Journale Prosa Von der Höhe der Berge bis auf Hohe See

Von der Höhe der Berge bis auf Hohe See

Journal zur Übersetzung von Philosophie der Weltbeziehung, Poesie der Weite von Édouard Glissant

Weltbeziehung
Kreolisierung
Das Denken des Bebens
Tout-Monde
Chaos
„Weltbeziehung“ bei Hartmut Rosa
Das Imaginäre bei Glissant
Und nun endlich zu Benjamin
Schönheit und Poetik
„Postkolonial“?
Zweisprachige Leseprobe
Video-Gespräch mit Sylvie Glissant

Ein Journal mit Fotos von Martinique (Künstlerische Bearbeitung Annette Merkenthaler), einer zweisprachigen Leseprobe und einem Video-Gespräch mit Sylvie Glissant

Es war meine Eingebung, in Walter Benjamins Passagenwerk die erkenntnistheoretischen Kapitel zu lesen, bevor ich die Übersetzung von Édouard Glissants Philosophie der Weltbeziehung, Poesie der Weite1 in Angriff nahm. Von Eingebung zu sprechen passt übrigens sehr gut zu diesem letzten, wahrhaft dichterischen Essay des großen Denkers aus dem Süden, der 1928 auf Martinique geboren wurde und 2011 in Paris starb. Denn er führt Intuition, Erahnen, Erraten als die Wahrnehmungsformen für eine Poetik der Welt ein, welche uns befähigen soll, das 21. Jahrhundert auf dieser Welt zu meistern – das heißt, für alle ohne Ausnahme ein Zusammenleben zu sichern. Ich fand bei dem deutschen Philosophen Walter Benjamin (1892-1940) einige Denkfiguren, die mir denen von Glissant ähnlich schienen. Im weiteren Verlauf der Arbeit kehrte ich immer wieder zu Benjamin zurück.

Bevor ich darauf eingehe, möchte ich in diesem Journal den Wunderhorn-Verlag und sein Engagement für die Werke von Glissant seit 1983 würdigen. Die Bücher sind extreme „Longseller“ und mit einer Ausnahme noch alle erhältlich: Dass der Verlag unter diesen Umständen Glissant nachhaltig weiter publizierte, ist wirklich rühmlich. Hier sind die Namen der Verlegenden zu nennen, Manfred Metzner und Angelika Andruchowicz, die auch häufig das Lektorat übernimmt.
Dennoch wird im deutschsprachigen Raum zu wenig beachtet, dass es diese deutschen Übersetzungen von Glissant gibt. Etwa wurde Poétique de la Relation, und daraus vornehmlich der Begriff der Opazität, vielfach aus der anglophonen Ausgabe Poetics of Relation rezipiert, obwohl er in anderen Werken ebenfalls behandelt wird, die im Wunderhorn-Verlag längst auf Deutsch verfügbar sind.2 Wenn man einen Autor über so lange Zeit veröffentlicht, ist es nur natürlich, dass seine Gedanken und damit auch die Begriffe, in denen er sie ausdrückt, Nuancierungen erfahren, dass weitere Termini hinzukommen und auch die deutschen Entsprechungen überdacht werden müssen, zumal bei Glissant, dessen Werk so nah am Puls des Lebens auf der Welt war. Als seine Übersetzerin konnte ich dieses lebendige Reagieren in seinem Denken und Schreiben miterleben, wie es Sylvie Glissant in dem Gespräch über die Arbeit ihres Mannes schildert (siehe Video zu diesem Journal).

In diesem Journal möchte ich mich auf die Begriffe in Glissants Denken und ihre Übertragung ins Deutsche konzentrieren. Ich sehe einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Übersetzung von Lyrik oder Prosa und der Übertragung von theoretischen oder geisteswissenschaftlichen Texten. Für mich ist die Übersetzung von Literatur der Wörtlichkeit verpflichtet, ich verstehe sie als Anverwandlung eines Sprachkunstwerks, dagegen sollte die Übertragung geisteswissenschaftlicher Texte eher dem Verständnis der Leserin entgegenkommen, indem sie die Denkschritte nachvollziehbar macht. Möglicherweise kann ich dabei recht frei im Deutschen gängige Wörter, Begriffe und Redewendungen gebrauchen, was ich bei Übersetzungen von Literatur sonst eher vermeide. Doch steht eine Übersetzung von Glissants Essays eher dazwischen, denn er ist in ihnen auch sprachlich enorm kreativ, was sich gerade in Philosophie der Weltbeziehung wieder zeigt. Daher musste ich „gemischte Verfahren“ anwenden, gewissermaßen jene von Glissant imitieren, zumal er im Buch immer wieder über sie reflektiert. Ich musste wie er gedankliche Schritte gehen und dabei –  darunterliegend, wie Glissant sagt  – einen poetischen Prozess einfangen, ihn begreifen und ihm in der Sprache „Halt geben“.

Ich will versuchen, das ästhetisch-poetologische Denken von Édouard Glissant, das in seiner Intention weltkulturell inklusiv und damit in hohem Grade politisch ist, in der Zeit voranschreitend zu betrachten, die Nuancierungen herauszuarbeiten und in ihrem Verlauf zu beleuchten.
Ich beginne mit einem seiner zentralen Begriffe, dessen Definiton nach meiner Beobachtung, übrigens nicht nur in Deutschland, präzisiert werden muss.

©Thill/Merkenthaler

Weltbeziehung

Relation“ leitet sich für Glissant von der Beziehung zwischen dem Herrn und dem Sklaven her, er wird in Discours antillais3 eingeführt und im französischen Text groß geschrieben. Mit seinem Diskurs der Antillen versuchte Édouard Glissant, eine „kulturelle Soziologie“ für seine Heimatinsel Martinique zu entwerfen und diese bildet auch die Grundlage der folgenden Essays, die der Autor dann „Poetiken“ oder „Ästhetiken“ nennt. Auch in ihnen ist eine kleine Insel in der Karibik mit ihrer Bevölkerung, in der sich Nachkommen der Schwarzen Sklaven, der weißen Kolonialherren und der asiatischen Kontraktarbeiter mischen, also Martinique, der Mikrokosmos, von dem der Autor in die Welt hinaus denkt und schreibt.

Im Laufe der Zeit überträgt Glissant die große Relation auf das Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten, zwischen Norden und Süden, zwischen Industrieländern und weniger entwickelten Staaten, zwischen Schriftkulturen und Kulturen mit mündlicher Überlieferung und schließlich zwischen privilegierten Gemeinschaften und dem Rest, die Relation bezeichnet nun also die weltweite Beziehung in der globalen Welt. Sie ist heute immer deutlicher für jeden erfahrbar und wird von manchen auch mit Clash of Cultures oder Kampf der Kulturen bezeichnet, dies geschieht zumeist aus unserer, der Perspektive Europas und des Westens. Glissant stellt dagegen eher die Frage: „Wie mit dem Anderen zusammenleben?“, im Lacanschen Verständnis heißt das, mit jenen, die von mir different, divers, in meinem Verständnis anders sind. Nach Glissant haben alle tastenden oder bestimmten Antworten, die wir auf diese Frage finden, einen Einfluss auf unser Leben, unser Bewusstsein und unser Wohlbefinden. Jeder Mensch muss heute in großer Autonomie und Einsamkeit zu einer eigenen ethisch-moralischen Haltung gelangen, denn weder die Ideologien noch die Religionen scheinen in dieser ungeahnten Situation auf der globalisierten Welt Orientierung zu geben. Zugleich können, wie Glissant sagt, die Antworten auf diese Frage „bei den Menschengemeinschaften gegen alles wirken, was zu Konflikten führt“ – gegen Nationalismus, Fundamentalismus, ethnische Säuberungen oder Spannungen zwischen verschiedenen kulturellen Milieus derselben Gesellschaft.

