Bilder eines Romans.
Journal zur Übersetzung des Romans Der Perser von Alexander Ilitschewski
Natürlich hat ein Roman keine Bebilderung nötig. Entscheidend sind die Bilder, die der Text im Kopf des Lesers freisetzt. Selbst wenn die Figuren ihre eigenen Bilder im Kopf oder in der Hand haben, die eine Geschichte vorantreiben, sind sie nur selten – wie zum berühmten Beispiel in W. G. Sebalds Austerlitz – abgedruckt.
In Alexander Ilitschewskis weltumspannendem Roman Der Perser sind solche Bildverweise auffallend häufig. Nur folgerichtig, wenn man bedenkt, wie entschieden darin ein »Geist des Sehens« proklamiert, ja, zelebriert wird. Das Auge sei »ein vorgeschobenes, an die frische Luft verbrachtes Stück Hirn«, so der junge Geologe Ilja Dubnow, der ein obsessiver Hobbyfotograf ist. Sehen als ein Denkvorgang, das Auge denkt die Landschaft … Vorhandene Bilder werden mitgedacht.
Hieraus ergibt sich einiges. Für den Übersetzer zum Beispiel, dass die Recherche mehr als sonst eine Bildersuche, die Textgestaltung auch Bildsynchronisation, Bildbefragung war. Das Arbeitsjournal geriet zum Fotoalbum.
Jetzt, nach getaner Arbeit, kam die Idee auf, dem potentiellen Leser einen Auszug aus diesem Orbis pictus an die Hand zu geben. Nicht etwa um den Roman damit zu erzählen, geschweige zu erklären – doch es könnte ein Zugang sein, ein Ableuchten seiner so weitläufigen Horizonte. Und ein paar Fußnoten waren unvermeidlich: Der Übersetzer weiß am Ende seiner Reise einfach zu viel, auch sein Auge hat sich etwas gedacht, und außerdem weckt beinahe jedes dieser Bilder neue Romane im Kopf, ein paar liegen näher als andere.
Amelia Earhart und Polarflieger Lewanewski standen auf der Liste ihrer Heiligen obenan … Das Foto der Amelia, worauf sie lächelnd, mit baumelnden Füßen auf dem Rand des Cockpits saß, hing schön gerahmt über der Karte mit den großen Transatlantikflügen. (7)
So fängt der Roman an. Kapitel 1 handelt von einer Frau, die in den übrigen siebenunddreißig praktisch nicht mehr auftaucht. (Nicht das einzige Statik-Experiment in der gewagten Konstruktion dieses Buches.) Von der Earhart, zu ihrer Zeit ein Star, gibt es etliche Bilder vergleichbarer Art: Dieses hier, auf dem Tragschrauber, könnte es gewesen sein. Natürlich lässt sich der Satz mit dem Bild vor Augen sicherer, »couragierter« übersetzen.
»Na, Faust? Noch nichts zu sehen?«, so fragte ein hockender junger Mann, braungebrannt und muskulös, in staubigen Shorts und verblichenem T-Shirt, mit kupfernem Ohrring und der Tätowierung E=mc² am linken Unterarm, in der Empfangshalle des Flughafens Köln/Bonn. (26)
Die Frage geht an einen Hund mit urdeutschem Namen, aber der russische Leser hört in ihr den berühmten Anfang des Romans Väter und Söhne von Iwan Turgenjew mit, schließt den hier zu erwartenden Helden also mit Jewgeni Basarow kurz, der – neben Dostojewskis Raskolnikow – eindrücklichsten Studentenfigur der klassischen russischen Literatur. Beide übrigens hat man oft und gern durch Nikolai Jaroschenkos Porträt Der Student von 1881 zu visualisieren versucht – das der deutsche Leser heute wiederum für ein Konterfei des Kriminalkommissars Fandorin bei B. Akunin hält, woran der Aufbau-Verlag Schuld hat.
Der Wegweiser durch Moskauer Fabriken führte mich zum ehemaligen Rüstungsbetrieb Michelson, an dessen Tor einst Fanny Kaplan danebenschoss. (31)
Nachgestelltes Polizeifoto vom Lenin-Attentat, 1918. – »Inszenierung« steht handschriftlich am oberen Bildrand. Die Kaplan stand hierfür offenbar nicht mehr zur Verfügung, da Ober-Volkskommissar Swerdlow sie schon hatte erschießen lassen. Manche behaupten, das ganze Attentat sei eine Inszenierung gewesen – so zum Beispiel Krimi-Autorin Polina Daschkowa in ihrem noch unübersetzten Mysterium Tremendum.
Ich fand mich in der ersten Szene der Filmkomödie Pokrowskie Worota wieder, wo der namenlose Motorradfahrer über den Iwanhügel düst, vorbei am Nonnenkloster, das von Jelena Glinskaja aus Anlass der Geburt ihres Sohnes, späterhin bekannt als Iwan der Schreckliche, gegründet ward und in dem einst die falsche Zarentochter Tarakanowa wie auch die Serienmörderin Saltytschicha gefangen saßen. (31)
Die angesprochene Szene aus Michail Kosakows zweiteiligem TV-»Straßenfeger« (1982 gedreht, jedoch – bewährtes Konzept – in den 1950er spielend, als die Zeiten besser, weil die Zuschauer jung waren) ist an die 40 Sekunden lang, das Krad fährt in der Zeit geschätzte 800 Meter, womit die geballte Historizität des Hintergrunds schon kein Zufall mehr ist, sondern die normale Kreuzungsdichte von Sujets in der Geschichte des bald tausendjährigen Leviathans Moskau … Im zweiten Kapitel also Muscoviana satt (der Autor erfindet hierzu eine ganze Buchreihe), bevor wir die Stadt hinter uns lassen. – Zurück bleibt, ließe sich sagen, Koroljow, der Held aus Ilitschewskis vorausgehenden Roman (Matisse, Matthes & Seitz, 2015), der Moskau nicht als Überflieger betrachtet, sondern »na dne«, an der Seite derer, die ganz unten sind, darin verfangen ist.
