Schwarz oder rot?
Journal zur Übersetzung von Oleg Senzows Haft. Notizen und Geschichten
Der Hungerstreik
Am 14. Mai 2018, einen Monat vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Russland, trat der ukrainische Regisseur Oleg Senzow in einen unbefristeten Hungerstreik. Er wollte damit die Freilassung der ukrainischen politischen Gefangenen in Russland erreichen. Zu diesem Zeitpunkt saß Senzow bereits vier Jahre in Labytnangi am Polarkreis in Haft, nachdem er im Mai 2014 zusammen mit anderen Aktivisten auf der Krim wegen angeblicher terroristischer Aktivitäten festgenommen und im August 2015 in Rostow in einem von der kritischen westlichen Öffentlichkeit als politisch motiviert bewerteten Prozess zu zwanzig Jahren Lagerhaft unter verschärften Haftbedingungen verurteilt worden war. Im September 2019 kam Senzow im Rahmen eines russisch-ukrainischen Gefangenenaustauschs frei.
Als Senzow seinen Hungerstreik begann, übersetzte ich erste Texte von und über ihn, unter anderem „Wir schauen Fußball, derweil Oleg Senzow im Gefängnis stirbt“, einen Gastkommentar von Kateryna Botanova für die Neue Zürcher Zeitung, Angelina Kariakinas Reportage „Zwanzigtausend Kilometer“ und die Erzählung „Kindheit“ für den Band „Leben“. Senzow saß zu Unrecht – die in der Anklage erhobenen Vorwürfe des Terrorismus konnten nie bewiesen werden – im Lager, meine Übersetzungen waren somit nicht nur eine Vermittlung von Informationen über politische Vorgänge in Russland und in der Ukraine und ein Einblick in eine sowjetische Kindheit auf der Krim, sondern ein Aufruf, Senzows widerrechtliche Inhaftierung und Verurteilung in Putins Russland nicht schweigend hinzunehmen, sondern sich aktiv für die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen.
In den vergangenen zehn Monaten habe ich Oleg Senzows Tagebuch und ausgewählte Texte aus dem Erzählband „Viereinhalb Schritte“ übersetzt. Während dieser Arbeit habe ich mich intensiv mit Senzows persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen im Lager, aber auch mit den Strafvollzugssystemen in Russland und Deutschland und den informellen Gegebenheiten in russischen Lagern und deutschen Gefängnissen auseinandergesetzt und mich mit Kollegen über meine Arbeit ausgetauscht. Die gewonnenen Erkenntnisse und die daraus resultierenden übersetzerischen Lösungen sind Gegenstand des vorliegenden Essays.
Oleg Senzow und seine Texte
Oleg Senzows Tagebuch, das auf Russisch unter dem Titel „Chronik eines Hungerstreiks“ erschienen ist, dokumentiert seinen 145 Tage dauernden Hungerstreik.1 Der Autor beschreibt die körperlichen Veränderungen, die mit ihm vor sich gehen, während er die Nahrung verweigert, er sinniert über das launische, lebensfeindliche Wetter am Polarkreis, schildert Begegnungen mit Wachleuten, Sicherheitsdienstlern, Anwälten und Rechtsaufsichtsbeamten, mit Menschenrechtlern und Ärzten. Begegnungen mit Häftlingen finden sich in den Notizen eher selten, da Senzow während seines Hungerstreiks zunächst in einer Einzelzelle und später in einem Einzelzimmer im Krankentrakt untergebracht war. Ausführlich schreibt der Regisseur über Bücher, die er liest, und Filme, an die er sich erinnert. Häufig gibt er Geträumtes wieder. Senzows Alltag ist eintönig und mit fortschreitender Dauer des Hungerstreiks von medizinischen Untersuchungen und Behandlungen dominiert.
In den Erzählungen schildert der Autor den Alltag im russischen Straflager, erklärt die informellen Hierarchien und porträtiert einzelne Häftlinge.
Was wir nicht lesen
Trotz unzähliger Kontrollen ist Senzows Tagebuch im Lager unentdeckt geblieben, er hat es geschafft, die Notizen bei seiner Entlassung mitzunehmen. Dass die Hefte nicht konfisziert wurden, begründet der Autor damit, dass er unleserlich schreibe und die Vollzugsbeamten nicht entziffern konnten, was er geschrieben habe. Womöglich hat tatsächlich kein Wachmann oder Sicherheitsdienstler Senzows Aufzeichnungen gelesen. Womöglich hat Senzow aber auch bestimmte Beobachtungen und Erfahrungen bewusst ausgespart, um keinen Anstoß zu erregen. Bei genauem Lesen fällt auf, dass bestimmte Themen und Darstellungen unberücksichtigt bleiben. So findet sich kein einziger Eintrag zum Drogenkonsum, obwohl dieser im russischen Knast ein weit verbreitetes Phänomen ist, das viele Abhängigkeiten unter den Häftlingen hervorbringt. Senzow schreibt nur sehr vereinzelt über Gespräche und Begegnungen mit Häftlingen, er flicht auch keine Erinnerungen an die Zeit vor dem Hungerstreik ein, in der er als normaler Barackeninsasse tagtäglich Umgang mit anderen Gefangenen hatte. Vielleicht hat Senzow bewusst auf Szenen aus dem Lageralltag verzichtet, um den Vollzugsbeamten und Sicherheitsdienstlern keine Handhabe gegen Mitgefangene zu liefern.
Übersetzungsprozess (1) – Lesen
Bei meiner ersten Lektüre sind mir als Übersetzungsprobleme neben den medizinischen Termini vor allem der Lagerjargon und die Terminologie des russischen Strafvollzugswesens aufgefallen. Unverständlich waren Wörter wie kosel, tschernaja massa oder pod kryschej, die in der Allgemeinsprache etwa mit Ziegenbock, schwarze Masse und unterm Dach zu übersetzen wären, im Kontext des Lagers aber offensichtlich in einer anderen Bedeutung gebraucht wurden. Ausdrücke wie deschurka, oper und petrowka (neutral: Dienststube, Sicherheitsbeamter, Einzelzelle) waren als Einrichtungs- und Funktionsbezeichnungen des Strafvollzugs zu erkennen, die neben der begrifflichen eine expressive Bedeutung transportierten.
