Journale Zwischen Log- und Tagebuch

Konfuzius

Dass es ihn im Roman gibt, wusste ich ja; hatte mir die Autorin doch erzählt, ursprünglich den Roman als einen Disput zwischen Havel und Konfuzius verfassen zu wollen. Außerdem hatte ich das Buch noch vor dem Übersetzungsauftrag gelesen. (Entgegen der – für mich etwas kokett anmutenden – Behauptungen einiger Kolleg·innen, sie würden das Buch, das sie zu übersetzen haben, nicht vorher lesen wollen, um wenigstens ein paar Überraschungen bei der Arbeit zu erleben, lese ich „meine“ Bücher immer im Voraus: Zum Einen, um mir eine Vorstellung darüber zu machen, was auf mich zukommt, zum anderen, weil wir Übersetzer·innen aus den sog. kleinen Sprachen wie z.B. aus dem Tschechischen – aber vermutlich auch aus „größeren“ Sprachen, die nicht zu den unter den Lektor·innen vorwiegend vertretenen Sprachen wie Französisch, Spanisch oder Italienisch gehören – gleichzeitig auch als Scouts arbeiten; wir scannen vorab die Literaturszene unserer Ausgangssprache, verfassen Gutachten über die Neuerscheinungen, fertigen Übersetzungsproben an, schreiben Rezensionen, organisieren Lesungen und Podiumsgespräche – das alles, um „unsere“ Literatur zu vermitteln).

Vorgewarnt war ich also – und hielt bereits bei der Vertragsunterzeichnung Ausschau nach einer deutschen Konfuzius-Ausgabe, aus der ich später elegant die entsprechenden Zitate in meine Übersetzung copy-pasten würde. Das klang nach einem guten Plan, denn im Gegensatz zu Havel schien Konfuzius gar nicht so stark im Roman zu vertreten zu sein: Weit gefehlt.

Er tauchte nur ganz allmählich auf, da oft nicht als Zitat markiert, und er gab sich in vielen Fällen erst dem geübten Auge (oder besser gesagt geübten Ohr) zu erkennen, sprich tatsächlich erst im dritten Durchgang der inzwischen auf 1.128 Normseiten gewachsenen Textmenge. Gerne versteckte er sich auch hinter verschiedenen Namen: Die Bezeichnung Meister Kung war noch einfach zu knacken, aber Namen wie Meister Zeng, Zhong Ni (und, Achtung, Meister Chronos, eine Romanfigur, die aber oft Konfuzius im Munde führte!) mussten erst herausgefunden werden. Und dann hieß es zu bestimmen, ob das Zitat nun aus dem Großen Lernen, Dem Buch von Maß und Mitte oder den Gesprächen stammte. Ohne eine tschechische Konfuzius-Ausgabe ging nun sehr viel Zeit allein auf die Findung und Zuordnung der Zitate drauf; die Worddatei, in der ich am Ende die zitierten tschechischen Stellen mit ihren deutschen Pendants versammelte (Das große Lernen und Maß und Mitte. Übersetzt und kommentiert von Wolfgang Kubin, Herder 2014; Das Buch von Maß und Mitte, Hrsg. von Ferdinand und Uta Fellmann, Philipp Reclam jun. 2015;  Konfuzius, Gespräche. Übersetzt und herausgegeben von Ralf Moritz, Reclam Verlag Leipzig 1982) umfasste an die 50 Manuskriptseiten. So konnte ich aber die jeweiligen Übertragungen besser vergleichen und meine Übersetzung der den Stunden aus Blei zugrunde liegenden Intention anpassen (weil an manchen Stellen die Übersetzungen beträchtlich variierten, ich aber den von der Autorin verwendeten Begriffen folgen wollte und auch musste). Dabei ging es nicht nur um den Unterschied zwischen dem Gebrauch eines Wortes wie z.B. „Weg“ oder „Tao“, sondern um feinere Details wie z.B. der Diskrepanz zwischen „(Baum)stamm“ und „(Baum)wurzel“:

Großes Lernen I. 1

[Hodiny z olova, Seite 389 und 578] věci a bytosti mají kmen [Stamm] a větve [Geäst] a události a jevy mají konec a počátek, a pochopíme-li, co předchází a co následuje, přiblížili jsme se Cestě [Weg].

