Journale Hölle Nr. 13

"Dante ist der Löwe unter den Dichtern, oder der Wolf" – Ein Gespräch mit Andrea Grill

 

Anja Utler      Andrea, du hast Romanistik studiert und Biologie. Dein Hauptaugenmerk hast du dann aber auf die Biologie gelegt, und das hast du mir mal so erklärt: Dante liest du ja sowieso, egal ob du das studierst. Ich stelle mir also vor, tagsüber warst du im Labor und hast Käfer zerlegt und Zellen abgezeichnet, und abends bist du auf deinem Zimmer gesessen und hast Dante gelesen. Auf Italienisch, wie ich dich kenne. War das so? Und wenn ja: warum?

Andrea Grill      Ich habe Dante gelesen, als ich in Perugia war, ich erinnere mich noch ziemlich genau an die Umstände, die Straßen der etruskischen Stadt, die dicken hohen Mauern, die Schokolade, die es am Corso Vanucci zu trinken gab, wo alle Bewohner abends stundenlang flanierten, da habe ich mir die Divina Commedia gekauft, in einer Ausgabe für Mille Lire, die gab es damals an den Kiosken, 1000 Lire, das entspricht mittlerweile einem Wert von ca. 50 Cent, so billig war Dante in Italien zu haben. Ich war Studentin an der Università degli Studi di Perugia, also an der „richtigen“ Universität, nicht der für die stranieri, die Ausländer, wo man „nur“ die Sprache lernte, denn mittels eines Tests hatte ich bewiesen, dass ich das Italienische gut genug beherrschte, um die üblichen Lehrveranstaltungen für italienische Studierende besuchen zu dürfen, und ich machte Biologia marina, Meeresbiologie, weil ich mir von diesem Kurs sehr viel versprach, weil das Meer ja so nahe war, während ich aus einem totalen Binnenland komme, ich habe also vielleicht Meerestiere gezeichnet und tatsächlich auch Zellen, weil ich außerdem Zellbiologie belegt hatte. Das stellte sich alles aber als sehr trocken heraus; ganz und gar nicht das Gefühl gebend, wir befänden uns in einem Land mit ausgedehnten Küstengebieten. Weil ich gleichzeitig in Romanistik inskribiert war, konnte ich auch eine Vorlesung über Dante besuchen. Das war schon rein des Gebäudes wegen, in dem sie stattfand, ein Erlebnis, mitten in der Altstadt, in einem Hörsaal, der sich seit Dantes Zeit wenig verändert hatte, durch die Fenster blickte ich auf mittelalterliche Plätze, auf Kirchtürme, herrliche Palazzi und auf die 1623 gegründete Biblioteca Augusta, in der ich später auch ein Buch von Ingeborg Bachmann finden würde, in dem ich ihr Gedicht „An die Sonne“ zum ersten Mal las. Und vor und nach den Vorlesungen tranken wir Studierenden in den kleinen Bars an der Piazza Kaffee und aßen kleine süße Kipferl oder Tramezzini mit Thunfisch. Es war ungefiltert eine idyllische Zeit und ich denke oft daran, dass es damals keinen Wermutstropfen gab für mich, jeder Tag war perfekt, so wie er war. Die Lehrveranstaltungen über Dante waren allerdings in Perugia perfekter als die über Meeresbiologie, und daher habe ich keine von ihnen ausgelassen. Ehrlich gesagt weiß ich aber kaum mehr, worum es da ging, was die Professoren vortrugen; ich weiß nur mehr, dass ich dachte: Dieser Ort ist dafür gemacht, um über Dante zu hören und Dante zu lesen. Ja, ich las abends wohl Dante in der Wohnung, in der ich schlief, die einst ein Weinkeller gewesen war, mit einem Fußboden aus unbehauenen Steinen und dicken Mauern und kleinen Fenstern und einem roten Gasofen. Ich hatte nur ein Bett für mich, und das stand in dem Raum, in dem auch gekocht wurde (von den anderen drei Bewohnern der Wohnung), mein Bett war nur durch einen Paravent von der Küche getrennt, und das störte mich ganz und gar nicht, ich hängte Zeichnungen an die unverputzte Wand aus grobem Stein über meinem Bett, und fand alles wunderschön. Naturgemäß auch Dante. Zurück in Salzburg meldete ich mich für die Prüfung zur dort ebenfalls abgehaltenen Lehrveranstaltung zur Divina Commedia an; an meinen ersten Prüfungsversuch erinnere ich mich gut, die erste Frage betraf die Architektur der Hölle in der Divina Commedia, ich solle die aufzeichnen. Nun war mir aber völlig entgangen, dass es da eine Architektur gab, hatte ich meine Aufmerksamkeit ganz und gar nicht auf diese örtlichen Gegebenheiten gerichtet und so fiel ich bei dieser Prüfung zuerst einmal durch. Beim Wiederholungstermin habe ich sie geschafft, aber ich weiß nicht mehr, was dann gefragt wurde.