Zwar fügte Oleg Senzow zu vielen Begriffen Erklärungen in Form von Fußnoten ein, aber ohne eingehende Beschäftigung mit dem russischen Strafvollzugs- und Häftlingskastensystems war es unmöglich, passende Übersetzungslösungen zu finden.
Also eignete ich mir Hintergrundwissen über die inoffiziellen und offiziellen Strukturen im russischen Lager und im deutschen Knast an.
Das russische Lager und der deutsche Knast
Sowohl im russischen Lager als auch im deutschen Knast existieren offizielle Regeln, die das Strafvollzugsrecht festlegt, und informelle Prinzipien, nach denen die Häftlinge ihr Zusammenleben organisieren.
Im russischen Lager sind die informellen Regeln und Hierarchien besonders stark ausgeprägt. Es existiert ein Kastensystem, dem alle Häftlinge zugeordnet werden. Zentraler Punkt der Zuordnung ist die Frage, wie es ein Gefangener mit der Staatsmacht hält: Ist er unabhängig? Widersteht er den Anwerbeversuchen der Verwaltung oder kollaboriert er?
Die Häftlinge ordnen sich vier verschiedenen Kasten zu.2 Zur ersten Kaste gehören die blatnyje, die professionellen Verbrecher. Sie gelten als Elite der Verbrecherwelt, an ihrer Spitze stehen die wory w sakone, die Ganovenbosse. Das Einsitzen im Gefängnis ist Teil ihrer Karriere. Das ein- oder mehrmalige Begehen einer Straftat macht allerdings noch niemandem zum professionellen Verbrecher oder gar Boss. Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu dieser Kaste ist, dass man niemals mit oder in einer staatlichen Struktur gearbeitet hat. Dazu gehört unter anderem auch der Dienst in der Armee. Darüber hinaus existiert ein Ehrenkodex, an den sich die blatnyje halten müssen. Wie genau die wory w sakone gekürt werden, können selbst langjährige Gefängnisinsassen nicht genau beschreiben. Die Rituale sind geheim. Die blatnyje haben in den Gefängnissen bestimmte Privilegien, sie brauchen nicht zu arbeiten und können für ihre Bedürfnisse aus der Häftlingskasse Geld entnehmen. Sie haben auch Pflichten: Ihnen obliegt es, die illegale Versorgung der Häftlinge mit Lebensmitteln, Tabak, Wodka, Tee und Kleidung von draußen sicherzustellen. Sie sind es, die Streitfälle schlichten und die Entscheidung darüber treffen, was mit Häftlingen passiert, die gegen den Haftkodex verstoßen haben.
Die zweite Kaste bilden die muschiki, die Männer. Das sind normale Gefängnisinsassen, die keine professionelle Verbrecherkarriere machen. Sie wurden für die verschiedensten Verbrechen verurteilt, etwa Raub, Körperverletzung oder Diebstahl. Sie kollaborieren nicht mit dem Vollzug und widerstehen Versuchen der Beamten, sie zu einer Zusammenarbeit zu zwingen. Sie gelten als anständige Häftlinge, die den Haftkodex einhalten. Sie haben das Recht, an gemeinschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen, und werden bei Bedarf aus der Gemeinschaftskasse unterstützt.
Die kosly, die Böcke, gehören zur dritten Kaste. Sie kollaborieren offen mit der Verwaltung. Die Gründe dafür sind verschieden: Manche erklären sich freiwillig bereit, weil sie sich Vergünstigungen oder eine vorzeitige Entlassung aus der Haft erhoffen, andere werden von der Lagerverwaltung unter Einsatz von körperlicher Gewalt dazu gezwungen, Dritte psychisch unter Druck gesetzt. Eine häufige Form, Häftlinge als Mitarbeiter für die Verwaltung zu rekrutieren, sind Repressionen nach der Ankunft im Lager. Die Häftlinge werden in Einzelzellen gesperrt und mit den verschiedensten Methoden schikaniert und gequält, bis sie sich zu einer Zusammenarbeit mit der Verwaltung bereit erklären. Die Torturen finden absichtlich zu Beginn der Haftzeit statt, damit die Häftlinge keine Gelegenheit haben, mit anderen Lagerinsassen Kontakt aufzunehmen und ein Netzwerk an Unterstützern aufzubauen. Die kosly verrichten die unterschiedlichsten Tätigkeiten: Manche arbeiten in der Bibliothek, in der Küche oder im Krankentrakt, andere sorgen für Ordnung in den Baracken oder begleiten die Einheiten während der Aktivitäten im Lager. Neben diesen für das Funktionieren des Lageralltags notwendigen Tätigkeiten sind sie aber auch angehalten, Vorkommnisse unter den Häftlingen zu melden, also diese zu bespitzeln. Für sie existieren noch viele weitere Namen: scherst, tschechotka, krasnyje – Wolle, Krätze, Rote.
Zur vierten und untersten Kaste gehören die petuchi, die Hähne. Sie gelten als die Herabgesetzten, die Ausgestoßenen. Die petuchi haben separate Wohnbereiche, die sich meist am Barackeneingang in der Nähe der Toiletten befinden. Sie müssen alle schmutzigen Arbeiten verrichten, etwa Toiletten putzen und Müll entsorgen. Sie verfügen über eigenes Geschirr, essen getrennt von den anderen Häftlingen und teilen auch sonst keine Gegenstände mit ihnen. Den anderen Häftlingen ist es verboten, petuchi zu berühren und das gleiche Geschirr zu benutzen. Entstanden ist diese Kaste mit der Verbreitung der Syphilis nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Miliz versuchte, die Verbrecherelite zu brechen, indem sie sie in Einheiten unterbrachte, in denen die Syphilisrate besonders hoch war. Da Syphilis nicht nur durch sexuelle Kontakte, sondern auch über verunreinigte Gegenstände übertragen wird, wurden die oben beschriebenen Regeln eingeführt, um Ansteckungen zu vermeiden, und diese Regeln existieren bis heute. Es gibt drei Gründe, warum ein Häftling zum petuch werden kann: Wenn jemand nicht nur als Sexualstraftäter verurteilt wurde, sondern nachweislich strafbare sexuelle Handlungen begangen hat, wenn jemand im Lager passive Homosexualität praktiziert und wenn jemand den ungeschriebenen Ehrenkodex verletzt hat, der den Häftlingen in Bezug auf den Umgang mit den petuchi vorgeschrieben ist, als zum Beispiel aus demselben Becher getrunken oder dasselbe Besteck benutzt hat.
