich auch an meinen Studierenden merke: In Italien behandelt man das Mittelalter mehrmals. Das fängt in der Grundschule und setzt sich in der Mittelschule fort, und auf dem Gymnasium, wenn man in der 11. Klasse die Hölle liest, geht es nicht nur im Italienischunterricht um das Mittelalter, sondern auch im Geschichtsunterricht, in Philosophie, wo man die Philosophen des Mittelalters liest, in der Kunstgeschichte, und wenn man Englisch hat, nimmt man die altenglische Literatur durch. Man hat das Mittelalter in mehreren Fächern, und bekommt so wirklich eine Vorstellung von der Zeit.
Trotzdem merken Schüler*innen, dass man, wie gesagt, Dante auch in der 12. und 13. Klasse liest, wenn es in den anderen Fächern nicht mehr ums Mittelalter geht; das heißt, Dante hat schon eine besondere Bedeutung in der italienischen Schulbildung. Und das wird uns damit erklärt, dass Dante diese große historische Rolle in der italienischen Kultur gespielt hat, weil er als erster das Hochitalienische als geschriebene Sprache fixiert hat. Dann sind Boccaccio und Petrarca gekommen, man erklärt uns auch, dass sie drei verschiedene Modelle verfolgen und dass das Modell von Petrarca eigentlich gewonnen hat. Sein Hochitalienisch ist in der Renaissance Standard geworden und nicht die Sprache Dantes. Auch Dantes Theologie ist ein Thema, oder die Theologie, auf die er sich bezieht. Wir müssen uns die imaginäre Geographie von Hölle, Fegefeuer und Paradies genau anschauen, die Darstellungen dieser Welt des Jenseits, und warum das Mittelalter sie so entwirft. Und dann die Figuren. Bestimmte Figuren von Dante kennen in Italien alle. Klar, Beatrice, jeder kennt sie. Paolo und Francesca, im zweiten Kreis der Hölle, die zusammen ein Buch lesen, und dieses Buch war schuld daran, dass sie etwas miteinander angefangen haben, obwohl sie nicht verheiratet waren. Sie lesen französische Hofliteratur, eine Liebesgeschichte, sowas wie Tristan und Isolde, sie lesen das zusammen unter einem Baum, dieses Bild wird evoziert. Paolo und Francesca – wirklich alle kennen das. Ein blödes Beispiel, aber mein Freund hat zwei Mitbewohner, Paolo und Francesca, und alle lachen, wenn sie diese Namen hören. Für uns ist das wie – wie –

A.U.      Auf Deutsch gibt es sowas vielleicht gar nicht.

M.C.      Vielleicht, habe ich gedacht, wie zwei Walküren zusammen, sowas wie Brünhilde und Kriemhild.

A.U.      Aber ein Liebespaar.

M.C.      Ja, stimmt.

A.U.      Da hast du mit Tristan und Isolde wahrscheinlich schon das Treffendste.

M.C.      Werther.

A.U.      Ja, aber –

M.C.      Aber ich weiß gar nicht, wie sie heißt. Nein, Faust und Margarethe, so etwas.

A.U.      Das stimmt. Nur, es kann eben nicht passieren, dass in einer WG Faust und Gretchen wohnen, weil niemand Faust heißt. Aber du hast natürlich recht, es gibt Kontexte, in denen man automatisch in Deutschland an Gretchen denkt.

M.C.      Es gibt sogar die Gretchenfrage.

A.U.      Ja. Nun klingt alles, was du erzählt hast, in meinen Ohren nach einer intensiven Auseinandersetzung. Die auch sehr lohnend ist, weil sie eingebettet wird in einen geistesgeschichtlichen Kontext.

M.C.      Ja, genau.

A.U.      Das hat bei uns in der Schule, glaube ich, nie so gut funktioniert. Aber wie ist es emotional? Entwickelt man als italienischer Schüler eine emotionale Bindung zu Dante, die darüber hinausgeht, dass man sich immer daran erinnert, da waren ein paar Zeilen auf einer Seite, es war schwierig zu verstehen, und dann musste man diese ganzen Kommentare lesen?

M.C.      Hm. (Schweigt)

A.U.      Weißt du, ich frag auch deshalb –

M.C.      Naja, das ist eine gute Frage, weil – Aber sag du erstmal zu Ende.