Moskaus Löwen, einschließlich die an Paschkows Haus, haben auffällig kluge Gesichter - ob die Zivilisation wirklich so viel gewonnen hat, den Weg der Primaten zu gehen, anstatt vierzig Millionen Jahre zuvor auf idealkommunistischer Stufe zu verharren? (32)
Das Löwenrudel – ewige Rang- und Revierkämpfe mit viel Pinkelei und Gebrüll – eine urkommunistische Zelle? Der Leu und ich, wir runzeln die Stirn. Aber auch und gerade paradoxes Denken, intelligenter Blödsinn brauchen die schlüssige Form, um zu wirken. Dass sich in Paschkows Haus die Staatsbibliothek befindet, setzt der Provokation die Krone auf. Zu einer diesbezüglichen Anmerkung im Buch kann ich mich aber nicht entschließen.
Die übernächste Nacht verbrachte ich schon in Domodedowo, den Kopf auf meiner Jermak-Kraxe; dann noch eine Woche, solange ich auf mein Visum wartete, beim Witwer Tschernikin im Moskauer Südosten, wo ich tagelang mit drei kleinen Orgelpfeifen, seinen Enkeln, auf der Couch saß und ihnen aus der Fröhlichen Familie und den Wundersamen Abenteuern von Karik und Valja vorlas. (105)
Nossows harmlose Schulgeschichten (die Schuhschachtel, um die sich alles drängt, ist ein Inkubator für Hühnerküken; nichts Ärgeres wird ausgebrütet) durften auch die Kinder in der DDR lesen; dass die Verlage hingegen von den wundersamen Büchern des Letten Jan Larri die Finger ließen, versteht, wer die bizarre Geschichte seines Lebens kennt. Im Jahr 1940 schrieb er – als Kinderbuchautor etabliert – an einer phantastischen Satire (Besuch vom Mars, wo schon seit 117 Jahren ein Sowjetreich existiert, man geizt nicht mit guten Ratschlägen) – und schickte sie anonym, Kapitel für Kapitel, an Stalin, »meinen einzigen Leser«, in der naiven Hoffnung, seine Gunst zu erlangen. Nach dem siebten Kapitel holte ihn der NKWD. Zehn Jahre Lager und fünf Jahre Verbannung waren die Folge.
Schließlich reichte Kerry ein Foto an mich weiter … Mein erster Gedanke: Das wird schwierig, den Hügel über ihr zu schließen, es fehlt noch ein ganzer Meter. – Im Wipfel des Ölbaums über mir gurrte eine Turteltaube. (148)
Das achte Kapitel spielt im UseNet und in Israel, bei Jerusalem und nahe der libanesischen Grenze. Mit Ilja schauen ein ausgedienter US-Marine und eine BBC-Korrespondentin auf dieses Foto, das das Auge zu begreifen sich weigert.
Ich steige aus und werfe mich der Stadt an den Hals. Das Kap Bayıl öffnet sich dem Blick wie ein Amphitheater: die sturmverwitterten Dächer der kleinen Häuser, Fenster wie tiefliegende Augäpfel voll staubigem Licht, die aufs weite Meer hinausschauen und auf die Straße, die sich in Serpentinen hinabschlängelt, dahin, wo die Ölfelder anfangen, das Gitterwerk ihrer Türme wie Spitzengewebe. (173f)
Back to the roots. Zurück in die Kindheit im sowjetischen Aserbaidschan. Baku!
Auch Alexander Ilitschewski ist in dieser Gegend aufgewachsen.
Damals hieß das Kap russisch Bailowo, und so heißt es natürlich im ganzen Roman, gleich zu welcher Zeit er gerade spielt. Ein kardinales Problem der Übersetzung: Alle aserbaidschanischen Namen stoisch in der russischen Form nebst der fürs Russische gängige Duden-Transkription zu belassen käme mir – zumal angesichts des verhandelten Gegenstands – reichlich »postkolonialistisch« vor. Wir haben uns für das seit 1991 wieder gültige lateinische Alphabet des Aserbaidschanischen entschieden, das leider ein paar harte Brocken, sprich: fürs Auge des deutschen Lesers ungefällige Zeichen birgt. Möge er daran keinen Anstoß und unseren kleinen Aussprache-Blitzkurs am Ende des Buches zur Kenntnis nehmen ...
Das Buch war mir zufällig in die Hände gefallen, eine alte Frau, die abends auf der Insel Artjom, an der Pier der Förderbrücke Nord, Sonnenblumenkerne verkaufte, rollte aus den Buchseiten ihre Tütchen. Ich weiß bis heute nicht, wer es geschrieben hat, alle guten Bücher der Kindheit hatten keinen Verfasser. (46)
So viel Unschuld wie seine Helden kann der Autor sich kaum leisten und der Übersetzer erst recht nicht: Jenes »zufällige« Buch ohne Titelblatt, das den Roman im entscheidenden Moment wie eine kleine, straffe Triebfeder in Bewegung setzt, weil es Ilja und Haşem, die Freunde von einst, im großen Bogen wieder zueinanderbringt, heißt Kees, der Tulpenadmiral, erschien 1975 und ist, als erster einer ganzen Reihe historischer Jugendromane, von Konstantin Sergijenko (1940-1996) verfasst; A.I. ist nicht der Einzige, der es noch im Herzen trägt. In andere Sprachen hat es anscheinend nie gefunden; im Westen wollte man sich Geschichten um den Befreiungskampf der Geusen von den Spaniern bestimmt nicht von einem Autor aus der Sowjetunion erzählen lassen, auch wenn er polyglott und Henry-Miller-Fan und -Übersetzer war.
Ganz wie unsere Freunde aus dem mittelalterlichen Holland suchten wir unser Brot mit Straßentheater zu verdienen. Karakol alias Haşem tanzte mit Pompilius und Pierre, dargestellt von Dschulbars und Altai, zwei streunenden Kötern, denen man Ohren und Schwanz kupiert hatte, beides empfindliche Stellen und für einen Kampfhund darum entbehrlich. (57)
Dschulbars! So hieß der berühmteste Minensuchhund der Roten Armee während des Großen Vaterländischen Krieges. 7468 Minen soll er aufgespürt haben und bekam dafür die Medaille Für Verdienste im Kampf zugesprochen. Und sein Führer die Sondererlaubnis, während der Großen Siegesparade am 24. Juli 1945 am Roten Platz auf den Stechschritt verzichten zu dürfen, da er den verwundeten Dschulbars auf Armen trug – angeblich gab Stalin seinen Uniformrock her, damit er bequem lag.