Patrick Chamoiseau, der unbedingt als Glissants Nachfolger und Bewahrer seines Denkens anzusehen ist, spricht von „mise sous Relation“ im Unterschied zu „mise en Relation“, frei übersetzt bedeutet das, „in Beziehung gezwungen“ statt „in Beziehung gesetzt“ zu werden. Die Relation ist also ein Prozess mit zwei Gesichtern, der sich gegen den Willen vollziehen kann, gerade in der Beschleunigung, die Chamoiseau beim heutigen Zusammenwachsen der Welt beobachtet. In meinen Ausführungen zu Glissant habe ich beim Begriff „Relation“ und „Weltbeziehung“ stets auf ein Spannungsverhältnis hingewiesen. In letzter Zeit fiel mir auf, dass der Begriff der Relation manchmal als Wohlfühlangebot missverstanden wird, als ständen alle Gemeinschaften auf der Welt in einer positiven Beziehung oder als sei das eine realistische Beschreibung für unsere Zukunft. Während in Deutschland diese Missdeutung vielleicht bereitwillig aufgenommen wurde, um eine illusionäre „Multikulti-Vision“ zu stützen, wo jede·r an seinem Platz bleiben kann und sich selbst und seine Vorstellungen (sein Imaginäres) nicht verändern muss, hörte ich in Frankreich beispielsweise von jungen Frauen aus der Karibik die harsche Kritik, dieses Denken sei „weichgespült“ und werde der „postkolonialen Zeit“ nicht gerecht.

Mit dem vorliegenden Band von Glissants Essays zeigt sich ein weiteres Mal, dass seine Denkweisen keineswegs weichgespült sind oder eurozentrischem Denken entgegenkommen, sondern auf einer harten Bestandsaufnahme und ungeschminkten Analyse des gewaltsamen und ausbeuterischen Gegensatzes in unserer Welt beruhen. In frühen Übersetzungen von Glissants Denken habe ich im Deutschen BEZIEHUNG als Übersetzung von französisch „Relation“ ebenfalls groß geschrieben, um die Abgrenzung zu markieren, doch ich meine, dass der Ausdruck „Weltbeziehung“ die Verhältnisse unserer Zeit deutlich genug macht. Selbstverständlich gilt für mich auch im Deutschen „Relation“ als angemessen, das sich nach meinem Eindruck im universitären Milieu durchgesetzt hat und Deutsch ausgesprochen wird.

Mit seinem Denken geht Glissant von der Landschaft seiner Heimatinsel Martinique aus. Zunächst ist es eine Suchbewegung nach der verborgenen eigenen Geschichte, die für ihn in die Landschaft eingeschrieben ist. Das Denken der Spur sammelt Reste des kollektiven Gedächtnisses der Menschengruppe auf Martinique, die von afrikanischen Sklaven abstammt. Ihre Geschichte wurde zweifach getilgt, durch das Herausgerissenwerden aus der Matrix Afrika und anschließend durch die Verschleierung dieser Tatsache und ihrer Folgen in der Zeit der Sklaverei und des Kolonialismus. Die Bewusstwerdung dieses Prozesses führt Glissant zu einer Kritik am Denken des Westens mit seinem imperialen Gestus. Er entwickelt im Gegensatz dazu tastende Denkweisen wie das Denken des Bebens, das Denken der Opazität, das Archipelische Denken, um so dem westlichen Denken eine Alternative zur Seite zu stellen, oder „anzufügen“, um im Bild des Archipels zu bleiben.

Kreolisierung

Schon in den 1980er Jahren entwickelte der Autor mit der Kreolisierung einen Ausdruck für die weltweite Vermischung der Kulturen, es war nichts anderes als ein visionärer Vorgriff auf die Globalisierung und die mit ihr einhergehende kulturelle Umwälzung. Dass Glissant die Kreolsprache als Bezug nimmt und sein Denken auf sie basiert, ist wie vieles in seiner Kulturkritik durchaus ironisch und provokativ gegen den Eurozentrismus gemeint. Ich beobachte eine Zurückhaltung gegenüber dem Begriff zur Beschreibung der betreffenden Phänomene, wohingegen „Hybridisierung“ sehr viel häufiger verwendet wird, und sehe darin eine Reaktion auf diese Provokation. Vielleicht auch ein Zögern, zur Erklärung großer Veränderungen auf der Welt eine „dubiose“, wenig bekannte Sprache in den Mund zu nehmen. Wir in den westlichen Ländern machen uns offenbar immer noch zu wenig bewusst, aus welcher Perspektive wir sprechen und es gibt wohl immer noch die Angst vor Vermischungen, die ein Erbe der Kolonialzeit und der Ideologien des 20. Jahrhunderts ist. Glissant wäre nicht Glissant, wenn er nicht auch Kritik an der eigenen Seite anbrächte, an der Gesellschaft und Kultur einer ehemals kolonisierten Antillen-Insel, die sich ihrer selbst nicht bewusst ist und nicht bewusst werden will, weil sie noch zu sehr in der Bewunderung und Schreckstarre gegenüber den Großen befangen ist, der „Metropole Frankreich“, den starken Staaten, den Herrschern auf der Welt.

Hier die Definition der Kreolisierung aus Philosophie der Weltbeziehung, Poesie der Weite:

Doch hatten wir schon länger begriffen, dass es sich bei der Kreolisierung in den Beziehungen zwischen den Kulturen nicht um Hybridisierung handelt oder um einen meltingpot, auch nicht um mechanischen Multikulturalismus. Die Kreolisierung ist ein Prozess, in dem es nichts Starres gibt. Eine besondere Alchimie der Kreolisierung vollzieht die Mischung immer weiter, auch wenn sie aus ihr hervorgeht. Daher habe ich dieses Wort vorgeschlagen, das ganz natürlich (oder heftig) überall aufgenommen (willkommen geheißen) wurde, um die eintretende Realität zu beschreiben.
Ich hatte vermutet, dass eine kreolische Sprache ─ weder ein Dialekt noch ein Patois noch eine geniale und aggressive Verformung einer Herrschaftssprache ─ die unvorhersehbare, unvorhersagbare, funkenschlagende Resultante der Begegnung einander vollkommen heterogener linguistischer Gegebenheiten (in Lexik, Syntax, Redeweisen) an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit darstellt, und dass die Resultanten daraus unvorhersehbar sind. Dass also die Kreolisierung der Kulturen mit ihren so unterschiedlichen Eigenschaften zusammenhängt und nicht mit einer essenziellen Eigenheit des Kreolischen. Wenn Länder sich kreolisieren, werden sie nicht kreolisch wie beispielsweise die Bewohner der Antillen, sondern treten gemeinsam in die Unvorhersehbarkeit ihrer Diversität ein, allerdings geschieht dies manchmal unter dramatischen Umständen.4

Ich war mir immer bewusst, dass ich mit der Übertragung von Glissants Denken ins Deutsche Pionierarbeit leistete. Eine gewisse Unruhe ob dieser großen Verantwortung, aber auch die Leidenschaft für semantische Feinheiten, die wohl bei jeder Übersetzerin und jedem Übersetzer mit der Zeit aufkommt, hatten mich schon früher bei literarischen Vorbildern aus dem deutschsprachigen Raum nach gedanklichen und terminologischen Entsprechungen für Glissants Werke suchen lassen, viele fand ich einfach auch beim Lesen.