A.U.      Weißt du, ich hab an unseren Deutschunterricht gedacht. Da kommen wir dann auf Goethe, wir waren ja gerade auch schon bei ihm. Und bei Goethe gibt es Dinge, an die können junge Menschen leicht anknüpfen. Da sind diese ganzen Sturm und Drang-Sachen, da versteht man den Impuls sehr gut. Und bei Dante – du hast ja gerade schon auf die katholische Kirche verwiesen – da wirkt alles recht kategorisch. Die Urteile, die gefällt werden. Da steht die Welt sehr fest. Baut man da eine persönliche Beziehung dazu auf, oder ist das dann wirklich etwas, was man nur historisch betrachtet und sagt, so und so war die kulturgeschichtliche Entwicklung und Punkt?

M.C.      Puh. Also subjektiv geantwortet, das ist sicher nicht repräsentativ. Aber ich konnte als Schüler eine viel stärkere Beziehung zur Epik der Antike aufbauen. Zu Homer, zur Ilias und der Odyssee, die wir beide auch fast komplett lesen. Da geht es eben um Heldentaten. Mit diesen Helden kann man sich besser identifizieren, mit Achill, Hektor. Dasselbe galt für die griechischen Tragödien, auch das war einfacher für mich. Und dann lesen wir Dante, Boccaccio, Petrarca. Boccaccio ist viel einfacher, diese Novellen funktionieren wie Erzählungen. Das ist eine bürgerliche Stadtgesellschaft, zwar schon im Mittelalter, aber es ist Florenz, es werden mehrere Schichten dargestellt, mit mehreren Typologien von Menschen, mit viel Ironie, da hat man den Eindruck, es wird wirklich über Menschen und über die Gesellschaft geredet. Über ihre Heuchelei, ihre Verhältnisse, Liebe und Untreue, all diese Dinge, wo man denkt, okay. Petrarca ist dagegen meiner Meinung nach super weit weg, mit seinen ätherischen Liebesgedichten – mein Freund sagt aber, dass das nicht alle Jugendlichen so sehen wie ich damals). Dann lesen wir aber auch – ähnlich intensiv wie Dante – einen Roman aus dem 19. Jahrhundert, Die Verlobten, I Promessi Sposi, von Alessandro Manzoni, eine Art Mischung von Romantik und Realismus, eine Art Victor Hugo der Italiener. Auch das ist einfacher, man kann sich in die Figuren hineinversetzen, es gibt die Bösen, die Guten, den im Grunde guten Priester, der aber sehr feige ist. Dante dagegen ist so unglaublich mittelalterlich, viel mittelalterlicher als Boccaccio, der ja nur 50 Jahre später schreibt. Ich würde sagen, man versteht diese Liebe zu Beatrice nicht. Wir lesen auch alles, was drum herum ist, dieser Dolce stil novo, diese idealisierte Liebe, die etwas Religiöses hat, das ist etwas so Abstraktes, ohne Psychologisierung der Figuren, man versteht das kaum. Auch die Theologie ist schwer zu verstehen. Wenn da trotzdem in uns etwas erklungen ist, dann vielleicht deshalb, weil man noch alte Omas und Opas hatte auf dem Land, die ein bisschen abergläubisch waren und bestimmte Dinge von der Hölle erzählten, mit den Flammen und so weiter. Ich hatte noch solche Großeltern, aber wie das jetzt für die jüngere Generation ist, weiß ich gar nicht.
Was aber die Italiener sehr gut verstehen, ist die politische Dimension von Dante. Wir lernen auch sehr viel über ihn als Menschen. Wir lesen sogar manchmal, in italienischer Übersetzung, auch seine Traktate über Politik, oder die Lehrer*innen fassen den Inhalt für uns zusammen, und wir wissen, er war ein politischer Mensch in Florenz, das ist dieses Italien im Mittelalter, das wir auch in Geschichte besprechen. Und das ist sehr interessant, weil die Geschichte sehr bewegt ist, da ist das Hl. Römische Reich, das ist aber sehr weit weg, da sind die Kommunen, der Papst, der Konflikt zwischen Papst und Kaiser, die Papstanhänger, die Kaiseranhänger, und Dante hat eine Art Zwischenposition. Er hält den Papst für letzten Endes wichtiger als den Kaiser, aber er sagt, es sind zwei Sonnen. Es kann auch vorkommen, sagt er, dass Päpste Idioten sind, und die landen bei ihm auch in der Hölle. Und Dante selbst musste ins Exil, es gab diesen Clash in Florenz, und seine Gruppe hat verloren, und er musste ins Exil nach Ravenna. Es wird ganz klar, dass er ein Politiker war. Und was er in der Göttlichen Komödie macht, ist ganz einfach das, wie man im Mittelalter Politik besprochen hat. Denn jede Häresie ist im Mittelalter ein Politikum, es geht nie nur um Theologie, es geht darum, wer die Macht hat. Wenn man sich ansieht, welche Leute denn in Dantes Hölle landen – es sind die aus der anderen Fraktion. Das erschließt sich recht leicht. Und man kann das bis heute sehen, auf den Türmen der mittelalterlichen Schlösser gibt es diese Bauzeichen, die Zinnen, und die viereckigen gehörten zu den Papstanhängern, und die, die wie ein Schwalbenschwanz aussehen, gehörten zu den Anhängern des Kaisers (zumindest eine Zeit lang und in bestimmten Gebieten).

