Journale Lyrik Rhythmus und Oberfläche

Rhythmus und Oberfläche

Journal zur Übersetzung von Luboš Svobodas »M-a-n-u-e-l-l-e Arbeit«

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ARBEIT
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M

Dieser Text umfasst 4.335 Wörter oder 30.332 Zeichen einschließlich Leerzeichen. Das dazugehörige Buch umfasst 11.316 Zeichen ohne Leerzeichen. Zwischen der ersten und der dritten Fassung der Übersetzung ging die Übersetzerin 122.000 Schritte. Das hoffen wir zumindest. Zugriffe auf ihre Homepage innerhalb der letzten Woche: 36.

A

Die Texte von Luboš Svoboda stellen sich den Wahrnehmungen, die sich durch unsere alltägliche Erfahrungswelt der Zahlen, Algorithmen, Datensammlung und Codes grundlegend geändert hat. „Man nimmt an, dass die Menschheit heute innerhalb von zwei Tagen so viele Daten generiert wie in ihrer gesamten Geschichte vor dem Jahr 2003.“ (Steffen Mau: Das Metrische Wir) So leben wir, lesen wir. Wahrnehmungen neu sortieren, datieren, Denken verschieben, dichten.

Grafik: © Luboš Svoboda

Luboš und ich trafen gemeinsam eine Auswahl von Gedichten für die Übersetzung, um die es hier geht. Es sind nur 17 Texte, aber insgesamt begleitet mich sein Ton nun schon lange. Die Textauswahl hat sich immer wieder leicht verändert. Würden wir noch ein paar Monate warten, dann würde ein wieder anderes Buch daraus werden. Vielleicht ist das auch ganz richtig so, weil die Zeit, in der ich lebe, sich auch verändert. Jeden Tag so viele neue Daten. Die ersten paar Texte bekam und bearbeitete ich 2019, sie waren damals für eine Lesung bestimmt. Diese Auswahl erschien mir zwei Jahre später nicht mehr zeitgemäß – welcher Zeit? Vielleicht meinem persönlichen Gefühl von Zeitverlauf gemäß; das während der Pandemie zunehmend technologisch vermittelte und geformte Kontakthalten mit und Zugehen auf andere Menschen veränderte auch meine Perspektive noch einmal – und ich wollte neuen Input, suchte neue Stücke aus. Luboš ließ mich, wandte nur hier und da etwas ein, schmiss meine Entscheidungen nicht um, legte aber die Reihenfolge fest. Wir hätten die Dramaturgie auch nach einem hierfür ersonnenen Algorithmus generieren können, das hatte ich zwischendurch befürwortet. Dann hätte das Buch insgesamt wahrscheinlich stärker vom Coding gehandelt. Vielleicht wäre es weniger emotional geworden?

Die Frage bleibt offen, Coding ist ja durchaus nicht ohne Emotion – E-motio, nicht ohne Rhythmus – Bewegung. Eine bestimmte Vorstellung und Imagination des Programmierens und des Programmierten schreibt ihm irgendwie Kälte zu und – na klar – Objektivität. Aber irgendwo sitzt immer jemand, eine reale Person, die die zentralen Entscheidungsmomente ins Programm einfügt, die etwas einspeist, sie einschreibt, die angeblich kalten Daten. Sie in eine Reihenfolge bringt. Aussagen damit trifft.

N

Ich nehme Rhythmus und Oberfläche als Ausgangspunkt für diesen Text.

Rhythmus und Oberfläche als Eingangspunkt für das, wie Uljana Wolf sagt, „Dichten mit Zielsprache“ (Ethymologischer Gossip). Als Knotenpunkt für das Dichten mit dem Spinnennetz von Virginia Woolf mit zwei o, an vier Ecken mit dem Leben verknotet, vermittelt (Ein Zimmer für sich allein).

