Journale Prosa Erfunden oder vorgefunden? Realia übersetzen
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Erfunden oder vorgefunden? Realia übersetzen

Journal zur Übersetzung von Archipel von Inger-Maria Mahlke

Vorbemerkung
Übersetzung der Übersetzung
Als Schlussakkord: eine Reise von den Kanaren nach Deutschland und zurück
Leseprobe

Vorbemerkung

Der Satz klingt abgedroschen: Jede Übersetzung ist ein Versuch, jene mythische Sprache wiederherzustellen, in der wir uns noch alle verstanden. Ich selbst habe Übersetzung einmal als einen Rettungsflug zwischen zwei Bergvorsprüngen auf den gegenüberliegenden Seiten eines Abgrunds definiert. Stellen wir uns vor, dass auf einem dieser Bergvorsprünge ein Haus errichtet wird (der Originaltext). Unsere wesentliche Aufgabe besteht nun darin, das Haus auf die andere Seite zu bringen. Aber da das Versetzen der ganzen Immobilie über das sprichwörtliche Nichts hinweg ein schier unmögliches Unterfangen ist, muss der Umzug Stein für Stein vonstattengehen. Als erstes wird deshalb das ursprüngliche Haus abgerissen und Stein für Stein abgebaut. (Der erste Schritt des Übersetzens ist ein Akt der Zerstörung.) Die Steine, die wir auf der einen Seite einsammeln (die Bestandteile des Textes in der Ausgangssprache) müssen auf die andere Seite gebracht werden (den Bereich der Zielkultur). Doch nicht alle passen in unsere Rucksäcke und sie wären auch zu schwer für den riskanten Flug über das Nichts. Wir können also nur die wichtigen Steine mitnehmen und, sobald wir den Abgrund überwunden haben, das Gebäude mithilfe der Baumaterialien und Gerüste wiederhochziehen, die uns die neue Umgebung bereithält (die Zielsprache und -kultur). Und das mit dem festen Vorsatz, ein Haus zu errichten, das dem Original so nah wie möglich kommt.

Auch Archipel1 ist um ein Haus herum konstruiert, und das Buch ist gleichzeitig ein Akt der Zerstörung dieses Gebäudes mit dem Ziel, die Erinnerungen dreier kanarischer Familien archäologisch zu erforschen. Der Roman setzt im Jahr 2015 ein (die Erzählgegenwart) und legt Schicht um Schicht des Geländes frei und bohrt dabei in die Tiefe auf der Suche nach Spuren und Verbindungen in die Vergangenheit, aus denen sich eine multiperspektivische Sicht auf die Figuren ergibt, auf ihre individuellen Geschichten und die Geschichte der Insel im Allgemeinen.   

Auf den ersten Seiten werden uns die Mitglieder einer der drei Familien vorgestellt, die konfliktbeladenen Beziehungen zwischen ihnen und ihr Mangel an Kommunikation untereinander. (Die Kommunikationsarmut hat ihren Ursprung in der Familiengeschichte, die der Roman entschlüsseln will.):

Es ist der 9. Juli 2015, vierzehn Uhr und zwei, drei kleinliche Minuten, in La Laguna, der alten Hauptstadt des Archipels, beträgt die Lufttemperatur 29,1 Grad, um siebzehn Uhr siebenundzwanzig wird sie mit 31,3 Grad ihr Tagesmaximum erreichen. Der Himmel ist klar, wolkenlos und so hellblau, dass er auch weiß sein könnte.

Der Besuch der Ausstellung ist Anas Idee. Felipe hat nur eingewilligt, weil er seine Ruhe haben will, Rosa hat nur eingewilligt, weil sie ihre Ruhe will. Zwei Wochen ist das her, Ana hat am Tresen gesessen, gefrühstückt, die Post vom Nichtsowichtig-Stapel geöffnet, die beiden anderen sind zufällig in der Küche. Rosa, weil sie nicht genug süße Kondensmilch in ihren Kaffee getan hat, und Felipe, weil er eine Schere sucht. Wofür, will er nicht sagen.

Ana nimmt einen Umschlag, liest laut: „80 Jahre surrealistische Konferenz von Santa Cruz“. Rosa beobachtet die Öffnung der Milchflasche, an der sich ein zäher, nur langsam dicker werdender weißlicher Tropfen sammelt, aber nicht fällt.