A.U.      Die Architektur der Hölle spielte für dich also – wie für vermutlich viele – nicht die tragende Rolle, aber deine Erzählung von Perugia klingt wiederum so, als sei Dante selbst für dich Teil dieser alten, italienischen Stadtarchitektur gewesen, gewissermaßen ein Pfeiler in ihrer zeitlichen Architektur. War dieser Tauchgang in die zeitliche Tiefe der italienischen Sprache und Literatur etwas wie der Versuch, dich in der für dich neuen Umgebung zu verankern, dich in deinem Ex-Weinkeller mit ihren Fundamenten in Kontakt zu bringen? Oder war es eher wie Sightseeing – gehörte Dante für dich mit zu den Ausflügen ins Flair mit gemeinsamen Küchen, einer echten ausländischen Universität und Flaniergewohnheiten?

A.G.      Es war ein Versuch, denke ich, meine österreichische Identität hinter mir zu lassen, mich völlig in eine Italienerin zu verwandeln. Ich hatte damals auch die Illusion, die Leute würden nicht sofort merken, dass ich „nicht von hier" sei, ich versuchte, den Akzent von Mittelitalien anzunehmen, ein wenig weicher zu sprechen und die Es mehr wie Äs auszusprechen, wie das meine Studienkolleginnen taten; ich trat dem Unichor bei und sang unter der Leitung von Maestro Silivestro Teile aus Verdis Gefangenenchor und hörte, wie er zu uns sagte, wir sollten unsere „Mediterraneità innata" (=angeborene Mediterranität) hören lassen. Ich spürte diese Mediterraneità in mir, ganz stark, und dieses Gefühl – so absurd es erscheinen mag, weil ich doch in einer alpinen Gegend weit weg vom Mittelmeer aufgewachsen bin – ist womöglich der Anfang von meinen späteren Studien der Mediterranen Tagfalterfauna gewesen, wobei es mir besonders an solchen Arten gelegen war und ist, die ein ganz kleines Verbreitungsgebiet haben und nur auf einer einzigen Insel oder auf drei Berghängen weltweit vorkommen. So eine Seltenheit hat mich begeistert und fasziniert und tut es noch immer. Weil es mir bis jetzt unerklärlich ist, wie so eine Begrenzung ökologisch zu Stande kommt; es hat was Unlogisches an sich. Eigentlich müsste sich doch jede Art ausbreiten wollen, wenn sie nur kann und an sich schienen es einige der sehr kleinräumig verbreiteten Arten auch zu können, sie tun es aber nicht, eigentlich ist eine weltweite oder sogar kontinentweite Verbreitung bei Schmetterlingen nicht häufig. Nun, ich wollte mich vielleicht doch auch ausbreiten oder eigentlich das Unmögliche versuchen: mich von einer Art in eine andere verwandeln, wobei es freilich unkorrekt ist und nur zu dichterischen Zwecken möglich von sprachlichen Identitäten als „Arten" zu sprechen. Daher las ich Dante. Und später andere Dichterinnen und Dichter, die mich, denke ich, sehr geprägt haben in meiner Art zu schreiben. Bis heute träume ich davon, endlich ins Italienische übersetzt zu werden, mir käme vor, dort wäre meine eigentliche Heimat und würde ich direkt erkannt werden. Die Spintisiererei hat also noch nicht aufgehört. Obwohl ich es nie so weit getrieben habe wie die Schriftstellerin Jhumpa Lahiri, die eigentlich mit ihren auf Englisch geschriebenen Erzählungen bekannt wurde „Interpreter of Maladies", aber vor einigen Jahren nach Rom gezogen ist, ausschießlich auf Italienisch las, auch Texte, die an sich auf Englisch geschrieben waren, alles, nur in den italienischen Übersetzungen, und jetzt schreibt sie auch ihre eigenen Bücher auf Italienisch, zwei sind schon erschienen. Das fasziniert mich enorm. Ist ihr die Verwandlung geglückt?