Vermittelte Zugänge zur Wirklichkeit: Das Quantitative liegt nicht fern, sondern längst auf meiner Hand, auf meinen Fingerkuppen. Die Oberfläche ist nicht das, was man wegkratzen muss, um zum Kern des Geschehens zu kommen, die Oberfläche ist selbst die Handlung, in die ich mich einschreibe.

Eingehen ins
Fingerkuppengeschehen.

Technologisch vermittelte Umgangsweisen zwischen den Menschen sind verbunden mit der quantitativen Idee von Gesellschaft. Sprachlich vermittelt, auf einer anderen Ebene. Und zum Beispiel in diesem Gedichtband, den ich bearbeite, dem zweisprachigen, auch vermittelt in der übersetzerischen Form, die auf ihre Weise recht offensichtlich macht, Form zu sein, gesellschaftlich vermittelt mit allem, was dazu gehört. Am direktesten gesagt: vermittelt durch die und in der Person der Übersetzerin. Der übersetzte Text kommt in den Wörtern und Melodien heraus, die sie, also in diesem Fall ich, im Laufe ihres Lebens gelernt hat, für intersubjektiv verständlich und verhandelbar zu begreifen. Meine Erfahrungen, meine Sozialisation, meine Beschädigungen sind nie dieselben wie diejenigen der Autorinnen und Autoren, die ich übersetze. Ich übersetze auf der Basis meines Gewordenseins in der Welt, in der ich aufgewachsen bin, aufgewacht bin, jeden Morgen aufwache, und auf Basis des Vertrauens in etwas, das unter den Menschen in all ihrer Verschiedenheit kommunizierbar sein muss. Ich mache jedoch keinen Hehl daraus, dass ich nicht in derselben Familie, derselben Stadt oder mit denselben Problemen aufgewachsen bin wie „meine“ Autorinnen und Autoren. Ich entferne mich immer von ihnen, und die Distanz, das Fremdsetzen, ist sogar der basale Modus. Durch Versprachlichung mich in einen Abstand setzen, den Sachverhalt ansehen, besser begreifen, besser ertragen können: Insofern ist jede Sprache Fremdsprache.

Grafik: © Luboš Svoboda

Die Form der Übersetzung im Material: Hier zeigt sich ein zunächst einmal ungewolltes Paradox. Am Ende werde ich ein handgemachtes Heftchen in der Hand halten. Abgetippt zwar, aber doch analog. Auf Papier gedruckt. Es wird ein Streichen über die Papierstruktur, kein Scrollen, Swipen, Klicken, aber Oberfläche und Fingerkuppengenuss vielleicht doch. Werden wir es schaffen, die Texte, ich, der Autor, der Verlag, es dennoch anzubieten, das Digitale im Oberflächengeschehen, das Gefühl des Tippens, der virtuellen und metrischen Idee von uns selbst mitzunehmen in die Lektüre eines individuell nummerierten Liebhaberinnenbüchleins? Ökonomisch gesehen ist es ja einigermaßen irrsinnig, so teuer, wie das Papier zur Zeit ist, wird das Drucken der Texte darauf womöglich noch eine Entwertung des Materials darstellen, eine zweckfreie Investition also, während ein Gedicht online, wenn es sehr beliebt wäre, noch Klicks produzieren und Werbeeinnahmen generieren könnte… Oder? Machen manche Gedichte das? In dieser Gedankenfigur würde ich natürlich für die Zweckfreiheit plädieren. Am Ende lassen wir uns dann auch noch auf die altbekannte Spielerei ein, einen QR Code „statt eines Nachworts“ abzudrucken. Das Digitale mitnehmen ins handgestempelte Heftchen kann heißen: möglicherweise eine Zielgruppe überraschen, möglicherweise mit der Notwendigkeit der Konzentration auf ein Buch das Hinterfragen einer metrischen Wahrnehmung verstärken, eine Entfernung davon unterstreichen, möglicherweise aber auch eine analoge Rache üben. Die künstliche Intelligenz mitnehmen ins Heftchen als Grafik, auch das; und es kommt einem beinahe normal vor, es wirkt, nur dem Wesen auf dem Bild, dem Menschen vor dem Greenscreen, dem scheint das offensichtlich doch ein bisschen schleierhaft.