Kosly und petuchi haben nicht das Recht, an informellen Häftlingsaktivitäten teilzunehmen und Geld aus der Gemeinschaftskasse zu erhalten.
Die Zuordnung zu den Kasten wird informell geregelt und kann sich im Lauf der Haftzeit ändern. Die Häftlinge beobachten das Verhalten ihrer Mitinsassen und sanktionieren es gegebenenfalls. Wer in grober Weise gegen den Haftkodex verstößt, wird aus der Gruppe der muschiki ausgeschlossen und ist dann scherst. Wer einen petuch berührt, wird selbst petuch. Ein Aufstieg von einer niederen Kaste in eine höhere ist in der Regel ausgeschlossen.
Die Zugehörigkeit der Häftlinge zu den jeweiligen Kasten ist auch den Strafvollzugsbeamten bekannt. Sie berücksichtigen diese Einteilung zum Beispiel auf dem Transport von Gefangenen und bei der Unterbringung.
Jenseits dieser informellen Hierarchie unterliegen die Häftlinge den offiziellen Regeln des russischen Strafvollzugs. Das russische Recht kennt den Offenen Vollzug, den Regelvollzug, die verschärften Haftbedingungen und die Sonderhaft. Die mit der Umsetzung der rechtlichen Reglungen betraute Behörde ist der Föderale Strafvollzugsdienst (FSIN), über seine Tätigkeit gibt es so gut wie keine öffentliche Dokumentation, die Kontrolle durch zivilgesellschaftliche Organisationen wird systematisch behindert.3
Die im Urteil festgelegte Haftart sagt nichts darüber aus, welche Bedingungen ein Häftling in einem konkreten Lager vorfindet. Die russischen Gefängnisse und Lager stehen in einer direkten Tradition zum sowjetischen GULAG, denn wie sich zahlreichen Häftlingsberichten entnehmen lässt, sind Gewalt gegen Gefangene, Willkür, Schikane, Denunziantentum und Einschüchterung in den russischen Gefängnissen und Lagern nach wie vor an der Tagesordnung. Jedes Lager verfügt über einen operatiwnaja tschast, eine Sicherheitsabteilung, die formal gesehen für die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Einrichtung zuständig ist und Straftaten innerhalb der Anstalt verhindern oder aufdecken soll, de facto aber ihre Befugnisse nutzt, um die Häftlinge mit körperlicher und psychischer Gewalt zu brechen und gefügig zu machen, wie es zu Sowjetzeiten im Geheimdienst üblich war.
In den russischen Lagern gibt es einen ständigen Kampf zwischen der Anstaltsleitung und den Häftlingen darum, wer die Regeln setzen und die Macht im Lager ausüben kann. In den so genannten krasnyje kolonii, den roten Lagern, setzt die Verwaltung mit Hilfe der kosly ihre Regeln durch und schikaniert diejenigen, die nicht kollaborieren. In den so genannten tschernyje kolonii, den schwarzen Lagern, gilt der Kodex der Häftlinge, die Macht des Vollzugs ist beschränkt.
In seinem Buch „Knast“ beschreibt Joe Bausch, der von 1986 bis zu seiner Pensionierung 2018 in der Justizvollzugsanstalt Werl als Gefängnisarzt tätig war, die Verhältnisse im deutschen Gefängnis.4 Er versucht dabei eine Mittlerposition zwischen den Häftlingen und den Vollzugsbeamten einzunehmen und stellt die Sicht- und Verhaltensweisen beider Seiten dar. Übereinstimmend mit Oleg Senzow beschreibt er grundsätzliche Erfahrungen, die alle Häftlinge bei der Verbüßung einer Haftstrafe machen und die im russischen und deutschen Gefängnis ähnlich sind. Dazu gehören etwa das Gefühl der Ohnmacht, das sich einstellt, wenn sich die Zellentür zum ersten Mal hinter einem Häftling schließt, der Mangel an Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten und die herrschende Hackordnung. Aus seinen Ausführungen lässt sich entnehmen, dass der deutsche Knast ebenso wie das russische Lager ein abgeschlossenes System ist, zu dem der allergrößte Teil der Gesellschaft keinen Zugang hat. Die Häftlinge sind in einer bedrückenden Körperlichkeit aufeinander geworfen und haben Mechanismen entwickelt, um sich vom Vollzug abzugrenzen und ein Mindestmaß an Individualität zu wahren.
Trotz dieser Ähnlichkeiten muss betont werden, dass sich das deutsche und das russische Strafvollzugssystem in zwei wesentlichen Punkten unterscheiden: Das informelle System der deutschen Häftlinge kennt kein Kastenwesen, die Gefangenen sind nicht in hierarchisierten Gruppen gegen die Vollzugsbeamten organisiert, es existiert kein fester Haftkodex, dessen Einhaltung von privilegierten Häftlingen überwacht wird. Obwohl sich die Inhaftierten vom Vollzug abgrenzen, ist die Kooperation mit staatlichen Strukturen nicht prinzipiell negativ sanktioniert, die Wahrnehmung von Therapieangeboten und Resozialisierungsmaßnahmen ist kein Kriterium zur Bewertung von Zugehörigkeit. Unter Insassen im deutschen Gefängnis besteht also keine grundsätzliche Ablehnung staatlicher Strukturen bzw. Weigerung, mit diesen zusammenzuarbeiten.