[Übersetzung Wolfgang Kubin]: Die Dinge haben eine Wurzel und haben ihr Geäst. Alles Tun hat seinen Anfang und sein Ende. Wenn man um die Abfolge weiß, ist man dem Tao nahe.

[Stunden aus Blei, Seite 452 und 679]: Alle Dinge und Wesen haben einen Stamm und ein Geäst. Alle Ereignisse und Erscheinungen haben ihren Anfang und ihr Ende. Wenn wir begreifen, was vorausgeht und was folgt, sind wir dem Weg nahe.

Warum ich mich für Stamm und Geäst statt des Pendants Wurzel und Geäst entschieden habe? Das lag an der bildlichen Umgebung, in der sich das Zitat befand (Seite 452). Denn Meister Chronos, der dieses Zitat spricht, ist ein Weiser, der auf einem Erdquadrat lebt und selbst zu einem Baum geworden ist; hätte ich den – aus meiner Sicht für die dem Großen Lernen zugrunde liegende Metapher passenderen – Begriff „Wurzel“ genommen, hätte ich in die Bildstruktur des Romans eingreifen müssen.

Zitat: „Sie [Die Schriftstellerin] hört auf, mit Menschen im Museum der Illusionen zu reden, und spricht mit Bäumen. Am Ende ihres langen Marsches sitzt sie am Gehsteig und betrachtet Meister Chronos auf seinem Erdquadrat; anstelle von Armen hat er Äste. Seine Stimme säuselnder Wind: Im Namen des Weges zu handeln und auf halber Strecke aufzugeben: Das tue ich nicht. Chronos ist der Stamm und dirigiert seine Worte: Alle Dinge und Wesen haben einen Stamm und ein Geäst. Alle Ereignisse und Erscheinungen haben ihren Anfang und ihr Ende. Wenn wir begreifen, was vorausgeht und was folgt, sind wir dem Weg nahe. Die Schriftstellerin hat schon viel zu viel erlebt. Sie lebt beschleunigt. Sie will lernen fester zu sein, unbeugsamer. Nicht weichen, auch wenn sie sich damit schaden sollte. Den Worten Stärke und Gewicht zurückgeben.“ [Seite 452]

Beim folgenden Beispiel – aus dem Buch von Maß und Mitte – wurde mir vielleicht am besten bewusst, wie seiltänzerisch sich Übersetzer·innen aus dem Chinesischen fühlen dürfen – denn Kürbis und Schilf(rohr) stehen für mich sehr weit voneinander entfernt:

Buch von Maß und Mitte XX 3

[Hodiny z olova, Seite 158]: Politika je něco jako tykev [Kürbis]!

[Wolfgang Kubin]: Eine gute Regierung ist wie das Schilf, das sich schrankenlos ausbreitet.  

[Ferdinand und Uta Fellmann]: Dann ist die Regierung wie ein schnell wachsendes Schilfrohr!

[Stunden aus Blei, Seite 183]: Politik ist so etwas wie ein Kürbis!

Zitat: „Pommerantsch wird unruhig; warum unterstreicht sein Herr nicht einfach die Notwendigkeit, beständig seinem Weg zu folgen? Der Weg bringt im Menschen die Politik genauso zum Wachsen, wie er im Boden die Bäume zum Wachsen bringt. Politik ist etwas wie ein Kürbis! Das weiß aber die Schriftstellerin noch nicht.“ [Seite183]

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen – bis hin zu Stellen, die mir sowohl im Tschechischen als auch im Deutschen ganz verschlossen blieben; dort hatte ich aber den Eindruck, dass sie im Roman quasi eine fernöstliche Stimmung evozieren sollten – und entsprechend habe ich sie auch übertragen:

Buch von Maß und Mitte XXVI 2 

[Hodiny z olova, Seite 277] Co dlouho vytrvá, bývá prokazatelné.