©Thill/Merkenthaler

Das Denken des Bebens

Hier wieder die Definition aus Philosophie der Weltbeziehung:

Das Denken des Bebens stimmt sich ein auf die Erschütterungen und Erdbeben dieser Welt, wie auch auf die desaströsen Zustände in den Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Empfindungen und Eingebungen der menschlichen Gemeinschaften. Möglicherweise versetzt dieses Denken uns in die Lage, das Unentwirrbare kennenzulernen, ohne von ihm belastet zu sein.

Und auch:

In Schwingung sein heißt, die Erstarrung von Situationen zu vermeiden. Das Denken des Bebens entfernt uns von den tiefverwurzelten Gewissheiten ...5

Pensée du tremblement mit „Denken des Bebens“ zu übersetzen entspringt meiner Lektüre von Musils Mann ohne Eigenschaften6, zumal der österreichische Autor mit dem Wort Beben ähnliche Phänomene aufruft wie Glissant mit dem Satz: „das Denken der Welt-Totalität, die Beben ist“7

Wertvoll für mich waren auch die Beschreibungen des „Anderen Zustands“ in Musils Roman, ein Schlüsselbegriff in der Rezeption wie in der literaturwissenschaftlichen Kritik des österreichischen Autors, der den Protagonisten Ulrich bisweilen überkommt:

... eben jener romantisch ahnungsvolle Zustand, der ihm eingeflüstert hatte, nicht nur der lebhaft bewegten Welt, sondern noch einer anderen anzugehören, die wie ein angehaltener Atem in ihr schwebte.8

Und:

So zu sein ist der einzige Zugang zum Wissen, was vor sich geht. Denn das Ich behält in diesen Nächten nichts zurück, keine Verdichtung des Besitzes an sich selbst, kaum eine Erinnerung: das gesteigerte Selbst strahlt in eine grenzenlose Selbstlosigkeit hinein. ... eine Sinnlichkeit, die nicht die Sinnlichkeit einer Person ist, sondern die des Irdischen, des in die Empfindung Dringenden überhaupt, die plötzlich enthüllte Zärtlichkeit der Welt, die unaufhörlich alle unsere Sinne berührt und von unseren Sinnen berührt wird.9

Wir sehen, der Andere Zustand ist ein Moment der Ekstase oder der Epiphanie, er ist verbunden mit dem Liebeserlebnis oder einer Kontemplation, die in das Gefühl einer Harmonie der eigenen Existenz mit der Welt münden kann. Er erinnert vielleicht an das „Seid umschlungen, Millionen“ von Beethoven, aber Musil ist moderner, das heißt, kritischer. Im Mann ohne Eigenschaften verarbeitet er die Erfahrung des Ersten Weltkriegs und sucht explizit in seinem Roman nach Alternativen zum gescheiterten imperialen Denken Österreichs, wenn er fordert, zum Wirklichkeitssinn müsse es doch auch einen „Möglichkeitssinn“ geben.

Ich finde einen Anklang von Musils Anderem Zustand in der Auffassung von „Mondialität“ bei Glissant. Dieser beschreibt die Mondialität als eine das Bewusstsein des Einzelnen überflutende Ergriffenheit (saisie und saisissement), ausgelöst von der Vision der Einen Welt.

Die Mondialität schickt uns in ein nie dagewesenes Abenteuer, wir erleben es in einer Welt, die sich zum ersten Mal wirklich, unmittelbar und blitzartig als eine Welt, aber auch als vielfältig und unentwirrbar erkennt. Daher muss ein jeder seine Art und Weise verändern, wie er etwas wahrnimmt, wie er lebt und auf diese Welt reagiert.10

In gewisser Weise ist der Zustand der Liebenden, der Dichter, Philosophen oder Mystikerinnen heute zu einem „Zustand für alle“ geworden. Aber dieses neue Gefühl der Mondialität wird von Phänomenen der Globalisierung überschattet, die Édouard Glissant unter „Tout-Monde“ zusammenfasst.

Tout-Monde

Zu den imperialen Vorstellungen, die Glissant am Westen kritisiert, gehört auch die Behauptung, dass es eine alleingültige Wahrheit gebe, an die sich die Forderung nach Transparenz anschließt. Glissant wendet sich keineswegs gegen die Transparenz im Denken, schließlich sieht er sich als Erben von Kant, aber er enthüllt die Ideologie hinter der Verabsolutierung von Transparenz. Das heißt, er arbeitet heraus, was daran illusorisch ist und prangert die Hypokrisie an, wenn idealistische Ziele nur wieder dem Streben nach Vorherrschaft dienen. Glissant nimmt sich stattdessen vor, mit dem Bild des Chaos umgehen zu lernen, das uns die Welt in gewissen Momenten darbietet. Gerade in der heutigen Zeit scheinen sich die Unübersichtlichkeit und das Chaos in der Welt zu häufen, was die Analysen dieses Autors so überzeugend, aber auch anregend und befreiend macht.

Der Ausdruck Tout-Monde, den Édouard Glissant für die unübersichtliche Welt-Totalität gebraucht, kommt für das französische Verständnis erkennbar aus dem Créole. Zunächst übertrug ich den Ausdruck mit „die Ganze-Welt“, bis Lothar Baier mir vorschlug, doch „All-Welt“ zu benutzen. Lothar Baier (1942-2004) ist als Intellektueller, Frankreichkenner, Literaturkritiker und nicht zuletzt als warmherziger Freund unvergesslich, ich möchte hier noch einmal an ihn erinnern.
Welche Überraschung, als ich „Allwelt“ bei Witold Gombrowicz, dem großen polnischen Autor des 20. Jahrhunderts (1904-1969) wiederfand! Es steht in der deutschen Übersetzung seines berühmten Tagebuchs in einem Zusammenhang, der ziemlich genau Glissants Intention entspricht:

Meiner literarischen Tätigkeit leuchtet die Idee, den polnischen Menschen aus allen sekundären Wirklichkeiten heraus und ihn unmittelbar in Berührung mit der Allwelt zu bringen – soll er sich Rat geben, wie er kann. Ich möchte ihm seine Kindlichkeit zerstören.11

Ich fand bei Gombrowicz noch zahlreiche Parallelen zu Glissants Auffassungen, von denen ich das Bild des Archipels herausgreifen möchte. Im Archipel fügen sich die Inseln horizontal eine der anderen an, und bieten damit eine Alternative zum „kontinentalen“ Ringen um Macht und Hierarchie. Beide Vorstellungen (Poetiken) sind in Gombrowiczs Roman Pornographie in eine literarische Szene eingewoben. Er zeichnet eine düstere Parabel auf die deutsche Besetzung Polens 1939-44, im Zentrum steht ein mit eisiger Intellektualität geschmiedetes Mordkomplott. Die Szene spielt in einer Landschaft, die kleinteilig, als „Flickenteppich“ um einem Teich beschrieben wird und damit schon das Bild des Archipels aufruft, hier tritt unerwartet Karol auf in dem Moment, als seine Freundin mit einem anderen Mann auf einer Bank flirtet. In seiner Jugend verkörpert er für den Autor die Schwächeren und hat damit die Schönheit und das Menschliche auf seiner Seite:

Auch muss man hinzufügen, dass die Tätigkeit (des Jungen) verwischend, fast entschuldigend wirkte, seine Leichtigkeit, seine Schlankheit sprachen frei, und da er (jung) sympathisch war, konnte er sich eigentlich einem jeden anschließen ...(irgendwann werde ich den Sinn dieser Klammern erläutern) ... Und plötzlich entfernte er sich ebenso leicht, wie er erschienen war.
Aber sein leichtes Sich-Anschließen an uns bewirkte, dass die Bank wie ein Dolchstoß zustieß. Dieses tolle, unerhörte Herantreten (des Jungen) an uns, während sie ihn verriet! Die Situationen in der Welt sind Chiffren. Unbegreiflich bleibt die Konstellation der Menschen und überhaupt der Erscheinungen.12