„Die Übersetzung sollte also nicht verwechselt werden mit dem übersetzten Text; die Übersetzung ist, wie treu auch immer der Übersetzer dem Original gefolgt sein mag, das, was sich von der Vorlage loslöst, und zugleich ist sie das, was die Vorlage losläßt.“

Felix Philipp Ingold in: Vom Übersetzen, Hg. Martin Meyer.

Manchmal habe auch ich Bauchschmerzen mit dieser klassischen Lyrikübersetzungsbuchform, in der „Original“ und „Übersetzung“ sich so gegenübergestellt werden, dass die Übersetzung nur noch der übersetzte Text ist, sich als ein kontrollierbares Endergebnis präsentiert. Die beiden Versionen bestätigen sich gegenseitig in ihrer erstarrten Form. Eingeübte Überprüfbarkeitsästhetik. Die Verknüpfung der beiden Texte befürworte ich in auch für dieses Büchlein durchaus. Aber es erfordert in dieser Machart viel Mut, auch nur über eine bestimmte Kommasetzung sich hinwegzusetzen (überzusetzen). Die potentielle Überprüfbarkeit ist hier als starkes Bedürfnis in die Form eingeschrieben. Vielleicht stärker als nötig. Narben von nicht mehr eindeutig verständlichen Wunden aus der Geschichte der Übersetzung.

U

Technologisch vermittelte Umgangsweisen zwischen den Menschen haben körperliche Folgen. Die Prozesse wandern wieder in meinen Körper – sickern ein, schütteln, programmieren sich ins Muskelgedächtnis meiner Hände und Finger, die Körperhaltung des Blicks auf das Smartphone – Natur werdend, im Rahmen von Widersprüchen schreiben sie sich wieder und auf neue Art in mich ein.

s notebookem na břiše
teplým bochníkem chleba
ruku na touchpadu
jako na ní
usínám klidně
postranní lišta
roluje
sem a tam
v rytmu mého dechu

mit dem notebook auf dem bauch
dem warmen brotlaib
der hand auf dem touchpad
wie auf ihr
schlafe ich ruhig ein
die seitenleiste
verschiebt sich
auf und ab
im rhythmus meines atems

Auf dem Touchpad, der Oberfläche, auf der ein gewisser Teil meines Lebens stattfindet, liegt meine Hand. Zärtlich diesmal.

/\ Wie sexuell eine sensible Hand auf der Computermaus liegen kann: Der Scroll-Finger an der Stelle der Klitoris. /\

Der Atemrhythmus, einer der Rhythmen meines Lebens, ruhig und gleichmäßig, im Moment des Einschlafens, nicht erregt oder aufgeregt. Und doch so kribbelig und jedenfalls sehr körperlich. Rhythmus und Oberfläche. Die Übersetzung des letzten Verses erweist sich hier als eine im fast klassischen Sinne rhythmische Entscheidung: „in meinem atemrhythmus“ wäre eine korrekte Übersetzung, doch durch die verschobenen Betonungen entbehrt sie der Regelmäßigkeit, die der Atemrhythmus hier inhaltlich meint. Die viel beruhigendere Version von Rhythmus entsteht beim Lesen der Zeile wie oben: „im rhythmus meines atems“.

E

Rhythmus ist sicher einer der Knackpunkte der Übersetzungskunst. Er verbindet subjektive Bedürfnisse mit objektiven Notwendigkeiten. Er betrifft alle Texte, ob Lyrik, Prosa, Katalogtexte, Veranstaltungsankündigungen, Kinderbücher, Lexikoneinträge. Manchmal, weil ein Rhythmus übersetzt werden muss, aber meistens, weil rhythmisch übersetzt wird, Texte Rhythmen haben. Weil ohne Rhythmus keine Figur zur Romanfigur wird. Weil Sprachen rhythmisch sind, nicht nur im linguistischen Sinne. Menschen nehmen Dinge rhythmisch wahr, in einer Struktur, die in etwas eingehen kann, eingängig ist. Oft versehen wir die Art, wie wir unsere Leben führen, mit der Metapher des (Lebens- oder Alltags- oder Arbeits-) Rhythmus. Und jedes Herz hat einen Beat.