Der zweite Punkt betrifft den grundsätzlichen Umgang der Vollzugsbeamten und Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes mit den Gefangenen. In deutschen Gefängnissen machen Häftlinge nicht die Erfahrung von systematischer Unterdrückung und Gewalt. Das zeigt sich auch darin, dass die Unterbringung in einer Einzelzelle von deutschen Häftlingen durchaus gewünscht ist, um einen persönlichen Rückzugsraum zu haben, während im russischen Lager die Unterbringung eines Häftlings in einer Einzelzelle zumeist mit Willkür und Gewalt verbunden ist.
In den deutschen Gefängnissen steht die Resozialisierung der Insassen im Mittelpunkt, in Russland die Bestrafung.
Insassen in russischen Lagern und deutschen Gefängnissen verfügen gleichermaßen über eine eigene Subsprache, fenja, Argot, die sie nutzen, um miteinander zu kommunizieren. Die Subsprachen sind lexikographisch gut erschlossen, sowohl für das Russische als auch für das deutsche existieren zahlreiche Wörterbücher, die man zu Rate ziehen kann.
Übersetzungsprozess (2) – Autorenperspektive
Oleg Senzow ist aufgrund seiner politischen Aktivitäten in die Mühlen des russischen Strafverfolgungs- und Strafvollzugssystems geraten. Die Haft lässt ihn Teil eines offiziellen und inoffiziellen Systems werden, das weder die russische noch die ukrainische Gesellschaft kennt. Senzow ist mit diesem System nicht vertraut, während seiner Haftzeit lernt er die Regeln und findet seinen Patz. In seinen Texten nimmt er eine Vermittlungsposition zwischen dem Haftsystem und den Tagebuchlesern in Russland und der Ukraine ein, denn er fügt im Text und in zusätzlichen Fußnoten Erklärungen über die Besonderheiten des Knastalltags, die formellen und informellen Hierarchien und Strukturen ein.
Schaut man sich die Erläuterungen und Fußnoten genauer an, fällt auf, dass Senzow vor allem das Kastensystem und den Knastslang erklärt. Zur Struktur der Lager und zu den Funktionen der Anstaltsbeamten finden sich keine Erläuterungen.
Übersetzungsprozess (3) – Vergleichstexte
Um eine Strategie für die Übersetzung der Kastenbezeichnungen und der anderen Lagerrealien zu entwickeln, reichte die Aneignung von Hintergrundwissen noch nicht aus. Ich wollte herausfinden, wie andere Übersetzer∙innen ins Deutsche und deutschsprachige Autor∙innen mit diesem Phänomen umgehen, und habe ich mir daher etliche literarische Werke angesehen, in denen die sowjetischen Lager und die (post)sowjetische Vergangenheit und Gegenwart thematisiert werden. Dazu gehörten Gabriele Leupolds Übersetzungen der „Erzählungen aus Kolyma“ von Warlam Schalamow, Olga Radetzkajas Übersetzung von Julius Margolins „Reise in das Land der Lager“ und Maria Stepanovas „Nach dem Gedächtnis“, Nino Haratischwilis Roman „Die Katze und der General“ sowie zahlreiche Artikel zum Alltag in den russischen Straflagern auf der Plattform dekoder und in anderen digital erscheinenden deutschen Medien. Bei der Lektüre ist mir aufgefallen, dass nahezu alle Übersetzer∙innen und Autor∙innen mit kursivierten Entlehnungen arbeiten, d.h. die spezifischen Erscheinungen des (Lager)alltags im (post)sowjetischen Raum werden mit originalsprachlichen Ausdrücken in die Übersetzung eingefügt, die durch entsprechende Erläuterungen – im Glossar oder durch Setzung eines Link zu einer Erklärung – ergänzt werden.
Übersetzungsprozess (4) – Konsultationen
Während der Arbeit an der Übersetzung bot sich die Gelegenheit, in einer online-Werkstatt mit Kollegen komplizierte Textpassagen zu besprechen. Nachdem Nelia Vachovska und ich im vergangenen Jahr für den Deutschen Übersetzerfonds die – coronabedingt – erste Online-Vice-Versa-Übersetzerwerkstatt für Deutsch und Ukrainisch durchgeführt hatten, gründete die Übersetzergruppe einen online-Stammtisch, zu dem sie seit April 2021 einmal monatlich zusammenkommt. Gegenstand der Besprechungen sind literarische Werke, zu übersetzende Texte und Übersetzungspraktiken, die für unsere Arbeit interessant sind. Wir befassen uns nicht nur mit deutschen und ukrainischen, sondern auch mit russischen Texten, wenn sie einen Bezug zu unserer Arbeit haben, aber auch mit Fragen der übersetzerischen Ethik. Im Juli-Stammtisch diskutierten wir die Übersetzung von Senzows Text, insbesondere die Frage, welche Entsprechungen für die Bezeichnungen des Kastensystems und die Jargonismen im Deutschengefunden werden können. In der Diskussion stellten sich zwei Aspekte als besonders interessant heraus: Genauso wie ich hatten die ukrainischen Kolleg∙innen Probleme, das Kastensystem und die damit verbundenen Hierarchien, Werte und sprachlichen Ausdrücke auf Anhieb und ohne zusätzliche Erklärungen zu verstehen. Das bestätigte mich in meiner Vermutung, dass das russische Lager ein Milieu ist, über das man auch in der russischen und ukrainischen Gesellschaft nichts weiß. Zum anderen sprachen wir über den Grundton des Textes und Senzows Schreibstil. Dabei wies mich der Paul-Celan- und Herta-Müller- Übersetzer Mark Belorusez darauf hin, dass Senzow in den Tagebüchern und Erzählungen eindeutig Partei für die Häftlinge ergreift. Seine Beschreibungen sind geprägt von Sympathie und Respekt vor den Lagerinsassen, er fühlt sich ihnen zugehörig, obwohl er strenggenommen kein Verbrecher ist, sondern aus politischen Gründen verurteilt wurde. Diese Sympathie, so der Hinweis, sollte der Übersetzung unbedingt abzuspüren sein. Die Kollegen machten mich ebenfalls darauf aufmerksam, dass Senzows dokumentarisches Schreiben von vielen stilistischen Brüchen geprägt ist. So bediene er sich einerseits des Häftlingsjargons und verwende andererseits häufig Floskeln und sinnentleerte Wörter, die wenig aussagekräftig seien und dem Text keine Plastizität verliehen. Diese muttersprachliche Dimension des Textverstehens sollte in die Übersetzung einfließen.