Die Parallelen zwischen Gombrowicz und Glissant sind erstaunlich. Der polnische Autor war ein Avantgardist der 1920er Jahre, der nach einem großen Erfolg mit seinem ersten Roman Ferdydurke lange in Argentinien lebte, bevor er 1963 bei seiner Rückkehr nach Europa, übrigens zunächst nach Berlin, ein Comeback hatte. Zu jener Zeit wurden vor allem die Stücke Yvonne, die Burgunderprinzessin (1935), Die Trauung (1953) und Operette (1966) auf deutschen Bühnen gespielt.
Glissant und Gombrowicz sind Denker der „kompositen Kulturen“, diesen Begriff benutzen beide, sie ähneln sich in ihrer Weltsicht, in ihrer Kritik an der europäischen Kultur, in den Strukturen ihrer Literatur und ihres Denkens. So beschreibt Gombrowicz seine Intention,

dem Westen das eigene, andersartige, von drüben herausgebrachte Erleben und sein neues Wissen über die Welt aufzudrängen.13

Offenbar führte ihr Versuch, das herrschende Denken „von drüben“ (Gombrowicz) oder „aus dem Süden“ (Glissant) zu kritisieren, zu ähnlichen Ergebnissen. Es ist hinzuzufügen, dass Gombrowicz auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg in Polen eine Perspektive vom Rand Europas einnahm und zeitlebens die Verirrungen bedauerte, in die sein Land ging, weil es zu Mitteleuropa gehören wollte – mit dem Anspruch „eine reine Kultur“ sein zu wollen, das hieß, ohne die Juden, während Gombrowicz eine jüdisch-polnische Mischkultur sah. Dies meint er mit „sekundären Wirklichkeiten“ und es bildet eine weitere Parallele zu Glissant, der für Martinique eine ähnliche Diagnose stellt.

Doch ob Glissant Gombrowicz gelesen hat, ist unklar. Ein Bindeglied zwischen beiden ist vielleicht Gilles Deleuze, ein großer Verehrer von Gombrowicz und ein enger Freund Glissants. Regelmäßig frage ich Patrick Chamoiseau nach seinen Auslegungen der Begriffe, nach Erläuterungen des Glissantschen Denkens, er antwortet jedesmal sehr bereitwillig und ausführlich. Aber auf die Frage nach möglichen Einflüssen zuckt er lächelnd die Schultern und sagt, Glissant habe darüber nicht gesprochen.

©Thill/Merkenthaler

Chaos

Die Chaosforschung ist einer der Einflüsse, die Glissant gerne anführt:

Wir nehmen beispielsweise an, dass dieses Denken des Bebens einen großen Teil der gegenwärtigen Wissenschaften inspiriert, die man deshalb Chaosforschung nennt. Sie hüten sich vor der Herrschaft des Universellen und wenden sich gegen den Zwang zur Linearität. Über die Chaostheorien (die Wiederholung tut gut) sagen wir, dass sie vielleicht archipelisch sind. Das Archipel ist jedoch kein Chaos, es ist nur unvorhersehbar und in seiner Struktur nicht zielgerichtet.14

Wenn man Glissants Denken verstehen will, ist es daher lohnenswert, sich mit der Chaostheorie zu befassen. Schon öfter habe ich für meine Übersetzungen einen Artikel von Herbert Jaeger zu Rate gezogen, der aus dem Kursbuch Das Chaos von 198915 stammt. Hier fand ich Ausdrücke, die im Deutschen ein annäherungsweises Denken und die Abkehr vom linearen Verständnis der Zeit abbilden:

„Ausprägungen“ und die „Unbeschreibbarkeit ihrer Zukunft“

„Unentscheidbarkeit“

„das Rätselhafte“

„das überall am Wegrand Skizzierte“

„Übergang zum Propositionalen“

und speziell für Philosophie der Weltbeziehung:

„Fulgurationen“

„aufblitzende Eindrücke“

„sprunghaft raumgreifende propositionale Gedankenschritte“.

„Weltbeziehung“ bei Hartmut Rosa

Als eine zeitgenössische Stimme aus dem deutschsprachigen Raum ist der Soziologe und Sozialphilosoph Hartmut Rosa (*1965) zu nennen. Nach einer vielseitigen akademischen Laufbahn lehrt er seit 2005 als Professor für Soziologie an der Universität Jena. Er hat sich gerade in der Corona-Pandemie mit interessanten Stellungnahmen zu Wort gemeldet.

Hartmut Rosa wählt ebenfalls den Terminus der „Weltbeziehung“, doch versteht er darunter etwas anderes als Glissant unter Relation. Meines Erachtens handelt es sich jedoch eher um eine Unterscheidung „in der Poetik“, wie Glissant sagen würde, als um einen Gegensatz.

„Weltbeziehung“ steht für Rosa synonym für das Weltverhältnis des einzelnen Menschen, das „stets sozial, kulturell, historisch vermittelt“ sei. Es bestimmt sich durch „die Art und Weise, wie die Menschen in die Welt gestellt sind oder, besser: in der sie sich als in die Welt gestellt erfahren.“ Rosa sucht vor allem „die Frage nach der kulturellen und gesellschaftsspezifischen, den milieu-, alters-, und geschlechtsspezifischen Differenzen in der Form solcher Weltbeziehungen“ und grenzt sich dabei dezidiert gegen die Betrachtung von „Mentalitäten der modernen Subjekte“ ab. Rosa geht es „um das Weltverhältnis (und damit unvermeidlich auch: ihr Selbstverhältnis) per se, und dieses ist stets und primär ein leibliches, emotionales, sensuelles und existenzielles und erst danach ein mentales und kognitives“.16

Gerade der letzte Passus ähnelt sehr dem Begriff des Imaginären bei Glissant.

Insgesamt treffen sich Glissant und Rosa in einigen wichtigen Auffassungen, etwa sehen sie die Weltbejahung als Voraussetzung für ein gutes Zusammenleben. Wie Glissant fordert Rosa, „die einseitige westliche Fixierung auf materiellen Wohlstand, Wachstum und Wahlfreiheit als Indikatoren des Wohlergehens [zu] überwinden.“17

Mit dem Begriff der „Resonanz“, als einer Übereinstimmung verschiedener Elemente des positiven Weltverhältnisses, kommt Rosa dann dem Glissantschen Verständnis der Mondialität recht nahe, „Resonanz“ erinnert ja auch semantisch an das Denken des Bebens.

Aber im Unterschied zu Rosas systemischer Herangehensweise hat Glissant eher ein ästhetisch-poetisches Konzept, für ihn reicht die „Narration“ nicht aus, weil sie noch zu sehr der vorgeblich transparenten Abbildung der Realität verpflichtet ist. Nach Glissant folgt die Vorstellung von der Welt eher den Regeln einer Poetik, das heißt, sie ist offener, schließt auch gedanklich nicht fassbare und unerwartete, irrationale Anteile, sowie sinnliche und emotionale Empfindungen ein.