Felipe schließt die Besteckschublade so, dass alles aneinanderstößt und -klirrt und es danach sehr still ist und er zu Ana hinüberblickt, nachsehen, ob sie wütend wird. Ana spießt ein Stück Papaya auf, steckt es in den Mund, zieht die Karte aus dem Umschlag, liest erneut: „80 Jahre surrealistische Konferenz von Santa Cruz … Lasst uns da hingehen“, sagt sie.

Wie wir sehen, beginnt der Roman mit einer Art Wetterbericht, der an den Anfang von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften erinnert. Unvermittelt springt er vom Globalen (mit detaillierten Angaben zu Ort, Uhrzeit und Wetterbedingungen) in die Küche eines Wohnhauses, in dem die drei Mitglieder der Familie (Mutter, Vater und Tochter) uns in der Eingangsszene in ihrem wechselseitigen Desinteresse vorgeführt werden.    

Es 9 de julio de 2015, son las dos de la tarde, pasados dos o tres mezquinos minutos, en La Laguna, antigua capital del archipiélago. La temperatura del aire es de 29, 1 º C, pero a las cinco y veintisiete alcanzará su máximo diario con 31, 3 º C. Un cielo luminoso, sin nubes, de un azul tan claro que podría ser blanco.

La idea de visitar la exposición es de Ana. Felipe accedió para que no lo molestasen; Rosa accedió para que no la molestaran. De eso hace dos semanas. Ana estaba sentada frente a la encimera, desayunando. Ha abierto la correspondencia apilada entre lo „no tan importante“, y los otros dos están en la cocina de pura casualidad: Rosa, porque olvidó poner suficiente leche condensada en el café; Felipe, porque anda buscando unas tijeras, aunque no explica para qué. Ana coge un sobre, lee en voz alta:

—Ochenta años de surrealismo en Tenerife.

Rosa observa la abertura del envase de leche, donde una terca gota de color blanquecino se va hinchando lentamente pero no cae. Felipe cierra la gaveta de los cubiertos con tal fuerza que su contenido entrechoca y tintinea, a lo que sigue un absoluto silencio; entonces mira a su mujer para ver si se enfada. Ana pincha un trozo de papaya, se lo mete en la boca, saca la tarjeta del sobre y vuelve a leer:

—Ochenta años de surrealismo en Tenerife… Vayamos a verla.

Im Verlauf der ersten drei Kapitel, die alle im Jahr 2015 spielen, lernen wir die Mitglieder der Familien kennen und die Personen, die mit ihnen in Verbindung stehen. Wir lernen Julio kennen, Anas alten Vater, der von sich aus in eine Seniorenresidenz gezogen ist, da er keine gute Beziehung zu seiner Tochter zu haben scheint. Wir erfahren, was Ana – die zur politischen Elite der Insel gehört – in den vergangenen Wochen getan hat: Ein Korruptionsskandal, in den sie verwickelt ist, steht kurz davor, ans Licht zu kommen. Wir erfahren, dass Rosa, die Tochter, ihr Studium in Madrid aufgegeben hat und ins Elternhaus zurückgekehrt ist. Wir lernen auch Felipe Bernadotte näher kennen, einen zum Alkohol neigenden Geschichtsprofessor und Spross der Oligarchie Teneriffas, der erfolglos versucht hat, mit der Vergangenheit seiner Familie ins Reine zu kommen. Wir lernen Eulalia kennen, die Hausangestellte; Einar, einen jungen Deutschen mit einer emotionalen Bindung zur Insel (uns wird zu verstehen gegeben, dass er in einer Liebesbeziehung zu Ana steht) und noch eine Reihe weiterer Nebenfiguren (wie Jabi und Amalia).

Übersetzung der Übersetzung

Wenn man ein Werk übersetzt, dessen Handlung in einem deutschen Kontext spielt, muss man als Übersetzer Strategien entwickeln, um die Realia des deutschen Sprachraums in die Zielkultur zu übertragen, also die Besonderheiten, die im neuen Umfeld unbekannt sind und für die es in der neuen Sprache für gewöhnlich keine Entsprechung gibt. Wenn uns in einem Roman zum Beispiel die Abkürzung KdF begegnet, müsste irgendwie erklärt werden (sei es mithilfe einer Fußnote, der wörtlichen Übersetzung des Namens oder einer Einfügung in den Text), welche Bedeutung die Organisation Kraft durch Freude im Kontext des Nationalsozialismus hatte.