Eine weitere Etappe in der Arbeit an der Übersetzung bildete die Konsultation mit Pieke Biermann, die zahlreiche Übersetzungen aus dem Englischen vorgelegt hat und im Übersetzen von Umgangssprache und Slang besonders versiert ist. Ich sprach mit ihr über die Tonlage des Textes und überlegte, welche knastsprachlichen Äquivalente für Ausdrücke wie drankriegen, sich einlassen mit, nerven, schikanieren in Frage kämen.
Darüber hinaus habe ich mich mit dem Slawisten und literarischen Übersetzer Walter Schade über den Originaltext und die Übersetzung korrespondiert. Walter Schade war bis zu seiner Pensionierung 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Linguistik und Translatologie und hat seinerzeit Werke von Fjodor Dostojewski und Maxim Gorki übersetzt. Zu Senzows Erzählungen schrieb er mir folgendes: „Hier kommt die erste Portion der Texte, mit denen Sie mir helfen wollten, die Urlaubszeit zu versüßen. Ich finde die ‚Erzählungen‘ mehr als halbdokumentarische Berichte mit sehr vielen landesspezifischen Details, die eine Übersetzung zusätzlich erschweren. Was tun mit solchen Bildungen wie Silowiki, Sawchos und all den anderen Benennungen, die in der Sprache der Inhaftierten oft einen anderen Klang hatten? […] Müsste der deutsche Leser nicht die Unterschiede im Wesen der Strafausübung zwischen Russland und den westlichen Ländern erläutert bekommen? Fragen über Fragen, die ich in meinem Urlaubsasyl ohne die entsprechenden Hilfsmittel auch nicht beantworten konnte.“ Die Kommentare meines übersetzungserfahrenen Kollegen brachten mich nach mehreren Monaten angestrengter Übersetzungsarbeit zurück zu meiner Ausgangsposition, in der ich mich der Lektüre ohne Vorwissen gewidmet hatte. Walter Schades Kommentare zeigte mir, welche der bislang gefundenen Übersetzungslösungen nicht funktionierten und dass Erläuterungen zum Strafrechts- und Strafvollzugssystem unerlässlich sein würden.
Neben der juristischen Lexik und dem Häftlingsjargon war es auch eine Herausforderung, die medizinischen Termini korrekt zu übersetzen, mit denen Senzow seinen körperlichen Zustand beschreibt. Neben zahlreichen Fachwörterbüchern konsultierte ich auch den Internisten Dr. Alexis Wolf, der mir zahlreiche Begriffe erläuterte und die korrekten Bezeichnungen nannte.
Übersetzungsprozess (5) – Die Systeme übersetzen
In den von mir in Erwägung gezogenen übersetzerischen Lösungen spiegelten sich die unterschiedlichen Etappen meines Verstehens-, Recherche-, Konsultations- und Übertragungsprozesses. Ich versuchte zunächst, Analogien im deutschen Strafvollzugssystem zu finden und die Entsprechungen in der Übersetzung zu nutzen, je mehr ich mich jedoch in die Spezifik des russischen Strafvollzugs- und parallel dazu existierenden Kastensystems einlas, umso mehr musste ich feststellen, dass Analogiebildungen nicht zum Erfolg führen würden. Als ich das von einem festen Regelwerk bestimmte Kastensystem verstanden hatte, trat für mich die Fremdheit der Begriffe, Hierarchien und Machtkonstellationen in den Vordergrund, und ich setzte in meiner nächsten Übersetzungsversion Entlehnungen ein, um dem Leser anzuzeigen, dass er es hier mit Realien zu tun hat, für die es im Deutschen keine Entsprechung gibt. Bei der weiteren Überarbeitung fiel mir zum einen auf, dass es nun Textpassagen gab, in denen es von Entlehnungen nur so wimmelte, womit die akute Gefahr bestand, dass die deutschsprachige Leserin den roten Faden verlieren und in einem Meer unverständlicher Wörter versinken würde. Zum anderen war mit den Entlehnungen ein entscheidendes Übersetzungsproblem nicht gelöst: Viele der von den russischen Häftlingen verwendeten Jargonausdrücke für Angehörige verschiedener Kasten haben einen starken Bezug zum Körper und den Empfindungen von Körperlichkeit: Aussehen und Geruch spielen eine große Rolle, ebenso der metaphorische Bezug zur Tierwelt. Das lässt sich im Kontext der räumlichen Enge des Lagers sehr gut nachvollziehen: Der Mensch wird vordergründig in seiner körperlichen Verfasstheit wahrgenommen. Damit diese körperliche Dimension in der Übersetzung nicht abhanden kam, entschied ich mich schließlich dazu, diese Jargonausdrücke als Lehnübersetzung in den Text einzufügen, d.h. ich übersetzte den Ausdruck ins Deutsche und behielt die lexikalische Bedeutung des Originalausdrucks bei. So wird der mit der Verwaltung kollaborierende Kosel zum Bock, der Petuch, der Häftling in der untersten Kaste zum Hahn, und wer aus eigenem Verschulden in die unterste Klasse absteigt, sackt ab.