Gerade im Zusammenhang von Philosophie der Weltbeziehung ist interessant, dass Rosa bei seiner Auffassung von „Resonanz“ der Poesie eine wichtige Rolle zuschreibt:

Den reinsten Ausdruck beider existenziellen Grunderfahrungen [des Selbstverhältnisses und des Weltverhältnisses] finden wir in der Dichtung, insbesondere der Lyrik.18

Hartmut Rosa prägt einen neuen Begriff, den der „Weltbeziehung“, für eine Auffassung sehr nahe am Begriff des „Imaginären“, der im französischen Sprachgebrauch gewissermaßen einen ganzen „Resonanzraum“ öffnet. In den letzten Dekaden, spätestens seit 1990, ist der Austausch zwischen deutschen und französischen Intellektuellen zurückgegangen, ja abgebrochen, vor allem im Vergleich zu den 1960er und 1970er Jahren. Auf mehreren Symposien in Paris, die in den letzten Jahren von der Robert Bosch Stiftung gemeinsam mit der Fondation des Sciences de l´Homme veranstaltet wurden, hat dies deutsche und französische Übersetzer·innen für geisteswissenschaftliche Texte beschäftigt. Die Beobachtung wurde dort von Verlegern, Hochschullehrerinnen und nicht zuletzt den Übersetzer·innen selbst bestätigt, die im deutsch-französischen Austausch als Vermittler·innen fungieren. Ich erwähnte bereits, dass manche Theorien aus Frankreich über den Umweg der amerikanischen Rezeption nach Deutschland gelangen.
Das Imaginäre ist im französischen Sprachraum ein so weit verbreiteter Begriff mit so vielen produktiven Erweiterungsmöglichkeiten, dass ich ihn hier noch einmal ausführen möchte.

©Thill/Merkenthaler

Das Imaginäre bei Glissant

Édouard Glissant hat eine Menschheit vor Augen, die offen ist für die Welt, um diese Offenheit zu formulieren, führt er den Begriff des Imaginären ein.
Der Begriff war von Jean-Paul Sartre 1948 existenzialistisch definiert worden:
„Die Imagination ist die große ´irrealisierende´ Funktion des Bewusstseins, und das Imaginäre ihre Entsprechung im Denken.“19 Als deutsches Wort für „das Imaginäre“ würde ich „die Vorstellungswelt“ wählen. Im Folgenden zeichne ich weitere Nuancierungen des Begriffs bei Glissant nach.
In seinem ersten großen Essay Soleil de la conscience schreibt Glissant im Jahr 1956:

Jeder Mensch kommt zuerst über seine eigene Welt zu einem Bewußtsein von der Welt. Es wird in dem Maße universell sein (um es weit zu fassen), wie die eigene besonders ist; in dem Maße großzügig und gemeingültig, wie er gelernt hat, allein zu sein, und umgekehrt.20

In diesem Zitat ist das Imaginäre noch mit der Wahrnehmung des Dichters und seinem ästhetischen Vorhaben verbunden. Aber unter dem Eindruck der Chaos-Welt schreibt Glissant im Jahr 2005:

[...] wenn die ungeahnte Verschiedenheit der Völker und Kulturen sich zuallererst als ein Leiden darstellt, dann hängt es von uns und von allen ab, ob wir entweder an diesem Leiden ersticken, oder ob es sich im Gegenteil in einem befreiten Aufatmen auflöst. Es hängt von uns ab, bedeutet hier, falls wir unser Imaginäres erweitern können.21

Ich füge noch eine jüngere Definition an, die er zusammen mit Patrick Chamoiseau in dem Text Wenn die Mauern fallen (von 2007) formuliert. Die beiden Autoren richteten sich damals gegen die Identitätspolitik in Frankreich unter Sarkozy:

... die Imaginären, das heißt, die Arten, sich zu denken, die Welt zu denken, seine Lebensgrundsätze zu ordnen und sein Geburtsland zu wählen.22

Glissant erweitert also die Auffassung des Bewusstseins, welches der politische Begriff der Linken der 1970er Jahre war, um unbewusste Anteile, wie Gefühle und die sinnlich-körperliche (semiotische) Erfahrung, zum Begriff des Imaginären.

Es gibt auch ein kollektives Imaginäres in der Art, wie wir uns als Gruppe die Welt vorstellen:

Die wahre Vielfältigkeit findet sich heute nur im Imaginären, das heißt, in der Art, sich zu denken, die Welt zu denken, sich selbst in der Welt zu denken, seine Lebensgrundsätze zu ordnen und seine Heimat zu wählen.23

Und nun endlich zu Benjamin

Wie eingangs erwähnt, war mir Walter Benjamins Passagenwerk gerade bei der Arbeit an der Übersetzung von Philosophie der Weltbeziehung eine Hilfe.
Glissants Essay stellte mich auf vielen Ebenen vor große Herausforderungen, sprachlich, stilistisch, aber vor allem in der Verknüpfung des Bilds mit dem Gedanken und der Wiedergabe dieses Vorgangs im Deutschen.

Nach Aussagen des Autors „zugleich eine Poetik und eine Philosophie“, wurde der Text über mehrere Vorträge hinweg formuliert, es emergierten „die Umrisse eines Gedichts“, das ihn dann zunehmend durchdringt:

Tatsächlich hat diese nomadische Philosophie an den vier Orten der Welt, drei davon in Amerika, einer in Europa, sich in Form und Inhalt allmählich fortbewegt. Ausgehend von einer Reflexion über zeitgenössische Denkweisen hat sie sich zu dem Umriss oder der allmählich erscheinenden Vorform eines Gedichts gewandelt, je nach dem wie sich meine Intuitionen bei jedem dieser Auftritte änderten, ohne dass einer der Zuhörer bemerkte, wie ich Wiederholungen einführte, die sich aus geringfügigen zarten Wandlungen herauslösten. Es ist eine Weise, in der man die poetische Materie unmerklich aufgehen lässt, das allerdings haben die Hörer an allen Orten empfunden.24

Das Passagenwerk von Benjamin gab mir in seinen erkenntnistheoretischen Kapiteln (Bd V, I Konvolut N: „Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts“, S. 570-611) zunächst einzelne Wörter an die Hand, die mir bei zentralen Ausdrücken in Philosophie der Weltbeziehung weiterhalfen:

Umriss                                                            allmählich erscheinend

im Mittag                                                        au midi de cette mer“

blitzhaft                                                           für fulgurant, fulguration

Abweichungen, Intervalle, Abstände             écarts

Unempfindlichkeit vs. Empfänglichkeit          sensibilité

Vollzähligkeit                                                   complétude

Frühe                                                                aube

Dann der Zeitbegriff: Die Linearität der Zeit zu hinterfragen rührt an die Grundfesten des westlichen Denkens. Dies ist auch Benjamins Intention, wenn er „Differentiale der Zeit“ und ihren „nicht-kontinuierlicher Verlauf“ anspricht:

Während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit rein zeitlich ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt dialektisch: sprunghaft.25

Man vergleiche hier Glissants oft wiederholte Wendung: „Wir springen von Fels zu Fels in der Zeit [...] ... wie beim Überqueren des Bachs oder der Avenue oder der Sackgasse, um unsere in Verwirrung geratenen Gedächtnisse wiederherzustellen.“26

Benjamin geht es in diesen Kapiteln des Passagenwerks um das Verständnis, wie eine materialistische Geschichtsschreibung möglich wäre, die nicht von einem Zeitfluss ausgeht, aus dem die Phänomene zur Untersuchung herausgegriffen werden, wie es in der bürgerlichen beziehungsweise eurozentrischen Universalgeschichte üblich ist, die Benjamin in gleicher Weise kritisiert wie Glissant: „Die Universalgeschichte ist im heutigen Verstande eine Sache für Dunkelmänner.“27 Nach Benjamin schreitet die Geschichte in Sprüngen voran, bei denen in bestimmten Momenten Spannungen entstehen, die polarisieren. Der Historiker soll nach seiner Ansicht „den nicht-kontinuierlichen Verlauf der Zeit“ beachten, seine Aufgabe sei es, „die Homogenität auf[zu]sprengen“
„als aufblitzendes Bild im Jetzt“ – Benjamin nennt es das „dialektische Bild“.