Der Heimweg führte an älteren, ausgebeuteten Plätzen vorbei, Gruppen nickender Schwengelpumpen, die im Profil aussahen wie überdimensionale Langohrschakale. (214)
Bei Baku, 2012. Der Fotobeweis ist von Ilja Warlamow (varlamov.ru): Moskauer Jungunternehmer, Fahrrad-Aktivist, Investigativ-Blogger, einer von den aktuell immer noch unbeirrbaren kleinen Motoren der Zivilgesellschaft.
Der Mann der Großtante meiner Mutter fand sich 1954 in einer Säule aus brennendem Öl wieder. Monströs verstümmelt, ohne Gesicht, sahen wir ihn mitunter in der Altstadt auf uns zukommen …. Die wenigen unverhüllten Hautpartien wiesen grässliche Furchen und Narben auf, nur der Nacken unter der Hutschlappe war mit rosiger Babyhaut überzogen. Onkel Mischa war wie der Unsichtbare aus dem berühmten Horrorfilm, wir ängstigten uns zu Tode vor ihm. (315)
The Invisible Man von James Whale aus dem Jahr 1933 nach dem gleichnamigen Roman von H. G. Wells kam schon 1935 in die sowjetischen Kinos – als erster synchronisierter Langspielfilm überhaupt. Derweil saß ein anderer Unsichtbarer im Kreml und lehrte sein Volk das Gruseln.
Der Passagierdampfer Kirgistan, ein gespornter weißer Koloss mit mehreren Decks, mehreren Reihen Bullaugen übereinander zog an der Mole vorüber. Dieses festliche Weiß vor der leeren Bucht, seine lichte Geometrie, alles lag offen, und ich konnte die Augen nicht abwenden. (189)
Kunstpostkarte Anfang 1960er Jahre aus der Sammlung Yan Pichinevskij. In der Aquarellierung scheint der Schmelz der Kindheitserinnerung bestens aufgehoben.
Vor mir auf einem Tellerchen lag ein Éclair, daneben stand eine Flasche Baikal, der dunkle Schaum hinterließ im Mund den Geschmack von Ewigkeit. (190)
… jedenfalls bis die Geschmacksknospen anspruchsvoller wurden. (Vielleicht auch sie: zu denken anfingen?) Pubertät + Perestroika = Pepsi! Worüber – auch über das Ende der Ewigkeit – man im Eingangskapitel von Viktor Pelewins Generation P nachlesen kann.
Überhaupt ließen wir kein automobiles Fortbewegungsmittel aus – und sei es der »Alabaş«, berühmt-berüchtigter Schichtbus der Ölarbeiter, auch wenn einem darin mitunter schlecht wurde (ohne eine vorsorglich gefaltete Zeitungstüte stieg man nicht ein). (590)
Alabaş?? Nie gehört. Auf Türkisch muss es, glaubt man Bilder-Google, mit Kohlrabi zu tun haben …
Dann aber doch noch ein Bildfund, beinahe schon archäologisch zu nennen, aus einem der vielen für die Recherche unschätzbaren Nostalgia-Boards, die wie Korallenbänke in den Tiefen des Netzes liegen. – Erinnert von ferne an die IFA H6-Busse auf den Landstraßen meiner Kindheit, die auch auf Lkw-Basis und mit Anhänger fuhren, allerdings deutlich knuffiger und weniger hybrid aussahen.
Le Corbusiers konstruktivistischer Traum, Wirtschaftlichkeit, Funktionalität und Schönheit zu verbinden, fand in den Ölfeldern des Abşeron seine triumphale Verkörperung. ... Eine Großküche mit riesigen Panoramafenstern und Galerie, ein Kulturpalast, der den Parthenon in den Schatten stellte, eine Bibliothek mit fußballfeldgroßem Lesesaal. (326)
Kulturpalast Şaumyan/Baku (Gebrüder Wesnin), 1929-32. Farbaufnahme: Richard Pare, 1999. Quelle: BOMB
Dies war eines der bestgehüteten Geheimnisse unserer Kindheit. ... Ein Junge und ein Mädchen beugten sich über die Brüstung, dazu eine Katze, die über ihre Vorderpfoten hinweg nach unten spähte. Von Patina überzogen, erschienen die Drei nichtsdestoweniger überaus lebendig. Wie oft hatte ich in meinem früheren Leben vor diesem Haus gestanden und zu den Figürchen hinaufgeschaut, zwischendurch den Blick abgewandt und den Kopf flugs wieder in den Nacken gelegt, um den Moment abzupassen, da sie sich durch ein Augenzwinkern oder eine rasche Bewegung verrieten ... (364)
Dieses Bild vorzuzeigen habe ich gezögert: Was soll es bringen, magische Kindheitsperspektiven – zumal wenn schon literarisiert – mittels Beweisfoto »erden« zu wollen? Und doch gehört es in die Serie von Spiegelbildern zum Roman, weil hier ein Moskauer Blogger, Ilitschewski-Leser, seinen zufällig durch Baku reisenden Sohn gezielt auf diese Verifikation angesetzt hat – mit Erfolg, wie man sieht. Und das architektonische Detail ist auch bei näherem Hinsehen noch so doppelbödig und irritierend, dass das Schweben und Scheinen nicht aufhört.
… zwischendurch noch in den Schallplattenladen im Haus mit den Chimären am Jungfrauenturm, angesichts der DDR-Jazzkollektion (AMIGA) einen Seufzer nicht unterdrücken können (Adderley und Coltrane auf einer Scheibe, wie Kopf und Zahl; bei Coltrane eine Erektion, bei Adderley nicht) (372)
Diesmal war die Recherche einfach – ich zog die Platte aus meinem Regal. Das schöne Bild von Kopf und Zahl ist etwas schief, denn die beiden spielen gemeinsam, Adderley aus dem linken, Coltrane aus dem rechten Kanal, dazu die Rhythm Section des Miles-Davis-Quartetts. Nebbich! – Unabsehbar in ihrem Verlauf die kriechenden kulturellen Induktionsströme im sozialistischen Wirtschaftsgebiet. Coltrane auf AMIGA/DDR hat in Baku für Erektionen gesorgt; meine erste Sonic-Youth-Platte – Daydream Nation – war eine sowjetische Pressung (Нация мечтателей) mit obskurem Label; hunderttausend Russen hatten ihren Mandelstam nur in der zweisprachigen Hufeisenfinder-Ausgabe aus dem Leipziger Reclam-Verlag im Schrank, denn die Auflage des einzigen sowjetischen Bandes betrug landesweit zehntausend Exemplare usw. usf.