Als Autorin hat Inger-Maria Mahlke eine ähnliche Strategie verfolgt, eine Art Vor-Übersetzung der Realia der Insel Teneriffa mit dem Ziel, diese den deutschen Leser·innen zu vermitteln. Der Spanischübersetzer sah sich in diesen Fällen gezwungen, seine Version von den erklärenden Zusätzen zu „bereinigen“, da die Realia für die spanischsprachigen, und weniger noch für die kanarischen, Leser·innen keiner Erklärung bedürfen. Eines der offensichtlichen Beispiele: Wenn auf Seite 68 im Original auf Spanisch von Cabildo gesprochen und die Erklärung angefügt wird, dass es sich um die Inselregierung handelt, muss in der spanischen Übersetzung der Text von dieser für das kanarische Lesepublikum überflüssigen Information „bereinigt“ werden. Dasselbe gilt für eine Reihe von Bezeichnungen wie chumberas2, calima3, cardones4, bubango5, usw.

(Bei diesen Realia, die im Original mit ihrer spanischen Bezeichnung wiedergegeben werden, verweist die Autorin auf ein umfangreiches Glossar am Ende des Buchs, das wir in der Übersetzung weggelassen haben. Kurioserweise wird den deutschen Leser·innen in diesem Glossar sogar erklärt, wer Franco war.)

Das kritische Überprüfen des Textes ist das, was dem Übersetzer den größten Rechercheaufwand beschert und einen Austausch mit der Autorin erfordert: Es war das, wofür ich am meisten Zeit benötigt habe. Der Kritiker Denis Scheck hat nur zum Teil recht, wenn er behauptet, beim Lesen von Archipel sei es ihm so vorkommen, als würde er die deutsche Übersetzung eines ursprünglich auf Spanisch verfassten Romans vor sich haben.  Zweifellos hat die Autorin, die einen Teil ihres Lebens auf der Insel verbracht hat und deren Mutter von den Kanaren stammt, eine umfangreiche Recherchearbeit geleistet, um diesen Roman zu komponieren. Mit Archipel hat sie zusätzlich eine Übersetzungsarbeit geleistet, um die Realität der Insel Teneriffa den deutschen Durchschnittsleser·innen nahe zu bringen.

Von 2009 bis 2013 habe ich selbst auf den Kanaren gelebt und verfolge regelmäßig die Literatur dieser Region und Publikationen zu kulturellen Themen der Inseln (gerade auch über ihre Beziehung zu den deutschsprachigen Ländern), weswegen ich nach der Lektüre von Archipel das Buch unbedingt übersetzen wollte. Mich faszinierte nicht nur, wie Mahlke die Geschichte dreier Familien aus Teneriffa erzählt und diese in die Geschichte der Insel und ihrer Eliten einfügt. Die Erinnerungsarbeit der Autorin bei der Schaffung dieses Romans kann an sich schon als notwendige (und noch nicht vollständig erbrachte) regionale und nationale Erinnerungsarbeit verstanden werden. 

Zu den Schwierigkeiten, auf die ich schon von Beginn an stieß, zählten der elliptische, manchmal sogar kryptische Stil, die jähen Wechsel der Zeiten in der Erzählung und der Entschluss der Autorin, die Geschichte in der Rückschau zu erzählen.

Dazu kam noch die Notwendigkeit, die Sprache der Figuren an die kanarische Sprechweise anzupassen, an die gewohnten Stimmen der Insel, um Objekte oder Elemente der Flora und Fauna zu bezeichnen. Für all das standen mir meine eigenen Erfahrungen, einige gute Wörterbücher mit canarismos (auf den Kanaren gebräuchliche Ausdrücke) und ein Netz von Kontakten zur Verfügung, die mir im Falle eines Falles meine Zweifel nehmen konnten.

Doch was in Wirklichkeit die größte Herausforderung bei der Übersetzung dieses Romans darstellte (ein hochliterarischer Roman, ein Roman über die Kanaren und mit kanarischen Figuren von einer deutschen Autorin geschrieben, mit einer kanarischen Handlung und einem kanarischen geschichtlichen Hintergrund), war das Bewusstsein, dass das Ergebnis vom spanischen und kanarischen Lesepublikum einer genauesten Überprüfung unterzogen würde. Jegliche Unstimmigkeit, fehlerhafte Information oder falsche Darstellung von Details, die sich in den Roman eingeschlichen hätte, würde von den deutschen Durchschnittsleser·innen, für die Inger-Maria Mahlke ursprünglich geschrieben hat, nicht einer solch gründlichen Überprüfung unterzogen. Eine gewöhnliche spanische Leser·in hingegen – und vielmehr noch eine kanarische oder, um den Kreis noch enger zu fassen, eine aus Teneriffa, könnte – in der Tat – dazu neigen, den Roman im Ganzen als schlecht zu bewerten (und auch die Übersetzung), wenn diese Details nicht korrigiert würden. Darin lag das größte Risiko. Folglich bestand aufgrund meiner Verpflichtung gegenüber der Autorin und dem Werk ein guter Teil meiner Arbeit darin, bei der Überprüfung aller im Buch beschriebenen Realia äußerst pingelig zu sein.