Hier eine zentrale Stelle für die Definition des „dialektischen Bilds“:

Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie der Stillstand der Gedanken. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in den Denkbewegungen.28

Dieses Bild gilt es „herauszusprengen“ anstatt es „herauszugreifen“, wie in der „universellen“ Geschichtsschreibung.29

Glissant verwendet ebenfalls Worte des Auf-sprengens und Ab-sprengens, hier aber für die Aufgabe der Literatur:

Tout à fait nègrement, ou métèquement, ces sortes avortées du sacré ont été brisées contre l´étendue.
Les littératures, ainsi, rompent contre.

Ganz negermäßig oder südländerisch sind diese Missgeburten des Heiligen an der Weite zersprengt worden.
In dieser Weise sprengen die Literaturen auf.

Mais valable pour tous, avec angoisse et grand bonheur. Les littératures rompent avec.30

Aber es betrifft alle, in großer Angst oder großem Glück. Die Literaturen brechen damit.31

Glissant kombiniert beide Auffassungen von der Zeit, die Benjamin zum Teil gegeneinander stellte:

Wir wagen nun, uns die Zeit als etwas Relatives vorzustellen (es gibt zerhackte Zeiten), das durch etwas Absolutes hindurchgeht (es gibt Zeit-Ströme), beide Aspekte sind in variablen Augenblicken (instances) miteinander verbunden.32

Benjamins Erläuterungen des dialektischen Bilds brachten mich schließlich der zentralen Denkfigur „en étendue“ in Philosophie der Weltbeziehung näher, die bereits im Untertitel genannt ist.
An einer Stelle unterstreicht Benjamin, dass es sich in seiner Geschichtsauffassung eher um eine „Auswicklung“ handele als um eine „Entwicklung“, mit dem Vergleich:
„... wie das Blatt den ganzen Reichtum der empirischen Pflanzenwelt aus sich herausfaltet“;
ergänzt durch die Bemerkung, dass die dialektischen Bilder „nur in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen“, und durch die Wendung einer „Auflösung der Mythologie in den Geschichtsraum“.33 Die Bilder in dieser Passage machten mir den Gedankengang bei Glissant verständlich, so dass ich für étendue einfach „die Weite“ (anstelle von beispielsweise „Ausweitung“ oder „Erweiterung“) wählte, und schließlich schreiben konnte: „... dass die Poetik der Weltbeziehung dieses Gedicht in die Weite vor uns projiziert hat.“ (s.u.)

In Glissants Essay über die Ästhetik des Zusammenlebens findet sich
en étendue“ in einem Wortfeld
des Ausweitens mit „déployer
Dies steht im Gegensatz zum „Unausgeweiteten“ (inétendu), der Verworrenheit, in der uns der Trubel der Bilder in der gegenwärtigen Welt überfällt:

Hingegen treten wir nun ein in das winzige Detail, vor allem erfassen wir von überall die Vielfältigkeit, die keine Weite hat, und die für uns unentwirrbar und unvorhersehbar ist.34

Nur die Poesie spendet die Weite, weil sie ins Detail geht:

Das Detail ist kein Punkt in einer Beschreibung, es ist eine Quelle der Poesie und zugleich eine nicht messbare Weite (étendue non mesurable). Diese Unübersichtlichkeit und dies Unerwartete zeigen, noch vor jeder Definition, die Realität und die Bedeutung der All-Welt auf.35

Diese Gedanken liegen vermischt im verborgenen Dunkel des ersten Gedichts, sie befördern seither gewichtige, klare und deutliche Ansprüche in eine sich öffnende Weite.36

Erst am Schluss bringt Glissant zur Auflösung, was er mit „en étendue“ meint. Die Beschreibung kam für mich fast wie ein Cliffhanger und ist vom Autor wohl auch so angelegt. Wir sehen,

dass die Poetik der Weltbeziehung dieses Gedicht in die Weite vor uns projiziert hat, dessen Entstehung wir doch in den urzeitlichen Laven vermuteten. Das Gedicht nähert sich eben nicht einer Essenz an, es errichtet ein anderes Heiliges in der Weltbeziehung, nicht von diesem zu jenem, sondern von allen zu allen. Wir müssten ihm in dem Unmaß der Welt nur noch zum Leben verhelfen. Denn wir bewegen uns in einer anderen Dunkelheit als während der ersten Zeiten der Erde, und wir beschreiben sie in anderer Weise. Es ist die Dunkelheit der vermischten Zeiten, unsere Worte eilen von überall herzu, verlöschen dann gemeinsam, gehen wieder ins Chaos zurück.37

Glissant legt in Philosophie der Weltbeziehung, Poesie der Weite zwei „Handlungsstränge“ an. Der eine entwickelt eine Ästhetik des Zusammenlebens, ausgehend von der vorzeitlichen Fusion, die der Autor in den Wandmalereien aus der Vorgeschichte der Menschheit entdeckt und auf unsere Zeit der Mondialität anwendet. Das neue Bewusstsein von der Einen Welt könnte gewissermaßen eine neue Ununterschiedenheit, eine horizontale Gleichwertigkeit zwischen allen auf der Welt Lebenden herstellen. Zu diesem Handlungsstrang gehört das Gefüge seiner Denkweisen, die er noch einmal aufführt und in ihrer gegenwärtigen Bedeutung darstellt: Das Denken des Bebens, das Denken der Spur, das Archipelische und Kontinentale Denken, das Denken der Kreolisierung, das Denken der Opazität, das neue Denken von den Grenzen.
Den zweiten Handlungsstrang verlegt er nach Martinique, es ist seine Suche nach dem Ort der Geburt, doch muss er feststellen, dass die Hütte in einem Erdrutsch verschwunden ist. Der Essay zeichnet also einen Bogen vom individuellen Ursprung des Dichters (Édouard Glissant) bis zu seinem Ende: Zunächst wird der Tod von Aimé Césaire erwähnt, dann wird Mahmoud Darwisch posthum mit einem Gedicht geehrt, zugleich evoziert der Text die schwindenden Tage und weist so auf das eigene Ende voraus.

Am Anfang des Buchs deutet Glissant den Erdrutsch als den verschwundenen Ursprung der Dichtung, erst gegen Ende enthält für ihn dieses Chaos die Wende zu einem Neuanfang.

Auch hier brachte mich Benjamin weiter, mit dem Passus: „Und zwar ist dieses zur Lesbarkeit gelangen ein bestimmter kritischer Punkt der Bewegung in ihrem Innern.“38

Die Vorstellung, dass im Innersten des Stillstands ein Moment ruht, von dem ein winziger Impuls ausgeht, kommt bei Glissant (übrigens auch bei Chamoiseau) des Öfteren vor. Ich fragte mich, ob dieses Bild aus dem jüdisch-hebräischen Denken stammt, und dies scheint mir bei Benjamin bestätigt.

Mit dieser Figur lässt Glissant in Philosophie der Weltbeziehung, Poesie der Weite aus dem Einbruch der Erde eine neue Region entstehen, aus dem versunkenen Geburtsort ersteht Neuland, es ist die entscheidende Wende dieser Philosophie, von der zerstörten Vergangenheit hin zu einer Vision der Zukunft für die Welt.