Bei Bezeichnungen für Mitarbeiter des Strafvollzugssystems habe ich mich für eine Kombination aus Entlehnungen und Analogiebildungen. So werden etwa für „Vollzugsbeamter“ die Bezeichnungen „Natschalnik“, „Vollzugsdienstler“, „Wachmann“, „Schließer“ und „Milizionär“ verwendet. Für den Mitarbeiter im Sicherheitsdienst kommen die Ausdrücke „Operatiwnik“, „Sicherheitsdienstler“, „Mann vom Sicherheitsdienst“ zum Einsatz. Auf diese Weise versuche ich in der Übersetzung, sowohl das fremde Kolorit zu erhalten als auch zu vermitteln, dass die Begriffe bestimmte Bedeutungselemente enthalten, die auch im deutschen Strafvollzug vorhanden sind. Auf Bezeichnungen aus dem DDR-Knast habe ich bewusst verzichtet, da zum einen dieses Vokabular nur einem kleinen Teil der Leserschaft bekannt sein dürfte und ich zum anderen keine Konnotationen in den Text hineintragen wollte, die auf andere historische und gesellschaftliche Zusammenhänge referieren.
Bei der Übersetzung des Häftlingsjargons habe ich zwei Fälle unterschieden: Wurden Gegebenheiten, Vorkommnisse oder Vorfälle beschrieben, die auch aus dem deutschen Gefängnisalltag bekannt sind, wie etwa lebenslänglich verurteilt zu werden, einen Mithäftling zu beklauen, eine Krankheit zu simulieren oder Informationen an die Vollzugsbeamten zu hinterbringen, habe ich den im deutschen Knastjargon gebräuchlichen Ausdruck verwendet. Handelte es sich jedoch um Vorgänge, die mit dem Kastensystem und den Repressionsmechanismen verbunden sind, habe ich eigene Ausdrücke entwickelt, die nicht aus dem deutschen Knastjargon stammen und geeignet sind, sowohl den begrifflichen als auch den emotionalen Gehalt des Ausdrucks zu transportieren, z.B. Schikanierzelle für press-chata, eine Einzelzelle, in der Gefangene Repressionsmaßnahmen ausgesetzt sind, oder abschmieren für sapoloskatsja, durch den unachtsamen Gebrauch von Geschirr eines petuch in die Kaste der petuchi absteigen.
Alle Jargonismen und Begriffe aus dem Strafvollzugssystem, die Senzow in seinem Text durch Anführungszeichen markiert hat, stehen in der Übersetzung kursiviert.
Übersetzungsprozess (6) – Tagebuchtext
Senzow schreibt sein Tagebuch in einem Haftalltag, der geprägt ist von Isolation und Eintönigkeit. Beschreibende, reflektierende und quasi-dialogische Passagen wechseln ständig. Da sich im Lageralltag so wenig ereignet, nehmen Kommentare und Reflexionen einen breiten Raum ein und fließen direkt in die Beschreibung der Ereignisse ein. Dieses ständige Verschränken der Modi ist für die Wiedergabe der Erzählperspektive, des Tempus und der indirekten Rede eine große Herausforderung.
Tempus
An dem folgenden Tagebucheintrag möchte ich die Schwierigkeiten bei der Übertragung der Tempora erläutern:
„In der Nacht hatte ich zwei Träume. Im ersten war ich auf einer Beerdigung und legte meinen Kranz in einen riesigen Haufen Blumen, der vor der Witwe lag, sie sah aus wie eine Nachbarin aus der Straße in meinem Dorf. Ich konnte meinen Kranz nicht aufs Grab legen, dort türmte sich bereits ein ganzer Berg aus Mitgefühl in Form von Blumengebinden. Gebeugt und allein stand die Witwe da und weinte leise. Ich überlegte lange, ob es angebracht sei, ihr Geld zu geben, ich hatte sogar schon ein paar kleinere Scheine hervorgekramt, da riss der Traum ab. Woher er kam, ist klar. Gestern haben sie in den Nachrichten einen Beitrag über den Abschied von Goworuchin gebracht. Der zweite Traum war übers Gefängnis, das kommt oft vor. Ich bin in einer großen Zelle, in der viele Leute sitzen. Der Wärter kommt und holt mich mit meinen Sachen. Ich packe schnell zusammen und weiß noch nicht, was mich erwartet: Umzug in eine andere Zelle, Verlegung oder die ersehnte Freilassung. Ich habe nicht viele Sachen. Je länger du sitzt, umso weniger Dinge brauchst du und umso weniger Zeug schleppst du mit, wenn du verlegt wirst. Meine wichtigste Fracht sind Briefe, Bücher und der Stapel Notizbücher, das Wertvollste, was ich habe. Von der zweiten – halbleeren – Tasche, in der meine auf ein Minimum reduzierten Häftlingshabseligkeiten liegen, könnte ich mich jeden Augenblick trennen. Habe ich aber nicht gemacht, weil mir der Wärter nicht gesagt hat, wo’s hingeht. Meistens wissen die das auch gar nicht, die Aufgabe des Wärters ist es, mich an der Schleuse abzuliefern, wo mich andere Mitarbeiter abholen. Ich habe trotzdem ein paar Sachen, die ich nicht mehr brauche, an andere Häftlinge verteilt. Das ist unter den Gefangenen nämlich so üblich: Du gehst unbeschwert, ganz ohne Besitz, du verteilst die Sachen und lässt sie da, wo sie nötiger gebraucht werden, denn für dich beginnt ja ein neues Leben. Aber da ich nicht wusste, wo’s hinging, habe ich nicht alles weggegeben.
Ich bin in meiner Zelle aufgewacht, als die Schwester mit der Morgenration meines chemischen Milchmix kam. Natürlich wollte mich niemand freilassen, ja, es forderte mich noch nicht einmal jemand auf, meine Sachen zu packen. Der Traum kam von der Sendung über die verirrten Menschenrechtsbeauftragten gestern. Aber enttäuscht bin ich nicht. Ich sitze schon zu lange im Gefängnis, um mir diesen Traum zu Herzen nehmen, und es ist nicht der erste mit einem solchen Inhalt.