Schauen wir uns dieses Phänomen, dem ich dieses Journal widmen möchte, anhand einiger Beispiele genauer an:

Auf den ersten Fall stoßen wir schon in den oben wiedergegebenen Absätzen: Der zweisprachigen Leser·in wird wohl aufgefallen sein, dass die Autorin von „80 Jahre surrealistische Konferenz von Santa Cruz“ spricht und dass in der Übersetzung von „Ochenta años de surrealismo en Tenerife“ („80 Jahre Surrealismus in Teneriffa“) gesprochen wird.

Was Ana an dieser Stelle laut vorliest, scheint die offizielle Einladung zu einer Ausstellung zu sein, die im Mai 2015 wirklich eröffnete, anlässlich des 80. Jahrestages der „Exposición Surrealista“ (Surrealismus-Ausstellung), die 1935 in Teneriffas Hauptstadt im Beisein von niemand geringerem als André Breton höchstselbst stattfand.

Für die Übersetzung hatte ich etwas Material über die beiden Ausstellungen zur Hand (die ursprüngliche von 1935 und die, die anlässlich des 80. Jahrestag 2015 stattfand). Zu keiner der beiden Gelegenheiten wird von einer „conferencia“ (Konferenz) oder einem „congreso“ (Kongress) gesprochen.6 Also nutzte ich den direkten Kontakt zur Autorin, um sie zu fragen:

37) Im Allgemeinen: ich habe in der ganzen Übersetzung auf die Bezeichnung „La Conferencia de los Surrealistas“ verzichtet, da es sich um ein reichlich dokumentiertes Ereignis handelt. Dafür benutze ich den Ausdruck: La exposición surrealista, wie es üblicher bekannt ist. Was meinen Sie? Zwar gab es ein paar Vorträge während des Besuchs von Breton und anderen auf der Insel, aber alles drehte sich um diese wichtige Ausstellung. Das Ereignis gilt immer noch als das Non-Plus-Ultra in der Literaturgeschichte der Insel.

Die Autorin sprach sich gegen diese Entscheidung aus. Ihre Argumentation ist nachvollziehbar, da ihr die konnotative Ebene wichtiger ist als die präzisen Daten: Im Rahmen der Ausstellung hielt André Breton auf Teneriffa einen Vortrag mit dem Titel „Arte y política“ (Kunst und Politik); bei der Veranstaltung waren andere Surrealisten aus Teneriffa anwesend und auch Benjamin Péret, der zusammen mit Breton und seiner Frau aus Frankreich angereist war; es wurde ein Film gezeigt. Die Autorin ist deshalb der Ansicht, dass die alleinige Wiedergabe des offiziellen Titels der Veranstaltung, „Exposición Surrealista“7, die leicht prätentiöse Konnotation des Aufruhrs, den der Besuch auslöste, und die Bedeutung, die ihm in der Kulturgeschichte der Insel beigemessen wird, verdeckt. Sodass wir uns am Ende auf einen Kompromiss einigten: Für die Feiern im Jahr 2015 soll ich mich auf den realen Titel der Hommage halten, „Ochenta años de surrealismo en Tenerife“ (Achtzig Jahre Surrealismus auf Teneriffa), in dem Kapitel, das 1935 spielt, behielten wir aber den Begriff „conferencia“ (Konferenz) bei, da es in diesen Passagen keine direkten Verweise auf den offiziellen Titel jenes Ereignisses gibt.

Es gibt viele weitere Beispiele für diese Diskrepanzen zwischen der Realität und der konnotativen Bedeutungsebene, zwischen bekannten historischen Ereignissen und dem Willen der Autorin, bestimmte Aspekte zu fiktionalisieren.