Schönheit und Poetik

Noch einmal Benjamin:

In jedem wahren Kunstwerk gibt es die Stelle, an der es den, der sich dareinversetzt, kühl wie der Wind der kommenden Frühe anweht. Daraus ergibt sich, dass die Kunst, die man oft als refraktär gegen jede Beziehung zum Fortschritt ansah, dessen echter Bestimmung dienen kann, Fortschritt ist nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs sondern in seinen Interferenzen zu Hause: dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht.39

Am Ende des vorhergehenden Essays Une nouvelle région du monde stellt Glissant eine Verknüpfung zwischen Kunst und Philosophie her, mit einem Begriff von Schönheit, der aus seiner neuen Vision von der Welt hervorgeht, und wieder ist die Übereinstimmung mit der oben zitierten Passage von Benjamin frappierend, nur spricht Glissant an dieser Stelle nicht vom Kunstwerk, sondern von der Schönheit in ihrer Ausweitung auf die Welt:

Denn die Schönheit enthüllt oder erschließt sich in einer Vision von der Welt.
Sie weist auf das unablässige Werden hin.40
La beauté est le signe de ce qui, là, va changer – Die Schönheit ist das Zeichen, dass sich gleich hier etwas verändern wird.41

Daneben auch folgende Passage von Glissant in Philosophie der Weltbeziehung:

Ein solches Bewusstsein ist von den Umwälzungen und den noch unbearbeiteten Verknüpfungen der Künste nicht zu trennen (das Hereinstürzen der Formen und Farben in die Zwischenräume der Töne, in die Brüche im Kontinuum, so dass wir nicht genau wissen, wo der Sinn und wo der Unsinn ist, oder ob das Unsinnige nicht gerade den Sinn dirigiert).42

Kunst und Schönheit haben bei Glissant einen dunklen Rest, da beide für ihn eigentlich Ausdruck des Ungewissen, des Unwahrscheinlichen, Unvorhersehbaren, des Unzählbaren und Unbenennbaren sind. Er spricht der Poesie die entscheidende Rolle zu, denn in der europäischen Kunsttradition ist es am ehesten sie gewesen, die das Ungreifbare, Unfassbare und Unbegreifliche ausgedrückt hat.

Gleich zu Beginn von Philosophie der Weltbeziehung heißt es: „ … das Gedicht an sich ist zeitgenössisch mit den ersten Feuerstellen auf der Erde („… le poème en soi est contemporain des premiers brasiers de la terre.“43) Dies bedeutet, dass in jedem Gedicht die Intention des Sprechens dem weltumfassenden Schweigen entrissen wird.

Während die Vielfalt der Welt in anderen geistigen Bereichen zählbar wird, diese Zahl aber keine Ausdehnung hat, kann dies die Dichtung leisten. Das Detail einer Landschaft, etwa, ist kein Punkt in einer Beschreibung (repère descriptif), sondern es ist eine Quelle von Poesie und gibt zugleich eine nicht messbare Ausdehnung der Landschaft wieder.“

Nur in der poetischen Vorstellung können wir das Neuland unserer Epoche betreten. Auch jedes literarische Schreiben ist eine Geste des Ausbreitens der Landschaften und trägt zur Wahrnehmung der Vielfalt auf der Welt bei.

Die Literatur wie die übrigen Künste stellen somit den Bezug des Einzelnen in seiner Wahrnehmung zur Welt als einer aus vielen Details/Differenzen gebildeten Totalität her. Dies speist sich aus dunklen, opaken, dem Künstler nur teilweise bewussten Quellen seiner Kreativität. So betrachtet, erschafft alle Literatur (die diese Bezeichnung verdient) ein eigenes Universum, das aber auf den Anderen und damit auf die Welt insgesamt bezogen ist. Der Maßstab ist für Glissant das Streben nach einem Ausdruck der Schönheit. Seine Ästhetik gründet darauf, dass alle Menschen die Natur, und hier vor allem die Landschaften in ihrem Reichtum an Farben und Formen, als schön empfinden.

Glissant zieht keinen scharfen Trennstrich zwischen der kolonialen Literatur beziehungsweise der Literatur der kolonialen Epoche und späteren Literaturen, die den Kolonialismus in steigendem Maße kritisieren und bekämpfen. Auch hier steht für ihn die Bezugnahme zum Anderen, das Streben nach einem Ausdruck der Welt im Vordergrund. Er sieht die Literaturen der Dekolonisierung in einem Kontinuum:

Sie rufen das Denken des Einen und des Selben auf, jedoch um es zu überwinden (die beiden Formen des Denkens hatten hoch über den Kolonisierungen geschwebt und sie angeleitet). Diese Abweichungen prägen nun auch unser Bewusstsein von der Diversität, mit allem, was an ihr ungewohnt erscheint, denn sie ist ja versprengt, vielfältig und nahezu völlig unberechenbar.44

Diese Betrachtung der Kolonialliteratur deckt sich übrigens mit der von Alain Mabanckou und anderen heutigen Schriftstellern aus Afrika und der afrikanischen Diaspora, die ihr Schaffen ebenfalls in einem räumlichen wie zeitlichen Kontinuum wahrnehmen. Es geht nicht so sehr darum, wer spricht – etwa welcher Hautfarbe oder Herkunft er ist – sondern was ausgesagt wird, das heißt, wie die Weltbeziehung angesprochen wird.
Für die Literatur einer neuen Region der Welt entsteht Schönheit, wenn „der Schriftsteller in der Gegenwart aller Sprachen der Welt schreibt“ – auch wenn er nur eine kennt und von seinem eigenen Ort ausgeht.

So ist Glissant „großzügig“ in seinen Betrachtungen, fern jeder Ideologisierung. Allerdings ist seine Ästhetik anspruchsvoll in ihrem Verlangen nach Schönheit:

La beauté est le signe de ce qui, là, va changer.“

„Die Schönheit ist das Zeichen, dass sich gleich hier etwas verändern wird“.45

Die neuen, vom Anspruch des Einen, des Universellen befreiten Literaturen verursachen Reibung, „sie brechen etwas auf“ (rompent contre) (s.o.)46

Die Literaturen vermitteln uns den Eindruck, dass die Diversität zunächst ein Feld der Verdichtung aller Künste ist (nicht im Sinne der Sammlung, sondern der Reibung – die Reibung wird buchstäblich, also Literatur).

Die Literaturen der Weltbeziehung gewinnen nicht an Wert, indem sie nach „Universalität“ streben, selbst wenn das unser geheimer Wunsch ist (denn in diesem Bereich gehorchen wir noch dem Einen, gefallen uns in einer selbstgewählten Absolutheit): Sie bauen ihre Bleibe, indem sie mit der All-Welt lebhaften Austausch treiben, die in stetem Wandel ist, während sie bleibt. Wir erleben, was die Welt durchmacht, Freude und Leid jeweils an unserem Ort im Detail, wie hier in Martinique, an unserer heimlichen oder ausgesprochenen oder aufblitzenden Poetik.47

Dies bedeutet auch den radikalen Bruch mit der Arroganz aller Weltsichten, die zur Verallgemeinerung streben („arrogances des vues d´ensemble“).

Denn die neue Epoche des 21. Jahrhunderts unterscheidet sich von allen vorigen dadurch, dass in ihr niemand Vorteil aus der Geschichte ziehen kann, das macht das Neue dieser Region aus:

Wir betreten sie, ehemalige Entdecker und ehemals Entdeckte, ehemalige Kolonisatoren und ehemals Kolonisierte, ohne dass irgendein Vorteil in der Erkenntnis, für oder gegen diese und für oder gegen jene, sich aus dem Erbe der Vergangenheit ergibt.48

Wir sehen in Philosophie de la Relation, wie sich die Weltbeziehung weiterentwickelt hat, tatsächlich alle in ihren Bann zieht und damit die „neue Region“ strukturiert.