Zunächst einmal: Rhythmus als zeitlicher Ablauf. Ernst nehmen, dass Lesen einen Ablauf hat, jeder Satz beginnt und endet. Ein Buch hat einen Anfang und ein Ende. Wenn ich es andersherum lese, hat es einen anderen Anfang und ein anderes Ende, es wird anders klingen, was zumindest in meinem engeren Freundeskreis niemand bestreiten würde. Was beim Lesen geschieht, vor sich geht, vorsichtig vergeht, sind Klänge, nicht Buchstaben. /\ Zum Beispiel: Eine Zeit lang realisierte ich nicht, dass der Fluss Havel genauso geschrieben wird wie der Nachname des tschechischen Dissidenten und Politikers Václav. Die Wörter waren jeweils in meinem Kopf verschiedene Klänge, blieben nicht die in bestimmter Reihenfolge stehenden identischen Buchstaben. /\

Im Brockhaus Riemann Musiklexikon (gedrucktes Buch, steht bei meinen Eltern im Regal) schlage ich den Rhythmus nach, und ich fühle mich dabei sehr sorgfältig. /\ Ich schlage den Rhythmus an dieser Stelle nicht mit den Fingern auf dem Tisch nach, sondern ich schlage das Buch auf und dort den Rhythmus nach. /\

Der Rhythmus sei „wirksam als eigenständig zeitliches Ordnungs- und Gestaltungsprinzip, gekennzeichnet einerseits durch Gleichförmigkeit, Bezug zu einem festen Zeitmaß, andererseits durch Gruppierung, Gliederung, Abwechslung“. Angeblich ist die Wortherkunft umstritten, das interessiert mich besonders. Es bestehen wohl mögliche Beziehungen zu den griechischen Wörtern ῥειν „fließen“, ἐρύειν „ziehen“ und έρυσϑαι „abwehren/schützen“. Kurz habe ich den Eindruck, ich könnte daraus drei prinzipielle Gruppen von Leserhythmen herausziselieren – fließende Rhythmen, ziehende Rhythmen und abwehrende Rhythmen. Bin ich mit dem Rhythmus mitgeflossen oder hat er mich gezogen? Ich verwerfe die Typologie wieder, die Bewegungsarten sind doch eigentlich überlappend, können vom Fließen ins Ziehen übergehen, durch das Ziehen das Fließen schützen, denke ich. Und was wäre das übersetzerisch auch nicht zu vernachlässigende „Bremsen“? Ein Ziehen in die entgegengesetzte Richtung? Also weiter: Zeitlicher Ablauf in Ordnung und Abweichung. In Texten besteht der Rhythmus aus Betonung, Tempo, Unterschieden zwischen langen und kurzen Klängen, in Makrostruktur und Mikrostruktur, Sounds, die durch den Satz führen und solchen, die einen Abschnitt, ein Kapitel, ein Buch dramaturgisch umspannen. Manchmal setzen auch leichtfüßige oder schwere Wörter einen Akzent, bremsen, sei es wegen einer Buchstabenverbindung oder einer historisch bedingten Konnotation eines Wortes, eines Begriffs, eines Aufrufs oder eines Satzes. Oder wegen einer expliziteren Informationslage, also nicht der Konnotation, sondern der Schwerpunkthaftigkeit des inhaltlichen Elements.