Die orthopädischen Handreichungen des abgestürzten und wiedergenesenen Trapezkünstlers Valentin Dikul, die in der Zeitschrift Wissenschaft und Leben veröffentlicht worden waren, schrieb Haşem säuberlich ab und beherzigte sie. (318)
Mit fünfzehn knallte Dikul aus dreizehn Metern Höhe in die Zirkusmanege von Kaunas – und nahm seine »Reha«, wie man heute sagen würde, mit nüchternem ingenieurtechnischen Verstand selbst in Angriff.
Der tragische Fall gebar einen Helden, wie er im Buche stand. Heroismus und Utilitarismus (практичность) waren im idealen Sowjetmenschen fest miteinander verschraubt. Don Quichotte und Sancho Pansa nicht nur auf ein und demselben zähen Gaul, nein, in einer Haut.
Im zarten Jünglingsalter, überwältigt von Raffael, Rembrandt und Tizian, hatten sie das eine oder andere Tableau nachgestellt: Haşem nackt auf dem Sofa als Danaë, die Decke auf dem Schenkel drapiert genau wie bei ihr. (656)
Danaë, Rembrandt Harmensz van Rijn, Öl auf Leinwand, 185×202.5 cm, Holland, 1636. Seit 1772 in der Eremitage, St. Petersburg; Diderot gab Katharina den Tipp zum Erwerb. Bei einem Säureanschlag 1985 extrem beschädigt; bis 1997 restauriert.
Den Garten versorgte mein Vater, Serafima durfte nur das Gießen nicht vergessen, sie tat es zumeist gegen Mitternacht, wenn das Wasser am Zapfhahn wenigstens etwas Druck hatte. Halb dösend stand sie mit dem Gartenschlauch in Händen unter dem einstürzenden, sternenfunkelnden Himmel, über den schwarz zu Füßen liegenden Beeten mit Paprika, Auberginen und Tomaten, richtete den Strahl gegen einen Baum und zählte bis tausend, wobei sie bei zwanzig immer wieder einschlief; Sputniks zogen Furchen über ihren Schädel, je nach Höhe verschieden schnell. (335f)
Папа, бабушка, я (Papa, Oma, ich.)
An einem Frühlingsabend des Jahres 1856 fuhr der kippelige Postdampfer Tarki in die Bucht von Baku ein, während die Sonne golden dahinter versank. An Bord befand sich ein von der Russischen Geografischen Gesellschaft entsandter Schriftsteller mit hoher Stirn und breiten Wangenknochen, der wenig später … in Gesellschaft weiterer Herren kurzatmig die Treppe zum Kuppelbetsaal des nahe Suraxanı gelegenen Tempels hinabstieg. (283)
Alexej Bogoljubow, Dampfer Tarki bei der Einfahrt nach Astrobad, 1861.
Viel historisch verbürgtes Personal in diesem Roman. Hie und da im moderaten Namedropping – bedeutungsvolle Leerstellen. Da lässt der Autor ein bisschen Prominenz durch das Bild laufen, die zu erkennen er dem russischen Leser überlässt. Für den deutschen ist die Aufgabe schwieriger. Hier zum Beispiel handelt es sich um Alexej Pissemski, der die Weiten des Imperiums ebenso wie die Enge des Provinzbeamtentums aus eigener Anschauung beschrieb. Ilitschewski nennt ihn vollbärtig und beleibt, was im reiferen Lebensalter durchaus zutraf. Ein Foto aber zufällig aus dem nämlichen Jahr, das der Übersetzer zu Rate zog, führte zur Retusche am literarischen Porträt – mit amüsierter Zustimmung des Autors.
Eintrag im Bordbuch: »Ossip Mandelstam an irgendeiner Stelle ist voll des Lobes über den Hafenmeister von Feodossia … Ein so warmherziger Mann sei das gewesen, er habe den Dichter in seinem Arbeitszimmer wohnen lassen, mit Blick auf die Reede. Leider musste ich mit seinem Nachfolger gegenteilige Erfahrungen machen. Er hält mich für einen Teilnehmer bürgerlich-dekadenter Rattenrennen, so siehts aus.« (426)
Mandelstam in Feodossia, 1920. Besagte Stelle liest sich bei ihm so: »Hier war es so warm und blitzsauber wie in einer chirurgischen Abteilung. Sämtliche englischen und italienischen Dampfer, die Alexander Alexandrowitsch je aus dem Schlaf gerissen, standen in dicken Journalen verzeichnet, die wie Bibeln auf den Borden ruhten.« Da war sein berühmtes Gedicht Schlaflosigkeit. Homer (in Paul Celans Deutsch: »ich las im Schiffsverzeichnis, ich las, ich kam nicht weit …«) aber schon lange fertiggeschrieben.
Und hier geht es um Alexander Wassiljewitsch Stoljarow alias Sikh – Weltumsegler, Naturforscher, Überlebenskünstler, Iljas wichtigster Lehrer im Leben –, der zur unrechten Zeit an diesen Ort kam.