A.U.      Wenn das Politische besonders interessant ist. Was steht dann da im Vordergrund? Dass man sieht, wie das Individuum sich positioniert? Oder sieht man eine geschichtliche Entwicklung, sozusagen was danach geschah in Italien?

M.C.      Beides, würde ich sagen. Diese geschichtliche Entwicklung ist wichtig. Mit den Konflikten in Italien zwischen all den kleinen Staaten und Städten. Die Betonung liegt auf der Zerteilung, das kommt noch aus dem 19. Jahrhundert, wo man gesagt hat, „Das war schlecht, dass wir nicht zusammen waren.“ So sagt das jetzt niemand mehr, aber es ist noch präsent. Dante stellt das zwar nicht national im modernen Sinne dar, aber ein theoretisches Problem ist es für ihn. Er würde gerne das alte römische Reich zurückhaben. Das Heilige Römische Reich ist für ihn gut, soweit es eine Fortsetzung des alten römischen Reichs der Antike darstellt. Das wird uns erklärt. Aber es geht natürlich auch darum, wie Dante sich positioniert hat. Mich hat da eine Sache sehr beeindruckt. Dante ist einerseits ein Intellektueller, der sehr idealistisch denkt. Seine Vorstellungen von Politik sind überhaupt nicht pragmatisch, im Sinne von, wer hat jetzt hier die Oberhand, wer hat die besseren Chancen. Seine Vorstellung ist absolut abstrakt: Ich will ein Reich, eine Kultur, die das Christentum zusammenhält – das alte römische Reich in der Spätantike ist hier Vorbild. Das ist sehr idealistisch. Aber andererseits ist er auch jemand, der sich einmischt, über jeden etwas zu sagen hat und klare Vorlieben. Wir schauen uns schon an, für welche Menschen – oder Seelen, sie sind dann ja alle verstorben – er eine Faszination empfindet. Da weiß ich noch, wie attraktiv starke Persönlichkeiten für ihn sind. Schwache Menschen werden bei Dante hart bestraft. Leute mit einer gewissen Größe, solche zum Beispiel, die gewalttätig sind gegen andere oder gegen Gott, die sind zwar in der Hölle und werden bestraft, aber die Wörter, die er für sie wählt, betonen gleichzeitig ihre Größe. Sie haben sich gewagt. Bei schwachen Menschen ist er entweder herablassend oder direkt fassungslos. Ich erinnere mich, was unsere Lehrerin zu diesem Gesang mit den Selbstmördern gesagt hat. Da steht er da und versteht gar nicht, was passiert. Weil Selbstmord wahrscheinlich etwas ist, woran Dante selbst im Leben nicht gedacht hat. Andererseits weiß ich nicht, ob ich das als 16-Jähriger an der Sprache selber wirklich gemerkt hätte. Die ist so anders, so schwierig. Weißt du, das sind alles die Kommentare, die uns mitgegeben werden. Wir sind aber auch ein katholisches Land, kein protestantisches. Wir lesen die Bibel und dazu alle Kirchenväter. Wir erwarten überhaupt nicht, dass man irgend etwas lesen kann ohne Kommentare und Apparat. Das ist für uns also nicht komisch, Dante über die Kommentare kennenzulernen, das ist für uns überall so.