Weil mir in einigen Abschnitten nicht klar war, was die Autorin als historisches Ereignis wiedergeben und was sie fiktionalisieren wollte, enthielt meine Liste an Zweifeln am Ende um die 160 Fragen. Hier eine weitere:

35) S. 370: „die rote Lilie“. Hier handelt es sich um eine Referenz zu einer historischen Figur, die „Azucena Roja“. Bis dahin glaube ich, verstanden zu haben. Aber dann kommt diese „Claridad Femenista“ (Eigentlich sollte es Feminista heißen, mir ist es aber wichtiger eine andere Sache: die historische Figur, Isabel González González gründete eine Liga Femenina Socialista. Was ist dann hier Claridad Feminista? Eine Zeitschrift, eine fiktionalisierte Version des Namens der von ihr gegründeten Organisation?

In diesen Fall wünscht die Autorin, dass der wirkliche Name der Organisation „Liga Femenina Socialista“ durch einen fiktiven Namen ersetzt wird, sodass ich mich darauf beschränke, den Flüchtigkeitsfehler, der in der deutschen Version unbemerkt blieb, zu korrigieren und sie „Claridad Feminista“ zu nennen.

Ganz anders verhält es sich allerdings bei einem anderen realen Ereignis, das in der Handlung erwähnt wird: ein Überfall auf eine Straßenbahn im September 1934, bei dem ein Student ums Leben kommt. Der Name des Studenten war Agustín Bernal, im Buch erscheint er als Augusto. (Siehe S. 349 des Originals.) Im Netz finde ich einen gut dokumentierten Artikel über das historische Ereignis.

Ich muss auch hier die Autorin fragen, und sie ist einverstanden, den wahren Namen der historischen Person zu nennen.

Mir ist bewusst, dass es ein Roman über eine spanische und kanarische Realität ist, der aber zuallererst für ein deutsches Publikum bestimmt ist. In diesem Sinne wird er nie aufhören, ein ausgesprochen deutscher Roman zu sein. Doch eine der Zusatzaufgaben bei dieser Übersetzung ist es, das zu korrigieren, was verzerrt am anderen Ufer gelandet ist. Sehen wir uns weitere Beispiele an:

a) S. 117: Eh, niñas statt Ey, chicas

In der kanarischen Umgangssprache werden der chico und die chica, die man vor allem in Festlandsspanischen bei der liebevollen Ansprache verwendet, durch ein niña oder niño ersetzt. In der Alltagssprache sind „mi niña“ oder „mi niño“ sehr gebräuchliche Ausdrücke. Ich konsultiere die Autorin zu meinem Änderungsvorschlag und sie ist einverstanden.

b) S. 116-117: HiperDino statt Hipermercado

Um der spanischen Übersetzung mehr Lokalkolorit zu verleihen, bietet es sich an, den realen Namen einer auf der Insel sehr bekannten Supermarktkette zu verwenden: den HiperDino.

c) S. 72: Hand auf der Bibel

Es ist hier die Rede von einer Figur, die einen Amtseid schwört. Beim Übersetzen erinnere ich mich an ein Thema, das um das Jahr 2008 die Aufmerksamkeit der Medien in Beschlag nahm, als die Partei Izquierda Unida (Vereinigte Linke) einen nicht legislativen Vorschlag einbrachte, bei Amtseiden religiöse Symbole zu entfernen. Diese Forderung stütze sich darauf, dass Spanien ein laizistischer Staat ist, wodurch es mit dem Gesetz unvereinbar sei, Amtseide vor religiösen Symbolen zu leisten. Nach der Lektüre mehrerer Artikel dazu kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass die Personen, die öffentliche Ämter antreten, wählen können, ob sie die Treue zur Verfassung und zum König versprechen oder schwören. Bei diesem Ritual können eine Bibel und ein Kruzifix neben der Verfassung liegen. Der amtierende Ministerpräsident Pedro Sánchez, etwa, hat bei seinem Amtseid auf Bibel und Kruzifix verzichtet. Und all seine Minister taten es ihm gleich. Das war das erste Mal seit der Wiedereinführung der Demokratie, dass auf religiöse Symbole verzichtet wurde. Was in keinem Fall üblich zu sein scheint, ist, den Schwur mit der Hand auf der Bibel zu leisten. Mit dem Aufstieg der Parteien der extremen Rechten, wie Vox, scheint es allerdings üblicher zu werden, dass einige Abgeordnete in den autonomen Gemeinschaften – um sich abzuheben – ihren Abgeordneteneid mit Bibeln und Kruzifixen auf ihrem Pult leisten oder dass sie ihn „für Gott und für Spanien“ sprechen, wie dies Abgeordnete von Vox 2019 im Parlament Valencias taten.8 Dieses Ereignis kam aber gerade deshalb in die Schlagzeilen, weil es eine Abweichung von der Norm des Parlaments dieser Region darstellte.