Der Regen in der Nacht hat schon wieder aufgehört, auch Blitz und Donner waren nur eine einmalige Erscheinung, der Strom ist wieder da.“
Während das Russische in der Verwendung der Tempora unempfindlich ist – Tempora können innerhalb eines Satzes wechseln, ohne dass dies als stilistischer Bruch empfunden würde – strebt das Deutsche nach einer Stringenz in der Tempusverwendung: Entweder werden in einer Passage erzählende (Präteritum, Plusquamperfekt, Konjunktiv) oder kommentierende Tempora (Präsens, Perfekt, Futur I) verwendet, um die erwünschte Rezeptionshaltung des Lesers zu signalisieren. In Senzows Darstellung fließen Erzählen und Kommentieren ineinander, er beschreibt zu Anfang einen Traum zu einer abstrakten Situation, deren Teil er zwar ist, die aber keinen konkreten Bezug zu seiner Haft hat. In dieser Passage habe ich mich für das Präteritum entschieden, um die Distanz zum Geträumten zu modellieren. In der Darstellung des zweiten Traums fließen die geträumte Handlung und der erlebte Knastalltag ineinander. Um dieses Ineinanderfließen erfahrbar zu machen, habe ich die Darstellung im Präsens abgefasst. So bleibt die Vagheit von Geträumtem und Kommentiertem erhalten. Die abschließende Beschreibung der Tagesereignisse und Kommentare habe ich im Präsens und Perfekt verfasst, um die Komponente des Kommentars zu betonen.
Partikeln
Eine weitere Möglichkeit, die Verflechtung von Erlebtem und Kommentiertem sichtbar zu machen, ist der Einsatz von Partikeln. Im folgenden Beispiel verweisen die Partikel auf die Stellen, in denen Senzow das Geschehen kommentiert:
„Nach der Mittagspause haben sich wieder die Natschalniki die Klinke in die Hand gegeben. Als erstes kam der Staatsanwalt. Er wollte wissen, wie mein Befinden sei und ob ich mich noch selbständig bewege. Ein junger, drahtiger Typ. Wenn ich das nächste Mal wieder am Tropf hänge und so leise antworte, wird er mich wahrscheinlich mit dem Finger antippen, um zu überprüfen, ob ich schon kalt bin, damit er das entsprechend in seinem Bericht vermerken kann. Dann ist er gegangen. Danach kam ein Natschalnik aus dem Lager und wollte wissen, ob ich bereit bin, mit der Menschenrechtsbeauftragten per Video zu sprechen, mit der, die hier vor zwei Wochen angerauscht kam. Ich erwiderte, dass ich mit ihr sprechen würde, vielleicht sagt sie ja irgendwas Neues, glaube ich aber kaum. Sieht eher nach Tamtam wegen meines Geburtstags aus. Dann kam der Chef vom Sicherheitsdienst, ein lustiger und – passend zu seinen Dienstaufgaben – beflissener „Gevatter“. Er hat mir gratuliert, sich nach dem Stand der Dinge und meinem Befinden erkundigt und höflich angedeutet, ich solle mir das mit der Menschenrechtsbeauftragten doch noch mal überlegen. Die Leute sind so eingeschüchtert, dass sie vor allen meinen Kontakten Angst haben, sogar zu Staatsdienern, besonders von außen, aus Moskau. Wenn es so ist, werde ich die Gelegenheit erst recht wahrnehmen. Auf meine Frage, wovor sie eigentlich Angst hätten, lächelte der Operatiwnik wieder, wand sich noch ein bisschen und ging schließlich.“
Unpersönliche Ausdrucksweise
In vielen Tagebucheinträgen stellt Senzow verallgemeinernde Überlegungen zum Lagerleben an. Er beschreibt die Erfahrungen aus seiner persönlichen Perspektive, macht aber zugleich deutlich, dass diese Erfahrungen von anderen Häftlingen geteilt werden.
Ich habe mich in der Übersetzung an mehreren Stellen entschieden, die Du-Form, in der Senzow schreibt, beizubehalten. Sie lässt als Lesart sowohl die persönliche als auch die verallgemeinernde Perspektive zu:
„Eines der Hauptprobleme im Gefängnis ist für mich und viele andere, dass es keine Gelegenheit gibt, sich mal zurückzuziehen, allein zu sein. Dass du die ganze Zeit unter Milizkontrolle und Videoüberwachung stehst, ist halb so schlimm. Aber du hast rund um die Uhr, jeden Tag, während der ganzen Haftzeit pausenlos nicht gerade angenehme Leute um dich herum, in deiner Zelle oder Baracke. Immer in der Gruppe, immer ist jemand da. Gemeinsam schlafen, essen, waschen, zur Toilette und so weiter. Reden. Mit den meisten hast du außer dem Knast keine gemeinsamen Themen, deswegen dreht sich’s meistens darum. Aber du gewöhnst dich dran. Sowohl an die körperliche Nähe als auch an die psychische. Und plötzlich brichst du aus diesem Kreis aus – kommst in eine Einzelzelle, in eine Isolierzelle oder, so wie ich jetzt, in ein Einzelzimmer im Revier – und du merkst, wie gut das tut, dass du Raum für dich hast, dass du allein bist und keinen um dich herum hast außer einer lästigen, ständig entwischenden und schier unsterblichen Fliege. An diesen komfortablen Zustand gewöhnst du dich schnell. Mit Schaudern denke ich daran, dass ich im Fall der schändlichen Aufgabe meiner Position in die überfüllte Baracke zurückmuss. Das ist ein weiterer motivierender Faktor.“
„Alle Tage haben einen derart monotonen Rhythmus, dass du sie gar nicht unterscheiden kannst. Jede Handlung, ja jede einzelne Geste – wann du aufstehst oder zu Bett gehst, dich aus- oder anziehst, deine Arznei nimmst, den Becher hältst, das Thermometer anlegst, den Arm unter die Infusion schiebst, zur Toilette gehst, dich wäschst, nach der Zahnbürste greifst, das Handtuch hinhängst und so weiter – ist so eingespielt, gleichförmig und öde, dass du dich unweigerlich wie ein Roboter fühlst, wie ein Automat, der nach einem vormals installierten Programm funktioniert. Der nicht lebt, sondern nur funktioniert, der seine Ziele weder kennt noch versteht, genauso wenig wie denjenigen, der ihn eingerichtet hat und irgendwann abstellen wird. Eine emotionale Verheerung.“