A.U.      Ich finde spannend, was du über den Apparat sagst. Dass man Texte immer als etwas begreift, was einen Kommentar braucht, was eingebettet werden muss, wozu man keinen unmittelbaren Zugang hat. Glaubst du, dass das daran liegt, dass – und das führt schon etwas weg von Dante – dass in Italien eine Art von Kontinuität entworfen wird von der Antike über das Mittelalter bis heute?

M.C.      Absolut, ja. Toll, dass du das sagst. Das ist den Leuten hier manchmal nicht leicht zu vermitteln, dass das so ist. Die italienische Bildung funktioniert so, dass man sich dieser Linie, die uns mit der Antike verbindet, hyperbewusst wird. Ich glaube, das ist eine Sache der ganzen Romania, dass man sagt, es gab die Antike und das Mittelalter, das bestimmte Dinge davon geerbt hatte, dann gab es den Humanismus als Bewegung zwischen Spätmittelalter und Renaissance in der Romania, dann die Renaissance selbst, überall in Europa, in der man die Antike noch einmal ganz neu entdeckt hat, und das setzt sich in der Aufklärung fort, mit dem Entwurf von Demokratie, der auf die Antike zurückgreift, und das geht weiter bis heute. Wir lernen eigentlich immer, die Kontinuitäten zu sehen. Und ich merke auch, meine deutschen Studierenden haben das so nicht, weil die Antike hier nicht immer diese Rolle gespielt hat, auch der Humanismus war hier weniger stark ausgeprägt und weniger modern, wenn man so will. Es sei denn, man liest die Reformation als Sonderweg des Humanismus und der Renaissance, als eine Form von Neuentdeckung bzw. eine Relektüre des Christentums der Antike – aber auch das wird in Deutschland, so wie ich das verstehe, viel mehr als eine Zäsur mit der vorigen Geschichte als aus einer Perspektive der historischen Kontinuität betrachtet. Und ebenso als Zäsur wird auch die Zeit ab dem 18. Jahrhundert dargestellt, mit der Dialektik zwischen Aufklärung und Romantik. Nicht zufällig schreibt darüber auch Adorno. Und ich sehe, dass die deutsche Schule, obwohl sie weit weniger historisch strukturiert und kanonbasiert ist als die italienische oder die französische, dass doch dieses 18., 19. Jahrhundert einen Meilenstein bildet. Das was vorher ist, spielt, vielleicht bis auf Luther, eine geringere Rolle, für uns dagegen ist es ganz zentral. Aber uns als Kindern hilft es auch, dass der Katholizismus so omnipräsent ist. Man schaltet den Fernseher ein und die Nachrichten berichten, was der Papst an diesem Tag gesagt hat. Das macht sehr viel mit uns. Dass wir Dante zwar vielleicht schon als fremd empfinden, aber trotzdem können wir uns das irgendwie vorstellen. Wir können uns auch vorstellen, er war in Florenz, und das kennen wir auch alle, wir stellen uns das mittelalterliche Florenz vor und wie es sich dann weiter entwickelt, bis heute. Das ist ein Kontinuum, wenn auch kein lineares, sondern eines mit Sprüngen und Wendungen.

A.U.      Das ist hier definitiv anders. An einer deutschen Schule findet zwar auch eine Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Texten statt, aber anders. Es ist eine Auseinandersetzung wie mit etwas Exotischem.

M.C.      Ich weiß.

A.U.      Wie mit etwas, wozu keine unmittelbare Kontinuität mehr sehen kann. Was einerseits natürlich richtig ist, weil diese Anfänge eines deutschen Schrifttums von den Nationalsozialisten ja stark benutzt worden sind, so dass man da einen Schnitt ziehen musste. Aber andererseits hat es wohl schon auch damit zu tun, dass in dieser Zeit, 18., 19. Jahrhundert, dann die romanischen Einflüsse wichtiger sind als die germanischen, wenn man von solchen überhaupt in der Form sprechen kann. So dass es verschiedene Wurzeln gibt, die man alle nicht begreifen kann als die eine, kontinuierliche Linie, die zum Heutigen geführt hat.

M.C.      Genau. Auch als nicht hier geborener Deutscher kann ich mir sehr gut vorstellen, was der Nationalsozialismus für eine zentrale Rolle für die Änderung der Schulprogramme gespielt haben muss. Andererseits kann man etwas wie den Faust, vor allem Faust II, ohne die Antike überhaupt nicht verstehen.