Im konkreten Fall dieser Nebenfigur würde es in der Übersetzung vor allem wichtig sein, den Leser·innen deren rechte politische Einstellung zu vermitteln. Dennoch fragte ich bei der Autorin nach:

22) S. 72: „eine Hand auf der Bibel“. Da habe ich mich ein wenig erkundigt: Seit einigen Jahren ist es erlaubt, dass Beamten und Politiker in allen Ebenen ihre Ämter VOR einer Bibel schwören. Die Hand aber immer auf die Verfassung. Wenn man hier (wie ich vermute) nur darauf anspielen soll, dass Andrés Rivera ein Konservativer und frommer Katholik ist, dann könnte man schreiben: „insistió jurar el cargo en presencia de una Biblia“9 oder so etwas ähnliches.        

Die Autorin war einverstanden.

(Dieser Abschnitt ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein anscheinend unbedeutender Aspekt in einem Roman von mehr als 400 Seiten vom Übersetzer einen Rechercheaufwand erfordert, der in keinem Verhältnis zur Länge der fraglichen Textpassage steht, der aber sehr wichtig ist, wenn man die Prüfung durch das spanische Lesepublikum bestehen will.)   

d) Der „Tanque de Abajo“

Einen anderen Fall, wenn auch mehr oder weniger entgegengesetzt, finden wir auf Seite 95. Dort wird ein „Tanque de Abajo“, ein öffentlicher Wasserspeicher, erwähnt. Bei meinen Recherchen als Übersetzer stütze ich mich auf eine Bibliographie, die offensichtlich nicht mit der von der Autorin konsultierten übereinstimmt, die ihre Beschreibungen zusätzlich auf von ihrer Familie weitergegebene Erinnerungen stützt. Es folgt meine Frage nach dem Standort dieser „Wasserstelle“, die sich auf die von mir zu Rate gezogene Bibliographie stützt:  

27) S. 95: Und dann, ein Absatz darunter: „Die Schienen führen am Tanque de Abajo vorbei (…) herausgebrochen“. Ich habe hier einen Artikel im Netz gefunden, der vieles von diesem „abrevadero“ (tanque) erklärt. Sehen Sie diesen Link und die Fotos. Der Autor von diesem Artikel kommt zu dem Schluss, dass der abrevadero nicht auf der Strecke La Laguna-Santa Cruz sein kann, sondern in der Strecke La Laguna-Tacoronte, da die Tram damals, in den -30er Jahren, bis zu Tacoronte hinfuhr. Dann könnte der Tanque nicht „im Süden der Stadt“ sein, sondern eher Richtung Norden.

Die Autorin ist der Ansicht, dass meine Informationen nicht korrekt sind. Ihre Quelle dafür ist ein Buch von Gilberto Alemán, La pequeña historia de un tranvía (Die kleine Geschichte einer Straßenbahn) von 1992, das mir nicht zur Verfügung stand. Aber das Foto, auf das ich sie hingewiesen habe, scheint von dem „abrevadero“, der Wasserstelle, zu sein, den sie in ihrem Buch erwähnt. Inger-Maria Mahlke erzählt mir, dass ihre Urgroßmutter, ihre Großmutter und ihre Großtanten jahrelang an dem Speicher auf dem Foto Wasser holten. Nach den Informationen der Autorin gab es einen „Tanque de Arriba“ (Oberen Wasserspeicher), der im Norden der Stadt gelegen war, aber ganz anders aussah.

(Ich beschließe, in diesem Fall nicht weiter nachzuforschen, um die Genauigkeit der Informationen zu dem Ort, an dem sich der Wasserspeicher befand, zu überprüfen, sondern den Konnotationen, die die Erwähnung für die Autorin hat Vorrang einzuräumen, und ihren Quellen zu vertrauen. Archipel – sage ich mir – ist letztlich kein Geschichtsbuch, sondern ein Werk der Fiktion. Den spanischen Leser·innen muss der Verweis auf einen alten Tanque de Abajo (Unterer Wasserspeicher) reichen, der sich in den 1930er Jahren neben der Trambahntrasse von La Laguna nach Santa Cruz de Tenerife befand.)