»Im zweiten Weltkrieg, als es noch an Ortungstechnik mangelte, wurde der Nachthimmel vorzugsweise von Blinden mit Hilfe spezieller Richtungshörer, sogenannter Ohren, überwacht … Auf zehn Kilometer wussten blinde Akustiker eine Heinkel von einer Junkers zu unterscheiden. Du kannst dir ausmalen, wie vielen Leningradern sie während der Blockade das Leben gerettet haben!« (112)
Die skurrilsten Bilder von dieser Technik stammen noch aus dem Ersten Weltkrieg; die hier sind aus dem Zweiten, von beiderseits der Front. – An der Stelle kam mir Hermann Karnau aus Marcel Beyers Flughunden in den Sinn. Gewiss ein etwas anderer Kasus in der Typologie der »Horcher« als Dostojewski-Forscher Tschernikin am Meeresgrund …
Zwei Jahre versteckte sich Koba in den Ölfeldern vor der Polizei. Mal in Bibiheybət, mal in Suraxanı. Von Diebstahl respektive Enteignung abgesehen, gehörten Brandstiftung und das Anzetteln wilder Streiks zu seinen Geschäften. Im Knast von Bayıl teilte der Menschewik Andrej Wyschinski, ein Apothekersohn, mit ihm die Zelle und die Hühnerfrikadellen von zu Hause. Koba verhielt sich derweil kooperativ und bespitzelte die miteinsitzenden Kriminellen. (323)
Baku. Nobel. Koba, so heißt das siebzehnte Kapitel. Koba ist der Deckname des jungen Stalin. Hier sehen wir seine Bakuer Polizeiakte. »Religion: christlich-orthodox.«
Der siebzehnjährige Alfred Nobel ist verliebt … Von seinem Beitrag zur Menschheitsentwicklung handelte der eine Teil von Alfreds Träumen, der andere betraf Anna Desry, die am Ende den Hobbymathematiker Franz Lemarge vorziehen würde. (319)
Anna wer? … Hier gab sich der Übersetzer geschlagen. Nirgends in der befragten Literatur zu den Nobelbrüdern der Verweis auf die Tochter eines dänischen Werftbesitzers in Petersburg namens … Anna Desry? deSry? Desiree? Und Franz Lemarge? Das Dumme ist ja, dass das Kyrillische nur die ungefähre Lautgestalt, nicht die tatsächliche Schreibweise des Namens preisgibt. Und alle auffindbaren Quellen – zu Dutzenden im Netz, eine auf die andere verweisend – sind russisch. Öfter dreist mit einem hübschen Gesicht ausstaffiert, das beinahe immer die junge Berta von Suttner zeigt – von der wiederum man ja heute »dank« Esther Vilar auch anzunehmen bereit ist, sie habe mit Nobel … Hilfe, holt mich da raus!
Jedenfalls vermute ich eine Mystifikation. Von einem findigen russischen Kolporteur in die Welt gesetzt, der die nötigen Zutaten kennt. Alexander Ilitschewski ist es nicht gewesen, er bedient sich beiläufig der Legende.
Aber vielleicht kommt ja doch noch einer und sagt es mir: Wer war Анна Дезри, hat es sie je gegeben?
Die Wasserleitung aus den Bergen herab, die das berühmte Quellwasser aus Şollar führte (ein köstlicheres habe ich nie wieder getrunken – Tau meiner Kindheit), war ein gutes Werk des Millionärs Tağıyev in Gemeinschaft mit Nobel, der in das Pumphaus investierte. (58)
Beim Bau der Wasserleitung Şollar-Baku, ca. 1915.
Über eine Feuerleiter erklommen wir den umlaufenden Balkon, Haşem zog irgendwo ein Laken hervor und hängte es über die Brüstung, wir kauerten uns dahinter und zelebrierten ein Ritual. »Trotzkis Geist, erscheine, Trotzkis Geist, erscheine!«, psalmodierten wir hartnäckig. (331)
Nobels Villa Petrolea – in A.I.s inspirierter Beschreibung ein paradiesisches kleines Phalanstére inmitten der düsteren Schwarzen Stadt.
Dem Körper fielen sofort alle Wege, Gassen und Sackgassen, wieder ein, der Kopf erinnerte sich an meinen letzten Aufenthalt hier im Januar 1990. Die Stadt war ein wildgewordener Bienenstock. Das beinahe Erste, was ich mitansehen musste, war, wie ein Mensch aus dem vierten Stock des Krassilnikow-Hauses auf die Straße fiel. … Am kopfsteingepflasterten Berg zur Festung kamen mir Kinder auf einem ratternden weißen Konzertflügel wie auf einem Schlitten fahrend entgegen. (192)
Jener rabenschwarze Januar voller Gewalt, als Baku sich erst seiner Armenier entledigte, sich dann von Moskau zu lösen suchte und daraufhin von sowjetischen Panzern überrollt wurde, hat sich mir nachträglich in den Bildern eines grandiosen Erinnerungs-Essays von Alexander Goldstein (1957-2006) eingeprägt: »Verrenkt, entwurzelt, abgeschrieben, trudelten die Jerassis – aus Jerewan vertriebene Aserbaidschaner – als schwarze Schatten durch den januarlichen Hades … rückten vor in kompakten Horden, trugen Äxte, Brecheisen, grobe Klingen und Knüppel …« Von Goldstein, der die ersten 30 Jahre seines Lebens in Baku verbrachte, bevor er 1990 nach Israel ging, wird nun endlich etwas ins Deutsche übersetzt. Kritiker weisen darauf hin, dass der umtriebige jüdische Intellektuelle Stein in Ilitschewskis Perser gewisse biografische Züge Goldsteins an sich hat.
Persien war schon deswegen das Paradies, weil man von da Elvis, Nat King Cole, Gillespie und Coltrane ins Spidola-Transistorradio hereinbekam. Iranische Sender wurden nicht gestört. (451)
»Das da ist dein Schützling«, wandte Stein sich an Senja. »Metschislaw Dobrokowski, ein hervorragender Grafiker, ganz zu Unrecht vergessen. Die Kasbek-Zigarettenschachtel ist das Einzige, was wir von ihm kennen.« (465)
… und auch da streiten die Gelehrten. Die Schachtel hat annähernd so viele Grafiker wie Homer Geburtsorte, witzelte unlängst ein Blogger, der Legenden über russische Papirossi sammelt. Und dieser Reiter ist so eine, die sich – zu Myriaden leergeraucht im Rinnstein liegend – auch dem Nichtraucher ins Hirn brannte.
Dobrokowski jedenfalls, ein phänomenal vielseitig begabter Grafiker, zählt zu den vergessenen historischen Figuren, die in Ilitschewskis Roman aus dem Rinnstein der Geschichte zur Wiederauferstehung drängen. Nämlich zunächst – frühe 1980er – im avantgardistischen Theaterstück des beflissenen Kulturarbeiters Stein, das Haşem und Ilja, der eine mehr, der andere weniger überzeugt, auf die Bühne zu bringen versuchen.
»Kinder, ihr seid groß genug, um zu begreifen: Kleine Lügen gibt es nicht. Schaut euch dieses Machwerk an. Ich hoffe, man muss euch nicht erklären, dass dieses Bild lügt?! Angefangen bei den Farben und bis hin zur Mimik der dargestellten Personen.« (398)
Stein erklärt seinen Eleven die Geschichte. Sein Gegenentwurf zur kanonischen Darstellung des Endes der Bakuer Kommune liest sich wie eine Episode aus Herrndorfs Sand.