A.U.      Nein.

M.C.      Und da merke ich dann aber, die Herangehensweise ist hier anders, so anders, dass ich nicht sagen kann, dass ich sie wirklich verstehe.

A.U.      Ich glaube, dass das im deutschen Kontext auch ein sprachliches Problem ist. Das Mittelhochdeutsche ist etwas, das wir kaum verstehen. Im Prinzip ist es wie in deinem Buch hier – man hat ein paar Zeilen und dann braucht man die Kommentare dazu. Gleichzeitig wird dem aber auch nicht so viel Wert beigemessen, dass man sich damit länger auseinandersetzen würde. Und auf der anderen Seite ist das Studium von Latein und Griechisch stark gesellschaftspolitisch aufgeladen. Das ist ein Distinktionsmerkmal von Bildungsbürgertum, gehobener Schichten, man hat das in den letzten Jahren eher rückgebaut.

M.C.      Auch in Italien geht es etwas zurück. Aber weniger. Das Lateinische ist eben dem Italienischen auch näher. Dass man Abitur in einem humanistischen und naturwissenschaftlichen Gymnasium machen könnte, ohne Latein gelernt zu haben, das ist selten möglich. Es gibt aber andere Arten von Gymnasien, in denen das möglich ist – und dann natürlich all die Schulen, die keine Gymnasien sind: Latein als Sprache spielt dort keine Rolle, obwohl man aus der Tradition immer noch die Idee hat, dass jede Schule immerhin Grundkenntnisse über die historische Entwicklung von der Antike bis heute vermitteln sollte. Es sind aber vor allem die Gymnasien, die an dieser Idee mehr oder weniger konsequent festhalten, während sich in der Mittelschule und an den Nicht-Gymnasien ein nordeuropäisches didaktisches Modell verbreitet, in dem es eher um Kompetenzen geht als um historische Zusammenhänge. So dass es zum Beispiel heißt: Es muss in einem bestimmten Alter das Kompetenzfeld „Literatur und Gesellschaft“ bearbeitet werden. Und dann ist es egal, nimmt man dafür Dante oder den Kriminalroman der letzten 20 Jahre. Es geht stärker um Skills, als um das Historische. Italiener*innen meiner Generation ist das total fremd. Natürlich ist man sich einig, dass Schüler lernen müssen, dass es einen Zusammenhang zwischen Literatur und Gesellschaft gibt. Aber nicht unabhängig von der historischen Entwicklung. Wenn man über die nichts erfährt, hat man Lücken bzw. man hat eben keine wirkliche Kompetenz. Aber das setzt auch eine Schule voraus, die sehr breiten Raum einnimmt. Ich habe eine Freundin in Berlin, die gerade darüber nachdenkt, mit ihrem Kind nach Italien zurückzuziehen, damit es dort zur Schule geht. Ich glaube, sie hat Angst, wenn es hier zur Schule gehen würde, würde es weniger von der Welt verstehen; zumindest in dem Sinne, wie sie sich vorstellt, dass Weltverständnis durch Schulbildung ermöglicht werden soll. Das ist natürliche eine immer kulturabhängige und noch dazu subjektive Erwartung.

A.U.      Ja. Nur noch eine Sache, und die ist ein Stück weg von dem, wo wir gerade sind. Du hast eingangs gesagt, ihr übersetzt den Dante in der Schule auch ins Neuitalienische.

M.C.      Aber nur mündlich, nicht schriftlich.

A.U.      Nur mündlich. Ist das also nichts, was in Italien praktiziert wird, dass Dante breit übersetzt wird und dann erscheinen neue Ausgaben von Dante in Neuitalienisch?