e) „Übersetzung der Übersetzung“

„Es muss draußen gewesen sein.“ Andrés Rivera hebt den Daumen, erstens: ,La Traviata.‘ Er deutet mit dem Kinn in Richtung Fenster. Zeigefinger, zweitens: ,Als wir unten in der Marina essen waren, haben wir über das Projekt geredet.‘ Und gleich hinterher, sein Mittelfinger: ,Beim Empfang des Orfeón de la Paz, draußen auf der Terrasse. Mehr fällt mir nicht ein.‘“ (Archipel, S. 55)

Die Autorin hat die Geste des Abzählens an den Fingern ins Deutsche „übersetzt“. Bei uns werden die Finger aber in einer anderen Reihenfolge gehoben. In einem Roman mit deutschen Figuren in einem deutschen Kontext könnte der Übersetzer überlegen, ob es notwendig ist, spanischsprachigen Leser·innen diese abweichenden kulturellen Informationen zu geben. Aber in diesem speziellen Fall mit spanischen Figuren bleibt keine andere Wahl als eine Zurück-Übersetzung.

—Tiene que haber sido en exteriores —continúa, alzando el índice—. Número uno: en La Traviata. —Con un gesto del mentón, señala hacia la ventana. Levanta el dedo corazón—. Dos: cuando estuvimos comiendo en La Marina, donde hablamos del proyecto. —Y entonces extiende el anular—. O en la recepción del Orfeón La Paz, fuera, en la terraza. No se me ocurre nada más.10

f) Die kanarische Umgangssprache: Wenn die Korrektorin vom spanischen Festland stammt

Wie ich zu Anfang erwähnt habe, ist ein Aspekt, den man berücksichtigen muss, die Besonderheiten der Sprache der Kanarischen Inseln im Roman zu bewahren. Ein gutes Beispiel dafür sind zwei Wörter, die sich in mehreren Momenten des Buches wiederholen: Erdnüsse und Schublade.

Da ich ursprünglich Kubaner bin, erschien es mir kurios und gleichzeitig vertraut, als ich nach mehreren Jahren in anderen Ecken des spanischen Festlands 2009 nach Teneriffa zog und mir das in meinem Land gesprochene Spanisch gleich mehrfach begegnete. Maní (Erdnuss) und gaveta (Schublade) sind zwei dieser Vokabeln, die der kubanische und der kanarische Wortschatz miteinander teilen.

So stellte es für mich kein Problem dar, diese beiden Wörter direkt mit maní (oder im Plural: maníes oder manises) und gaveta zu übersetzen.   

Doch die exzellente Korrektorin des Verlags Vegueta Ediciones stammt vom spanischen Festland, es gibt also keinen Grund, warum sie diese kanarischen Varianten kennen muss, sodass sie vielleicht dachte (wie ich es schon bei anderen Verlagen erlebt habe), dass es sich um cubanismos11 handelte, die von mir unrechtmäßig in den Text hineingebracht worden waren. Notwendig war es also, die in die Fahnen hineinkorrigierten Ausdrücke vom spanischen Festland erneut zu streichen: cacahuete (Erdnuss) und cajón (Schublade).

Als Schlussakkord: eine Reise von den Kanaren nach Deutschland und zurück

In den vergangenen Jahren sind meines Wissens zwei literarisch anspruchsvolle deutsche Romane erschienen, deren Schauplatz die Kanarischen Inseln sind: Neujahr (Año Nuevo) von Juli Zeh12 und Archipel (Archipiélago) von Inger-Maria Mahlke.

Doch was die Strategien betrifft, die die Übersetzerin oder der Übersetzer ins Spanische wählen muss, weisen beide Romane deutliche Unterschiede auf:

In Neujahr sind die Kanaren – und konkreter noch die Insel Lanzarote – nicht mehr als eine Kulisse für die individuelle Geschichte einer deutschen Figur, die während ihres Urlaubsaufenthalts auf dieser Insel bestimmte traumatische Erfahrungen ihrer Kindheit erneut durchlebt. Die Recherchearbeit der Person, die übersetzt, beschränkt sich – um ein Beispiel zu geben – darauf, sich mit einigen landschaftlichen Besonderheiten der Vulkaninsel vertraut zu machen, die in Zehs Erzählung einen ziemlich großen Raum einnimmt.