A.U.      Dante jedenfalls gelingt die Verbreitung, der Sprung von einem Hirn ins nächste, bis heute hervorragend. Als eine Art Geburtshelfer für eine Verwandlung, das ist eine sehr verantwortungsvolle Rolle… Mit welchen Versen hat das Gedicht denn da angesetzt in dir, was ist dir von der Commedia besonders in Erinnerung geblieben? Was hat sich eingebrannt, was hat dich sogar, wie du sagst, in deinem eigenen Schreiben – und Denken – geprägt?

A.G.      An konkreten Versen ist mir, muss ich zugeben, wenig in Erinnerung geblieben; eher die Stimmung des Textes insgesamt, da sprach einer von den ärgsten Dingen, aber in einer Weise, die mir jede Angst nahm, geradezu Zuversicht ausstrahlte. Dass es auf das WIE etwas gesagt, geschrieben wird so unüberschätzbar sehr ankommt, hat sich mir von Dante ausgehend, und wohl sogar durch die italienische Sprache überhaupt, eingeprägt. Der Klang der Wörter, die Melodie der Sätze – alles auf Italienisch Gesagte war angenehmer als in den meisten anderen Sprachen, was für ein Geschenk, habe ich mir gedacht, mit so einer Sprache als Muttersprache aufwachsen zu dürfen. Aus der Commedia sind mir bruchstückhaft die letzten Verse der drei Teile Inferno - Purgatorio - Paradiso erinnerlich; dass die alle drei auf „stella" enden, den Stern, der im Italienischen eine »Sternin« ist, also grammatikalisch feminin. Die allerletzte Zeile des ganzen Textes, l’amor che move il sole e l’altre stelle, gehört zu dem Minimalen, das ich zitieren kann, wie Millionen anderer auch. Etwas von die-Segel-setzen-müssen aus dem Beginn des Purgatorio fällt mir ein, und dass das Meer grausam sein kann, sowas ungefähr stand da. Und halt der Beginn: mittendrin im Leben fand ich mich in einer dunklen Wildnis wieder; und dass dann die Muse zu Hilfe gerufen wird, dieses Wort Muse ist für mich schon sehr mit Dante verbunden. Dass der Dichter führt, poeta chi mi guidi. Mich hat Dante bald zu Cesare Pavese und seinem 1936 erschienenen Gedichtband Lavorare stanca geführt. Keine Scheu davor zu haben, etwas Schreckliches so zu beschreiben, dass es die Leser nicht würgt oder foltert und nicht ihres Lebensmuts beraubt, dass sie es ruhig und gefasst und klaren Sinnes aufnehmen können, würde ich sagen, hat mir Dante beigebracht.