M.C.      Ich glaube nicht. Ich weiß zwar, dass es Dichter*innen gibt, die Dante nachgedichtet haben. Solche Experimente gibt es. Ob jemand die ganze Divina Commedia nachgedichtet hat, weiß ich nicht, aber es gibt vielleicht Nachdichtungen ganzer Gesänge. Uns ist diese Möglichkeit auch bekannt, weil wir wissen, dass man in Frankreich die altfranzösische Literatur in neufranzösischen Übersetzungen liest, um sie besser zu verstehen. In Italien wird das teilweise mit Vergil oder Homer gemacht, da haben wir aber Übersetzungen in einer seltsamen neuitalienischen Sprache, die zeitlos ist. Wenn ich aus dem Lateinischen etwa das Wort puella übersetzen musste, habe ich nie ragazza, Mädchen, genommen, sondern immer fanciulla, das ist ein sehr altes Wort. Das heißt, man ist daran gewöhnt, wenn man Latein auf Italienisch liest, wird das in dieser altmodischen, zeitlosen Sprache sein. Man macht das bis heute so. Zumindest zum Teil. Denn es gibt durchaus einige, die das kritisieren, und sagen, das geht doch nur, wenn der Originaltext selber schon archaisierend war. Es existiert also auch der Versuch, zu aktualisieren und eine andere Möglichkeit zu schaffen. Bei Dante ist die Sache, dass man mit einer Übersetzung auch die Rhythmik verlieren würde. Gleichzeitig ist Dante manchmal nicht sprachlich unverständlich, sondern uns fehlt das theologische Wissen, um ihn zu verstehen, etwa im Paradies, da hilft eine Übersetzung nicht. Und dann ist die Unverständlichkeit nur die eine Seite Dantes. Auf der anderen Seite gibt es diese expressiven Stellen, die von den Leuten immer zitiert werden. In meiner Kindheit hat mein Vater zum Beispiel immer einen Vers aus der Hölle zitiert, das Ende von Canto XXI. Dort beschreibt Dante einen kleinen Teufel wie er furzt, und er sagt „del cul fatto trombetta“, er macht aus seinem Arsch eine Trompete. Das sind expressive Wendungen, die gewöhnliche Dinge ungewöhnlich fassen, und die begeistern auch ein Kind. Das, so findet man, sollte man schon so lassen. Das Poetische soll erhalten bleiben. Mein Vater übrigens liest Literatur, auch italienische, immer auf Englisch. Er findet, der Barock hat das Italienische verdorben, Englisch ist klarer, knapper und ist ihm lieber. Aber als er es mit Dante probiert hat, war er enttäuscht. Er sagt, das ist der Einzige, bei dem es nicht geht.

A.U.      Das ist schön. Dass das Poetische bleiben soll, freut die Dichterin. Es war ja schon die letzte Frage, aber jetzt noch eine allerletzte. Wenn ihr da in der Schule übersetzt, das vertieft ja sehr stark das Verständnis von Sprache. Würdest du sagen, damit erweitert sich auch das Verständnis von Welt, gleichsam automatisch?

M.C.      Ich glaube schon. Aber das lässt sich nicht allein an Dante festmachen. ich denke, es ist ein Konglomerat, das hat auch mit dem Lateinischen und Altgriechischen zu tun, und damit, dass man ständig Übersetzungen liest, die in einer Sprache sind, die man nicht mehr spricht, die aber für einen Schüler sehr aktuell ist, weil er seine Hausaufgaben in ihr macht. Und dann hat man Dante, und das ist Italienisch, aber es ist ein Italienisch zwischen dem heutigen und Latein. Da versteht man, dass Sprache viele Gestalten haben kann, dass sie viele Register hat. Dantes Hölle wirkt zuerst ein bisschen wie Straßentheater, oder ein Märchen. Sein Paradies dagegen wirkt wie ein Gebet. Das versteht man, ohne dass groß etwas über Register und rhetorische Regeln erklärt wird. Solche Kenntnisse können hilfreich sein, aber das Wichtigste ist, dass man sich die Zeit nimmt, sich mit Dantes Sprache ein wenig vertraut zu machen. Man hatte diese Chance zu meiner Schulzeit, zumindest in den Gymnasien, und das dürfte dort auch heute noch der Fall sein. Ich glaube aber, dass auch Realschüler*innen mit einem technischen Schwerpunkt ihr Verständnis der Welt dank Dante und den Klassikern der Antike sowie aus jeder anderen Epoche erweitern können: Sie kommen vielleicht nicht dazu, die sprachlichen Unterschiede zwischen Hölle, Fegefeuer und Paradies klar zu spüren, aber sie merken deutlich, dass das Altitalienische etwas Anderes ist als das, was sie selbst sprechen oder lesen. Und an dieser Andersartigkeit kann man ansetzen, als Schüler*in, als Lehrer*in als Leser*in, als Mensch.

A.U.      Herzlichen Dank, Matteo.

 

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