Mahlkes Roman begibt sich dagegen auf eine ganz andere Reise, die nach meinem Urteil spannender ist. Die Autorin, die zwischen Lübeck und Teneriffa aufwuchs, taucht weit in die Tiefe, um auf mehreren Ebenen die Erinnerung wiederzuerlangen: eine familiäre Erinnerung (ihre Mutter stammt von den Kanaren), eine insulare Erinnerung und eine europäische Erinnerung. Und dazu führt sie eine fast archäologische oder kriminalistische Untersuchung durch, in der sie eine um die andere Bodenschicht freilegt, die es uns erlauben, Bruchstücke einer Familiengeschichte aufzuspüren, die auch mit der Geschichte der Kanaren, Spaniens und Europas verflochten sind.

Alle ihre Figuren sind Kanaren oder haben ihren Lebensmittelpunkt auf den Inseln. Die Realitäten, die sie von der Gegenwart des Jahres 2015 aus bis in die weit entfernte Vergangenheit des Jahres 1919 beschreibt, sind kanarisch. Und um diese Realitäten und geschichtlichen Besonderheiten dem deutschen Lesepublikum (das nicht als Tourist auf den Inseln war) nahezubringen, sah sich die Autorin gezwungen, diese weniger bekannten Aspekte des Schauplatzes in die Erzählsprache (das Deutsche) zu „übersetzen“.

Dieser Umstand erfordert vom Übersetzer, der sich verpflichtet hat, diese kanarische Geschichte zu den kanarischen Leser·innen zurückzubringen, einen zusätzlichen Rechercheaufwand, um entscheiden zu können, welche dieser Realitäten nicht zurück-übersetzt werden müssen, welche Elemente zur konnotativen Sphäre der Autorin gehören, zu ihrer Familienerinnerung, zu ihren eigenen Interpretation der Ereignisse, welche andere dem Wunsch entsprungen sind, bestimmte Aspekte zu fiktionalisieren, und welche Einzelheiten aus dem ein oder anderen Grund dazugekommen sind, verzerrt durch Gedächtnislücken oder Fehler.

Dasselbe würde geschehen – und in der Tat geschieht es –, wenn ein spanischsprachiger Autor ein Buch mit deutschen Figuren, Geschichten und Orten verfasst. (Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich die Seiten eines Romans eines kubanischen Autors durchzusehen, in denen das Leben von Stefan Zweig erzählt wurde, Seiten, auf denen ich viele falsche Dinge über Wien korrigieren musste. Und das nicht, weil der Autor die Stadt nicht kennen würde, aber in seinen Beschreibungen ließ er sich einzig von den Bildern in seinem Gedächtnis leiten, ohne sie anhand der tatsächlichen Gegebenheiten zu überprüfen.)

Es geht bei der Übersetzung von Archipel darum, dem spanischsprachigen Lesepublikum eine Realität zu vermitteln, die der, die es kennt, so nahe wie möglich kommt, aber ohne danach zu streben, dass dieser Roman „als ein ursprünglich auf Spanisch geschriebenes Buch“ gelesen wird. Archipel/Archipiélago wird immer ein deutscher Roman sein, geschrieben von einer Autorin, deren Leben von diesen zwei Realitäten geprägt ist: der deutschen und der kanarischen, aber deren Literatursprache das Deutsche ist.

In diesem Sinne besteht die Aufgabe des Übersetzers auch darin, so weit wie möglich zu vermeiden, dass die gewöhnlichen spanischen Leser·innen (und insbesondere diejenigen von den Kanarischen Inseln) sich nicht mit dieser großartigen Geschichte identifizieren oder dass sie das Buch (das in seinem Stil und Aufbau höchst bemerkenswert ist) im Ganzen ablehnen, weil einige Details nicht ihrer Realität entsprechen.

Es handelt sich, kurz gesagt, um eine zusätzliche Leistung des Übersetzers, die bei einem deutschen Roman über eine spanische Realität unerlässlich ist und dem neuen Leben des Buches auf Spanisch zugutekommt.

Wien-Straelen-Teneriffa, Juni 2021-Februar 2022.
Veröffentlicht im April 2022

Leseprobe

Fußnoten
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©EÜK Straelen

José Aníbal Campos, 1965 in Havanna geboren, ist seit 1999 freiberuflicher Literaturübersetzer. Er übersetzte Peter Stamm, Gregor von Rezzori, Martin Mosebach, Marie-Luise Scherer, Sten Nadolny, Maja Haderlap, Martin Suter, Stefan Zweig, Hermann Hesse, Inger-Maria Mahlke, u.v.a. Er lebt in Spanien. Vom 2017 bis 2021 war er Koordinator des Übersetzerteams, das an der spanischen Ausgabe der Gesammelten Schriften Alexander von Humboldts gearbeitet hat.

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