»Hier haben wir alle eure Protagonisten beieinander. Tomaschewski, Dobrokowski, Kaidalow, Bljumkin, Kosterin, Abich.«
Auf dem rissigen, schwach sepiagetönten Fotokarton sechs junge Männer Anfang zwanzig, drei sitzend und drei stehend, vor einem Säulenstumpf und einer Palme: teils in Zivil, teils in Uniform, mit üppigem Kosakenschnauzer oder schmalem Bartstrich über der Lippe; der Schmalste, ganz bartlos noch, mit dichtem welligem Haar und einem misstrauischem Blick voll dunkler Leidenschaften: Abich. Steins Zeigefinger presste ihm die Schulter. (465)
Stein zeigt ein Foto. Der Autor hat es auf seiner Festplatte und war so freundlich, es mir zu schicken.
Dass – mit einer Ausnahme – andere Leute darauf abgebildet sind als behauptet, tut nichts zur Sache – Ambiente und Psychologie stimmen.
Auf diese außergewöhnliche Blume war ich damals besonderes fokussiert: tiefrot, mit einem betörend schwarzen Spiegel, eine endemische Art von den trockenen Geröllhängen des Abşeron. Für eine Zwiebel davon wechselte seinerzeit in Holland vor dem Geusenaufstand gut und gerne eine Kutsche samt nicht zu alten Pferden den Besitzer. (385)
… die drei iranischen Flieger trieben ihr Spiel mit ihm, setzten sich hinter ihn und drängten nach unten. Auf fünfzig Metern Höhe angelangt, zündete der Pilot den Nachbrenner. Fand sich über den Bergen wieder, Tank so gut wie leer, Schleudersitz, durch den Schub wurde ihm noch mal schwarz vor Augen. Der Fallschirm ging in der Gegend um Şamaxı nieder, er hat ein paar Tage bei Hirten zugebracht. (177)
Märchenstunde gelangweilter Militärflieger auf einem Stützpunkt nahe Baku. Şamaxı als rettende Oase … Weiß der Autor, welche Erzählungen sich hier kreuzen? Im Jahr 1636 kam die Gesandtschaft des Herzogs von Holstein-Gottorf unter Adam Olearius, mit dem sächsischen Barockdichter Paul Fleming im Gefolge, auf dem Wege zum persischen Schah hier durch – auch sie unfreiwillig, als Schiffbrüchige: »Kein helffen half uns mehr /Wir stürzten auff das Land. Da starb das Edle Schiff/ an der Schirvaner Strand …« Und fanden sich in einem bukolischen Paradiesgärtlein wieder mit Pan und Oreaden, falls der Dichter nicht übertreibt, weshalb man hier auch gleich zu überwintern beschloss. – Bliebe zu erwähnen, dass Iljas und Haşems holländische Traumstadt Leiden, die sie als Kinder auf ihrer Insel Artjom nachbauen, die vorletzte Station in Flemings kurzem, unstetem Leben war.
Im Şirvan bewegte sich Haşem mit Hilfe des Kites fort … Das Rollbrett hatte Schlaufen als Bindung für die Füße und zwei Kinderwagenräder an einem aus Autofederblättern improvisierten, in die Standfläche eingepassten Achskasten. In die Fußschlaufen und wieder heraus zu fahren oder sie zur Lenkung einzusetzen sah bei Haşem so routiniert aus, als angelte er sich beim Aufstehen morgens die Pantoffeln. (289f)
Landboarding ist Trendsport im Westen; mir war dieses halsbrecherische Fortbewegungsart, offen gestanden, neu. Haşem und seine Freunde am anderen Ende der Welt werden das Wort vielleicht gar nicht kennen, und gewiss sieht es bei ihnen weniger stylish aus; desto mehr Ikarus ist dabei.
Auf dem Höcker thronte ein langer, bis über den Hals reichender Tragekorb aus dick gezwirbelten Hanfseilen, der zwei Bildnisse des Dichters Chlebnikow enthielt, große Bleistiftzeichnungen nach bekannten Fotografien: In Laufrichtung rechts blickte der Gymnasiast mit dem akkurat gescheitelten Haar am Betrachter vorbei in die Unendlichkeit seines Inneren; links der Erwachsene mit den großen grauen Strahleaugen und dem markanten, etwas zu lang geratenen Kinn. Ein bei jedem Schritt wallender Harnisch aus fransigem Mull kaschierte den schaukelnden Passgang des Dromedars. Wüstenschiff aus Sternensprache, die Arche des Propheten. (615f)
Der Vagant und futuristische Dichter Welimir Chlebnikow ist Haşems Leitstern, Patron seiner sufistisch beseelten Kommune im Nationalpark Şirvan. Etwas wie der dritte Held im Buch. – Bei uns ist Chlebnikow etwas in Vergessenheit geraten, er hatte in den 1970/80ern eine hohe Zeit. Dafür sorgten Peter Urban im Westen, der für die Rowohlt-Ausgabe jene unfassbar illustre Nachdichterrunde von Celan bis Pastior versammelte und zu gegenseitiger Überbietung anstiftete, sowie Jutta Penndorf im Osten, die 1986 ein Summit bedeutender bildender Künstler ins Altenburger Lindenau-Museum einberief; die Ausstellung hieß Segel der Zeit – Salut Chlebnikow.
Ich drehe und wende mich in der staubigen, flimmernden Düsternis des Schuppens – Haşems Labor. Das durch die Ritzen fallende Licht genügt, sich zu orientieren. Ein Jugendbildnis von Leopold Weiss hängt an der Wand und das einer jungen Frau: MONA MAHMUDNIZHAD, steht darunter. (248)
Mona war die jüngste von zehn iranischen Frauen, die aufgrund ihres Bekenntnisses zur Bahai-Religion im Iran 1983 von islamistischen Milizen entführt und gefoltert, von einem Revolutionstribunal gehenkt wurden.
Haşem (»der Perser«: als Kind mit der Mutter vor den Häschern des neuen Regimes ins sowjetische Aserbaidschan geflohen) ist von ihrem Bild ergriffen. Da, wo er seinen kühnsten Visionen künstlerische Gestalt gibt, wünscht er ihr in die Augen zu sehen.
Ilja wiederum braucht seltsamerweise die Begegnung mit dem Ex-Model Sylvia Kristel (»Emmanuelle« ), um des Terroranschlags im Abadaner Cinema Rex zu gedenken ...