„Postkolonial“?

Zu seinen Lebzeiten wehrte sich Édouard Glissant gegen die Bezeichnung „Postkolonialer Autor“. Für ihn war sie immer noch zu sehr auf die Vergangenheit bezogen und übernahm die dazugehörigen Denkstrukturen. In seinen letzten beiden Essays Une nouvelle région du monde und Philosophie de la Relation macht er ein weiteres Mal deutlich, dass diese Strukturen überholt sind und wir uns in einer radikal neuen Zeit befinden. Er beschreibt dieses Neue als All-Welt, als den Weltzustand der Kreolisierung und Archipelisierung (selbst der Kontinente!), und entwirft dazu das Paradox einer „neuen Region dieser Welt“, die wir betreten, erkunden und gemeinsam gestalten sollen, die aber nur in unseren Vorstellungen existiert. Sein Ort ist Martinique, eine unbedeutende Insel in der Karibik, und er setzt sie mit allen anderen Orten auf der Welt gleich. Glissant wählt also den größten gemeinsamen Nenner und damit eine grundsätzlich neue Perspektive. Es geht nicht mehr wie früher darum, „auf der Welt“ – es ist die westliche! – Gehör zu finden, wie in unseren europäischen Debatten dies nach wie vor der Fall ist, oder um eine Deutungshoheit, die hauptsächlich in den Medien rezipiert wird. Sein Denken überschreitet hergebrachte Muster und Zugehörigkeiten. Er lehnt sie keineswegs ab, aber für ihn kommt die Veränderung durch den Wandel im Imaginären jedes Einzelnen, ohne die Frage nach der Herkunft (!), sie kommt aus dem Zusammenwirken mit anderen auf die eigene Umgebung, in einer bewusst gestalteten Beziehung zur ganzen Welt.

Glissant löst die nationalen, ethnischen und sonstigen Zugehörigkeiten in den „Differenzen“ auf, denn die Einzelperson ist ebenso komplex wie die Realität, das heißt, sie hat diverse und viele Zugehörigkeiten. Die Forderung, ausnahmslos alle Differenzen als gleichwertig anzuerkennen, ist wirklich subversiv.

In Philosophie der Weltbeziehung, Poesie der Weite verbindet Glissant dies mit einer ästhetischen Betrachtung der Welt, einem neuen Entwurf für die Künste, aber auch für jeden Einzelnen. Beginnend mit den Uranfängen der Höhlenmalerei, besucht der Autor auf der Karibikinsel Martinique den Ort seiner Geburt, doch die Hütte ist von einem Erdrutsch verschüttet, noch eindrücklicher aber, das Geräusch der Quelle, das seine Kindheit begleitete, ist verschwunden. Hier findet er die tiefe Bedeutung des Gedichts als direkte Verknüpfung von Ort und Zeit, eben auch in der Erinnerung, mit dem Imaginären. Nach dem Ansammeln von weiteren Welt-Momenten endet schließlich alles mit dem Bild des Gehens in einem Flüsschen und damit einer Poetik, „bei der jede·r gleichzeitig nach den Krebsen unter dem Stein sieht und in der Zeit von Fels zu Fels springt.“ Der Bogen, den der einzelne Mensch von seinem Ort zur Welt schlägt, stiftet eine „kosmische Intimität“ zunächst in der Sprache – die Differenz der Sprachen ist das anschauliche und tiefe Bild für den Austausch zwischen allen Menschen.

Édouard Glissant benennt in Philosophie der Weltbeziehung unseren Weltzustand, breitet ihn aber in einem poetischen Bild vor uns aus, das die Herausforderungen mit allen Krisen und Gefahren als eine neue Region der Welt darstellt. Die neue Region zeigt sich in unseren Vorstellungen, in unserem Imaginären, wir betreten sie alle zusammen, als viele unterschiedliche Individuen und Gemeinschaften, ohne auch nur eine auf der Welt auszunehmen, um als Einzelne und als Gemeinschaften zu einem Gelingen des 21. Jahrhunderts beizutragen.

Glissant hatte übrigens das Vertrauen, dass die Mondialität in einem Unterstrom schon weiter gekommen ist als uns (und den Herrschenden) bewusst ist. In der Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten sah er ein Zeichen dafür, auch wenn damit noch nicht alles gewonnen war, wie er in seinem Brief an Obama49 gemeinsam mit Chamoiseau ausführte. Vielleicht ist sein wichtigster Beitrag, dass er uns lehrt, diesen Weltzustand in der Schwebe auszuhalten, ohne den Mut zu verlieren. Vielleicht hilft uns sogar dabei, wenn wir die Beziehung zu den Menschen aus anderen Erdteilen intensivieren, anstatt sie zu Sündenböcken für unsere Frustrationen in der Chaos-Welt zu machen.

Nach meinem Eindruck suchen wir alle in Texten, Filmen, Kunst etwas, um unsere Gegenwart zu erfassen. Wenn dies gelingt, erfüllt es uns mit einer Befriedigung, die aber nicht triumphierend ist, sondern uns nicht mehr als ein leises „Aha!“ entlockt. Denn gegenüber dem Bedeutungsvollen, das uns so häufig entgegenschlägt, etwa in der Politik, sind wir im 21. Jahrhundert eher skeptisch geworden. Aus diesem Grund wirken die Schriften von Glissant und anderen, die einen leichteren, unideologischen, offenen Zugang zur Welt haben, befreiend.

Mit meinem Journal wollte ich zeigen, dass dieses andere Denken von Glissant, das manchen fremd und unverständlich vorkommt, in Teilen schon gedacht wurde. Dass es offenbar eine Suche nach einer Überwindung des westlichen Denkens gibt, die immer wieder ähnliche Wege geht. Es ist nur so schwer, unsere Vorstellungen zu verändern, und vielleicht wird es immer schwieriger, weil unser Wirtschaftssystem und unsere westlichen Auffassungen so tief verwurzelt und zugleich so dominant sind, auch in uns selbst. Darauf hat Patrick Chamoiseau kürzlich in einem Text50 erneut hingewiesen. Mit den Fotos und vor allem mit dem Video von Sylvie Glissant wollte ich Glissants Denken an seinem Ort konkretisieren. Zugleich wollte ich diesen beeindruckenden Schriftsteller, der zugänglich und menschenfreundlich war, seinen deutschen Leserinnen und Lesern als Mensch näher bringen.

Édouard Glissant auf der Terrasse des Hauses am Golfe du Diamant, Martinique ©privat

Zweisprachige Leseprobe

Video-Gespräch mit Sylvie Glissant

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Beate Thill im Gespräch mit Sylvie Glissant

 

14.12.2021
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Leseprobe PDF

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Beate Thill, geboren 1952 in Baden-Baden, studierte Anglistik und Geographie. Seit 1983 ist sie Literarische Übersetzerin der Sprachen Englisch und Französisch, mit dem Schwerpunkt Literatur aus »dem Süden«, v. a. aus Afrika und der Karibik. Daneben arbeitet sie als Dolmetscherin, verfasst Texte zur Übersetzungstheorie und für den Rundfunk. Sie hat den kongolesischen Lyriker Tchicaya U Tam’si, den karibischen Autor Édouard Glissant, den Tunesier Abdelwahab Meddeb und die Algerierin Assia Djebar übersetzt. 2014 erhielt sie den Internationalen Literaturpreis vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin für ihre Übersetzung des Romans Das Rätsel der Rückkehr von Dany Laferrière.
https://beatethill.eu/

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