Kürzungen
Die Vereinbarung mit dem Verlag sah vor, dass Tagebucheinträge und Erzählungen im Umfang von insgesamt 450 Seiten erscheinen sollten. Die Originaltexte umfassten insgesamt 650 Seiten, es mussten also 200 Seiten gekürzt werden. Die Erzählungen wurden nach der Bandbreite der porträtierten Häftlinge ausgewählt, es sollte ein möglichst vielgestaltiges Bild von den im Lager einsitzenden Gefangenen entstehen, das unterschiedliche Lebensläufe, Herkünfte und persönliche Verfasstheiten zeigt. Mit diesen Kriterien ließ sich eine gute Auswahl treffen. Schwieriger gestalteten sich die Entscheidungen bei den Tagebucheinträgen. Das Tagebuch vermittelt in seiner Gesamtheit einen Eindruck vom monotonen Alltag, der Willkür der Justizbeamten und des ungewissen Endes des Hungerstreiks. Die Wirkung entsteht durch die fortlaufenden Eintragungen und Senzows kontinuierliches Schreiben, Wiederholungen sind dabei kein Ausdruck von Redundanz, sie vertiefen vielmehr den Eindruck von Ungewissheit, gespannter Erwartung und Ohnmacht. Deswegen wurden sich wiederholende Beschreibungen und Kommentare, etwa zum Wetter, zum Erhalt von Post, zum körperlichen Befinden und zum Sinnieren über die Sinnhaftigkeit des Hungerstreiks nicht gekürzt.
Überlegungen zu Kürzungen betrafen Senzows Ausführungen zur Fußballweltmeisterschaft. In teilweise sehr ausführlichen Passagen beschreibt er den Verlauf der Spiele und kommentiert die Qualität der Partien. Einerseits sind diese Einlassungen redundant, da man zu allen WM-Spielen Berichte und Kommentare in den verschiedenen Medien abrufen kann. Andererseits hat Senzow den Hungerstreik bewusst mit der Fußballweltmeisterschaft in Russland verknüpft, um internationale Aufmerksamkeit zu erzielen. Deswegen wurden diese Passagen nur dann gekürzt, wenn die Spielbeschreibungen überaus ausführlich waren.
Die Eintönigkeit des Alltags brachte es mit sich, dass Senzow manche Vorgänge und Zustände immer wieder beobachtet und dazu Notizen macht, z.B. wie die Häftlinge durch die zentrale Allee marschieren, Schnee fegen und Müll sammeln, wie die Toilettenspülung tropft und die Belegschaft im Krankentrakt wechselt. Grundsätzlich wurden diese Einträge beibehalten, auch wenn sie wiederholt vorkamen. Enthielten sie jedoch identische Beschreibungen, wurden diese gestrichen.
Außerdem wurden einige Passagen gekürzt, in denen Senzow tagesaktuelle Ereignisse kommentiert, die in ihrer Zeitbezogenheit und Detailhaftigkeit für den Leser außerhalb des Kommunikationsraums der russischen Medien schwer nachzuvollziehen und für den Gesamteindruck weniger relevant sind.
Senzow thematisiert mehrfach die Versuche der Anstaltsleitung, ihm einen neuen Anwalt zur Seite zu stellen. Er lehnt diese Angebote ab, weil er einerseits mit seinem Anwalt zufrieden ist und andererseits der Loyalität der vorgeschlagenen Personen nicht vertraut. Darüber hinaus wird ihm auch eine psychologische Begleitung angetragen. Den Gesprächen mit den Psychologinnen kann er nichts abgewinnen, diese für ihn unbefriedigenden Treffen schildet er häufig und ausführlich. Auch hier finden sich Passagen, die seinen Unmut in der gleichen Weise beschreiben und die deswegen gekürzt wurden.
Kürzungen wurden demnach überall dort vorgenommen, wo Wiederholungen nicht den Gesamteindruck des Textes verstärken, sondern identische Inhalte mehrfach wiedergeben, sowie bei tagesaktuellen Kommentaren mit geringer Relevanz für die Gesamtsituation.
Die Sprache der Publikation
Senzows Tagebuch und Erzählungen erschienen im russischen Original und in ukrainischer Übersetzung 2020 im Verlag Wydawnyztwo Staroho Lewa in Lwiw. Ich habe meine Übersetzung aus dem Russischen angefertigt. Seit der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges in der Ostukraine im Jahr 2014 ist es für russischsprachige Autoren in der Ukraine schwer, Verlage zu finden, die ihre Werke publizieren. Die zweisprachige Veröffentlichung – wobei die ukrainische Übersetzung am Anfang steht – ist ein Kompromiss.
Zu guter Letzt
Die Arbeit an der Übersetzung war nicht nur sprachlich, sondern auch mental eine große Herausforderung. Über viele Monate hinweg war ich täglich mit den Zuständen in den russländischen Lagern und den Auswirkungen der demokratie- und freiheitsfeindlichen russländischen Politik konfrontiert. Mit jedem neuen Eintrag war ich wieder fassungslos über die Grausamkeit und Willkür des russländischen Strafverfolgungssystems und der Menschen, die dieses System aufrechterhalten. Und ich vergegenwärtigte mir, dass es sich nicht um einen Text aus den 1950er Jahren handelte, sondern dass Senzow heutige Zustände beschreibt und Russland nicht das einzige Land ist, aus dem es Berichte wie diese gibt. Mikola Dziadok schildert in „Die Farben einer parallelen Welt“ ähnliche Erfahrungen in Belarus, Stanislaw Assejew in „Der helle Weg“ seine Haft in einem Gefängnis in Donezk …