Ein großes Stück Grenze und viel gemeinsame Geschichte trennt oder verbindet – wie man will – Aserbaidschan mit dem Iran. Zum Besonderen des Romans gehört, wie er diese »Hintertür« für uns öffnet, auf die alten kulturellen Verwurzelungen in einem uns abgewandten Raum, jenseits der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion verweist.
Fragmente der alten, von Siemens errichteten indoeuropäischen Telegrafenleitung waren als punktierte Linie im Şirvan zu entdecken. Die vier nächstgelegenen Masten – gusseisern, mit dem Schriftrelief Siemens Brothers – standen in fünf, drei und sieben Kilometern Abstand voneinander in der Steppe herum … Haşem hütete die Masten wie Altäre: Vorposten der Zivilisation, errichtet in Gegenden, wo selbst Landeplätze für fliegende Untertassen mehr in die Landschaft gepasst hätten. (526)
Eines Abends im September, es war schon dunkel, lief ich den Weg zum Bəndovan entlang an einem der zahllosen Sumpflöcher vorbei und stolperte über eine Schildkröte. Kam dumm zu Fall und stauchte mir den Fuß, saß da und massierte mir die Bänder; die Schildkröte berappelte sich ebenfalls, ordnete ihre runzligen Hüllen, streckte den nackten, greisenhaften Hals … Schließlich kroch sie an mir vorüber, nicht ohne mir rachsüchtig über den Knöchel zu kratzen. Ihr kuppelförmiger Panzer, an einen deutschen Stahlhelm erinnernd, schob sich durch den Kegel meiner Stirnlampe; sichtbar wurden fein ziselierte Schriftzüge. Das war die fünfte beschriftete Schildkröte in Folge, die mir in diesem Monat begegnete. (650)
»Mein Vater war ein Schneemann, doch er ist getaut. / Die Augen sind das Einzige, was von ihm blieb. / Zwei Kohlebröckchen liegen auf dem Tisch / und sehen zu, wie ich im Zimmer umgehe. / Die große Nase aß ich schon vor langer, langer Zeit.« (500)
Fünf Männer und ein Hund vor der Villa Petrolea. Das Photo dürfte gegen Ende des 19. Jh. entstanden sein. Es fand sich in einem Album des Schweden Karl Wilhelm Hagelin, der damals Branobel-Direktor in Baku war.
Das anonyme kleine Gedicht aus dem New Yorker von 1995 hat Haşem extra für sein Regiment »Welimir Chlebnikow« ins Aserbaidschanische übersetzt. Dass die jungen Heger von moderner amerikanischer Lyrik hören, dürfte ungefähr so selten sein wie Schnee im Şirvan.
»Das Delta lag zwischen Süden und Norden wie das Herz zwischen Kopf und Füßen, Vorposten in alle Richtungen, vielbeschworener Dreh- und Angelpunkt: das Chasarische Chanat, gegründet auf Naturalwirtschaft, Selbstversorgung; Umschlagplatz zwischen Wikingern, Ostslawen und dem Orient: Vom Norden her wurden Honig, Pelze sowie bleichhäutige Sklaven und Sklavinnen angekarrt, in der Gegenrichtung flossen Seide und andere kostbare Stoffe, Juwelen, Gold und Spezien …« (581)
Ein schratiger Nachfahre russischer Kosaken, der am Lagerfeuer plötzlich die Geschichte des alten chasarischen Wolgareiches vorträgt, als läse er vom Körper des Gesandten ab, welcher sie einst als leibhaftige Botschaft nach Byzanz zu Kaiser Theophilos trug. Ob dem Mann auch eine Karte eintätowiert war? Milorad Pavićs Chasarisches Wörterbuch, aus dem ich dieses Detail habe, enthält jedenfalls keine. Die hier ist aus dem Chasaren-Band (1978) der Kulturgeschichtlichen Reihe bei Koehler & Amelang, Leipzig, aus der man sich die Weltkultur verlässlich und schön zusammenpuzzeln konnte. Der Verlag ging unlängst unter, wie das Chasarische Reich zuvor. – »Old school«-gezeichnete Karten dieser schlichten Art gefallen mir, sie erscheinen wie aus unmittelbarer Anschauung und Bewegung ins Feldtagebuch kartografiert. Große Freude, dass der Verlag zwei eigens entworfene Karten zum Perser in den Vorsatz zeichnen lässt.
»Ich hätte weniger auf Dienstreise fahren sollen. Fragt sich nur, wie. Mein ganzes Leben ist eine Dienstreise … Matrose, he! Du warst zu lang auf See.« (90)
»Ej, morjak!« ... Wieder so ein »Side-Flash« für den eingeweihten Leser – nicht zwingend, aber schön. Die Zeile entstammt den munteren Swing vocals, wie sie einem smarten Retortenbaby namens Ichthyander auf den Straßen des nächtlichen Buenos Aires entgegenflirren … nämlich in dem mirakulösen Kassenschlager Der Amphibienmensch von 1961 mit für Lenfilm-Verhältnisse niedagewesenen Unterwasseraufnahmen und einem niedagewesen durchscheinenden Bikini der 16jährigen Anastasja Wertinskaja. Gedreht wurde auf der Krim; Buenos Aires aber ist in Wirklichkeit – Baku! Leider hielt man wohl die famose Sängerin Nonna Suchanowa – die »Ella von Leningrad« – für nicht kinogen genug, sie wurde von einem Profi-Model gedoubelt.
»Bevor Wawilow in Afghanistan anlangte, ist er geraume Zeit hier bei uns gewesen. Hinterher hat er behauptet, die Kollektion stammte von woanders ... Wer erzählt dir schon freiwillig, wo er den Stein des Weisen gefunden hat.« (277)
Nikolai Wawilow, weltweit anerkannter Genetiker, erfand das Gesetz der »homologen Reihen«, in dessen Anwendung er noch unentdeckte Pflanzen »voraussagen« konnte, die er dann auf Expeditionen rund um die Welt suchte und mitunter auch fand. Kontroversen mit Lyssenko, seinem einstigen Mündel, luziferischer Hochstapler von Stalins Gnaden, besiegelten sein Schicksal. Er verlor 1940 sein Institut, kam in Haft, starb während des Krieges, vermutlich an Hunger ... Nachher blühten die Legenden.