A.U.      Das erinnert mich an eine Erfahrung, dich ich beim Russisch-, Tschechisch-, Englischlernen gemacht habe: dass ich, als Schriftstellerin, von den für mich fremdsprachigen Autorinnen und Autoren am meisten gelernt habe. Ich frage mich, woran das liegt. Weil man bei der fremden Sprache genauer hört? Weil man genauer hinschauen muss und alles langsamer wird? Weil es so viele Missverständnisse gibt, und sich der Denkraum dadurch erweitert? Weil man eine Erfahrung macht, die auch beim Schreiben zentral ist: Dass Dinge und Sprache zuerst fremd werden müssen, bevor sich etwas sagen lässt? Aber das sind vielleicht Fragen, die von Dante wegführen. Konkret zu Dante hätte ich aber auch noch ein paar Fragen an dich: Du übersetzt ja selbst viel, Andrea. Aber Dante nicht, oder? Warum nicht? Und: Warum würdest du einer Leserin, einem Leser empfehlen, sich Dante zuzuwenden? Und gibt es eine Übersetzung ins Deutsche, von der du denkst, sie vermittelt eine gute Vorstellung der Commedia?

A.G.      Dante habe ich noch nie übersetzt, nein, und empfinde auch keinen Drang dazu. Ich habe wirklich bis jetzt noch nie darüber nachgedacht, dass ich das ja auch tun könnte. Er ist mir zu weltberühmt. Dante ist der Löwe unter den Dichtern, oder der Wolf. An solchen Tierarten will jeder forschen, jede Beobachtung eines Löwen in freier Wildbahn lässt sich sofort gut publizieren. Mich hat immer das Versteckte, das Schwer-zu-findende mehr angezogen. Was Versionen der Göttlichen Komödie im Deutschen betrifft, bin ich keine Expertin, weil ich sie auf Deutsch kaum gelesen habe. Ich hielt mich bisher an meine vage Erinnerung an die italienische Ausgabe von einst. Ich mag die zweisprachige Reclam-Ausgabe in der Fassung von Hartmut Köhler, die kürzlich wieder neu aufgelegt wurde; überhaupt bevorzuge ich zweisprachige Ausgaben, weil ich am liebsten den Originaltext lese, wenn ich die Sprache zumindest ein bisschen kann. Nicht, weil ich den Übersetzer⋅innen mißtrauen würde, im Gegenteil, oft machen sie den Text sogar besser, klarer. Ich lese einfach gerne den Originalton und lausche ihm innerllich – vor allem im Italienischen, wie gesagt, klingt in meinen Ohren in dieser Sprache ja alles schöner und angenehmer. Die Fassung von Köhler ist in Prosa geschrieben, also keine Nachdichtung von Dantes Versformen. Sie dient vor allem dem Verständnis, ist aber gleichzeitig ein Text, der für sich steht. Köhler erhielt dafür 2013 posthum den deutschen Übersetzerpreis. Es war die letzte Arbeit, die er vor seinem Tod fertigstellte. Ich kannte ihn nicht persönlich, aber solche Umstände faszinieren mich und ich merke sie mir aus der Verlagsbeschreibung des Buchs. Selbst übersetze ich vorzugsweise zeitgenössische Dicher⋅innen. Vielleicht liegt das daran, weil bei ihnen das In-der-Welt-Sein noch nicht so gefestigt ist wie bei einem historischen Autor, dessen Name wie ein Fels in der Brandung des Geschriebenen steht. Goethe würde mich als Übersetzerin beispielsweise ebensowenig interessieren wie Rilke oder Schiller. Oder, um bei anderen Sprachen zu blieben, Nikos Kazanzakis oder Luis Borges. Obwohl ich die beiden bewundere und gerne gelesen habe. Was du über das Lernen von anderssprachigen Schriftsteller⋅innen sagst, verstehe ich total. Mir geht es ähnlich. Ich würde sogar soweit gehen zu behaupten, dass es mir oft leichter fällt, etwas in einer anderen Sprache zu sagen. Als wäre ich dann eine Schauspielerin, die sich selber auf der Bühne besser spielen kann als im echten Leben. In einer anderen Sprache habe ich weniger Scheu. Auf Deutsch zu schreiben fällt mir in gewisser Hinsicht sehr schwer. Ich denke, das kommt daher, weil ich auf Deutsch alle Möglichkeiten vor Augen habe, alle Nuancen höre und es mir schwerfällt, zu beschließen, was es denn sein soll, welches Wort genau. Weniger Wörter zu kennen, ist manchmal ein Gewinn.

 

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