[Ferdinand und Uta Fellmann]: Unablässigkeit führt zur Dauer, Dauer zeigt Wirkung.

[Wolfgang Kubin, Seite]: Und ohne Unterlass währt sie [höchste Treue] lange. Wenn sie lange währt, tritt sie endlich zutage.

[Stunden aus Blei, Seite 320]: Was lange währt, ist nachweisbar.

Im Allgemeinen war mir bei der Übersetzung wichtig, Konfuzius‘ Texte hinreichend zu verstehen, um beim Übertragen ins Deutsche nicht grob gegen ihren Sinn zu verstoßen – die oberste Priorität galt aber der Bewahrung des gedanklichen Aufbaus von Stunden aus Blei. Denn wenn auch Konfuzius dort eine große Rolle spielte, war das, was ihn für den Roman wichtig machte, die Übersetzung von Král (und seine Rezeption von Radka Denemarková) – und nicht seine deutsche Fassung. So mied ich die Begriffe Kindesehrfurcht (Fellmann) oder Pietät (Kubin) und wählte, wie es auch im Roman steht, Sohnestreue (Buch von Maß und Mitte XIX 1 + 2 – deutscher Text Seite 472) mit bewusster Betonung des männlichen Aspekts der Ahnenreihe, denn im Roman wird immer wieder die patriarchalische Gesellschaft auf die Schippe genommen.

Interessant an der tschechischen Konfuzius-Übersetzung von Ondřej Král fand ich auch die direkte Ansprache der Leser·in: Dort, wo in der deutschen Fassung des Buchs von Maß und Mitte der weise bärtige Mann Benimmregeln in 3. Person aufzählt, spricht der tschechische Konfuzius seine Leser·innen mit Du an. Dieser Entscheidung bin ich gerne gefolgt, denn sie erzeugt mehr Nähe und macht Konfuzius‘ Ansprache viel dringlicher, als würde er gar die Leser·innen zum Widerstand anleiten wollen:

Buch von Maß und Mitte XIV 3

[Hodiny z olova 372]: Jsi-li ve vysokém postavení, neutiskuj ty pod sebou. Jsi-li v podřízeném postavení, nelísej se. Opravuj především sám sebe, nežádaje a neočekávaje nic od druhých, pak nebudeš zklamaný a roztrpčený. Jsi-li nahoře, nestěžuj si na nebe, jsi-li dole, neobviňuj druhé.

[Ferdinand und Uta Fellmann]: In hoher Stellung unterdrückt er nicht die Untergebenen, in niederer Stellung kriecht er nicht vor den Oberen. Er korrigiert sich selbst und verlangt nichts von den anderen Menschen; so bleibt er frei von Groll. Nach oben grollt er nicht dem Himmel, nach unten zürnt er nicht den Menschen.

[Wolfgang Kubin]: Steht er [der Edle] ganz oben, so zwingt er niemanden unter ihm. Steht er ganz unten, dann biedert er sich nicht an. Er hält auf sich, und so überfordert er andere nicht, daher kennt er keinen Gram. Oben zürnt er keinem Himmel, unten grollt er nicht seinesgleichen.

[Stunden aus Blei, Seite 432]: Stehst du ganz oben, unterdrücke keinen unter dir. Stehst du ganz unten, biedere dich bei keinem an. Arbeite vor allem an dir selbst und hege keine Erwartungen an die anderen, so bleibst du frei von Groll und Bitterkeit. Bist du oben, sei dem Himmel nicht gram, bist du unten, zürne den Menschen nicht.

Ein Spruch, den man sich unter jedem Regime auf die Fahnen schreiben sollte!

Konfuzius-Statue in Berlin-Marzahn

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