»Prinz Hüsrev Mirza. Der sich sicher war, dass die Russen tödliche Rache an ihm nehmen würden, als sein Großvater ihn mit dem Leichnam des in Teheran getöteten berühmten russischen Gesandten nach Petersburg schickte, da war er sechzehn.« (361)
Auch hier enthält der Autor uns den berühmten Namen vor; ihn an dieser Stelle nachzutragen ist kein Spielverderben, jedes russische Schulkind kennt ihn: Alexander Gribojedow, klassischer Theaterautor und unerschrockener Diplomat, der zu Tode kam, als die Gesandtschaft in Teheran im Februar 1829 von einem aufgehetzten Mob gestürmt wurde … Heikler schon die Personalie des bei selbiger Katastrophe gelynchten Sekretärs Adelung (Großneffe von Johann Christoph A., dessen Grammatisch-Kritisches Wörterbuch von 1801 heutige Übersetzer mit Vorliebe nutzen, wenn es einen historischen Text zu faken gilt), der sich nämlich ob seines Doktortitels bei den Russen als Gribojedows Leibarzt eingebürgert hat (welcher in Wahrheit Dr. Malmberg hieß). Das zu korrigieren verbat sich der Autor jedoch strikt und unter Hinweis auf jenen Talmudsatz (ein Lieblingszitat), demzufolge die Welt nichts weiter als eine Geschichte sei, die jemandem erzählt wurde. Und in diesem Fall hat kein Geringerer als Juri Tynjanow sie erzählt (Der Tod des Wesir Muchtar. 1927) – die Verfilmung hat die Legende nur befestigt.
Den jungen Prinzen Hüsrev Mirza hat es dann auf andere Weise erwischt.
Im Ruhezustand liegen die Kragenfedern an, ebenso die an der Schläfe und am Kopf. Dann sieht die Hubara aus wie ein schwanenhalsiges Mädchen, artig glatt gekämmt, mit frommem Augenaufschlag. Tritt jedoch Erregung ein, sträubt sich das Gefieder, und sie sieht aus wie die gekrönte Lidija Wertinskaja als Vogel Phönix im Märchenfilm. Ihr böser mandeläugiger Blick lässt alles zu Asche werden; ein Falke, im Begriff, auf sie niederzustürzen, kann darin verglühen. (270f)
Tja. Wo der Autor recht hat, hat er recht.
Hubara ist die vom Aussterben bedrohte Kragentrappe, bei deren Anblick der Puls saudischer Falkenjäger zu rasen anfängt. Lidija W. ist die Frau des berühmten Romanzensängers Alexander Wertinski, und von Tochter Anastasja war schon die Rede. (Muss man das alles wissen, um es zu übersetzen? Nein.)
Anfangs schien der Same des Unkrauts bei Osama auf keinen fruchtbaren Boden zu fallen, in den oberen Klassen seiner Eliteschule galt er als der bekannteste Jung-Playboy von Beirut, der sich für Bunuel-Filme begeisterte, ein fanatischer Europareisender war. (524)
Ach, der hat uns noch gefehlt, mag der Leser denken, da dieser Name nach reichlich fünfhundert Seiten zum ersten Mal fällt. Dabei macht der Bogen von Kees, dem Tulpenadmiral, hin zu Osama bin Laden die stupende Logik dieses Buches aus. Und sein Porträt prägt sich ein. – Rätselfrage, ganz nebenbei: welcher von den dreien auf dem Bild?
Im Rücken des »Prinzen« auf erlesenen Maschrabiyyas, gedrechselten Bänkchen aus Elfenbein und Gold, standen fünfunddreißig Falken, behaubt, wie Ritter im Harnisch, hochkonzentriert, so die Anmutung; ein malerischer Wachaufzug. (640)
Einundzwanzigste Szene. Rudolf Abich, Propagandachef der Persischen Roten Armee, bittet Chlebnikow, ihm das Manuskript der Schicksalstafeln für einen broschierten Sonderdruck zur Verfügung zu stellen. Sorgfältig überträgt er die Kolonnen von Zeichen aus dem Heft, das der Dichter ihm überlassen hat, raunt das Gelesene vor sich hin … Die Buchstaben in Chlebnikows Werk sind begabt mit Moral, Geometrie, Vernunft. Abich trägt das Manuskript in die Druckerei, weist es dem Metteur feierlich vor. Der blättert darin und sagt: »Wir haben kaum Schriften in unseren Setzkästen, die Zahlen reichen nicht mal für eine Seite.« (479f)
»Schicksal der Völker, Zeit. Maß der Welt. Seeschlachten wiederholen sich in 317 Jahre oder deren Vielfachem.« Anselm Kiefer: Velimir Chlebnikov, 2004 (detail): oil, emulsion, acrylic, lead and mixed media on canvas.
Ich, der diesem Land doch eigentlich fremd sein müsste, ihm allenfalls einmal unglücklich versprochen gewesen durch Muttersprache und Grundschulunterricht, kann mich seinem unverwandten, forschenden Blick ins Herz hinein nicht entziehen. (34)
Die Rede ist von Russland. Ein Credo, das man sich auf die Außenhaut eines Romans gedruckt vorstellen kann. (Nur nicht dieses, in dessen globaler Perspektive Russland beinahe eine Randerscheinung ist.) Held und Autor scheinen hier mit einer Zunge zu sprechen, aber auch das kann täuschen … Seit 2013 lebt Alexander Ilitschewski in Israel, heute in Jerusalem. – Das etwas »scheue« Porträt von 2004 hat der Dichter Alexej Parschtschikow (1954-2009) fotografiert, sein Freund und Gesprächspartner, mit dem er die Idee zum Perser entwickelte.
Nachsatz
Dieses Weblog entstand unmittelbar nach Abschluss der Übersetzung des Romans in Kooperation mit dem Verlag und ging pünktlich zu seinem Erscheinen im Januar 2016 auf der Plattform Storify online, wo es rege besucht wurde, bis das Portal überraschend im Mai 2018 schloss. Der „museale“ Wiederaufbau am neuen Ort ist ein Glücksfall, für den ich TOLEDO und seinen MitarbeiterInnen herzlich danke. Möge die Seite fürderhin doch einige KollegInnen animieren können, ihre Übersetzungsrecherchen auf ähnliche oder andere Weise zu dokumentieren und der Leserschaft zugänglich zu machen – als Support für ihr Werk und zur Erhellung dessen, was wir da eigentlich tun. A.T.