Grafik: © Luboš Svoboda

Das Kollektive am Rhythmus: Es scheint auch etwas gesellschaftlich Eingeübtes darin zu liegen. Das Arbeiten in einem Rhythmus, in dem die Gesellschaft in Kontakt ist. Eingeübte Muster, Choreo-Grafie. Oder die andere Art der Kollektivität, laut Maureen Freely: „Translators are the jazz musicians of the literary world“. Freely kommentiert, „they like playing together and improvising, and they don’t even notice when they’re being brilliant“. Spielen, ausprobieren. Sich unterstützen. Laut aufdrehen. Hier erinnere ich mich an das im Lexikon beschriebene Verhältnis von Gleichförmigkeit und Abwechslung: Auf einen Rhythmus einigt sich die Band zunächst, doch gestaltet wird auch durch Überraschung und Abweichung. Im Riemann Lexikon schlage ich deshalb noch ein anderes Wort nach: Agogik. Temponuancierungen, Dynamiken, die nicht in der Notation, die unsere rhythmische Oberfläche ist, genau aufgeschrieben sind, nicht linguistisch eindeutig im Handbuch dargelegt werden können, kleine Abweichungen bei der Interpretation. Für mich und meine Übersetzung bedeutet das: An wohlüberlegten Stellen gibt es auch mal Impro-Parts, gespickt mit einer Emotion oder Laune aus der aktuellen Tagesform. Das kann zu meiner Interpretation und meiner Aufführung des Textes dazu gehören. Deal with it.

Metaphorisch lässt sich das unterstreichen: Übersetzende werden gerne verglichen mit „painters, musicians, composers, actors and other performing artists“. Die Besetzung der Hauptrolle macht einen erheblichen Unterschied für die Wahrnehmung des Theaterstücks, das scheint relativ klar. Doch beim Thema der Metaphern fällt wiederum auf, dass eine Übersetzerin ähnlich wie eine Autorin meistens nicht als die entworfen wird, die im Team arbeitet, sondern vereinzelt, als einsames Genie. James St. André thematisierte in einem Text die Möglichkeit, Metaphern kollaborativ zu entwerfen, oder wenigstens nicht ausschließlich im Singular. Er schlägt Bilder aus Teamsportarten vor, vielleicht Basketball oder Volleyball, außerdem propagiert er das Bild der Übersetzung als „makeover“; der Vorteil des Bildes von einer umfangreichen Renovierungsarbeit ist vielleicht, dass mehrere helfende Hände – in meinem Fall helfende Ohren – gebraucht werden, aber trotzdem eine einzelne Person die künstlerische Leitung innehat. Jedenfalls ist der Rhythmus gerade da unabdingbar, wo mehrere an etwas gemeinsam arbeiten, sich ein Stück weit synchronisieren müssen, um sich nicht gegenseitig in den Weg zu kommen.

L

Eine Performance des Übersetzungsprozesses, der (manchmal recht langen) Zeit, während der man an einer Übersetzung sitzt: Auch hier geht es um Rhythmen, die ich eher unbedacht durchmachte, jetzt ungemacht durchdenken will. Zunächst das repetitive und zirkuläre Element des Arbeitens an einer literarischen Übersetzung, denn es geht immer wieder von vorne los. Immer wieder überarbeite ich den Text. (Augenfälliger Unterschied zum Dolmetschen.) Oft haben die verschiedenen Durchgänge auch unterschiedliche Tempi. Manchmal versuche ich zum Beispiel die erste Version sehr schnell zu erstellen, mich nicht zu lange aufzuhalten und aufhalten zu lassen, um mein eigenes Lesen des Rhythmus’ im Original nicht zu stark zu verlangsamen im Niederschreiben oder T-i-p-p-e-n des Ü-b-e-r-s-e-t-z-t-e-n (fühlt sich elendig langsam an), eine Art von Fürsorgereflex, damit der Text nicht zu lange ganz allein (mutterseelenallein?) zwischen der ersten und der zweiten Sprache im Äther hängt, in der Leere schwebt, in der Schwebe, im dritten Raum, in einer leisen Ahnung oder in der ungekannten universellen Sprache. Dann kommt zum Beispiel in der zweiten und dritten Runde die so häufig gelobte Entschleunigung, nächtelanges Brüten (und ausführliches Debattieren) über semantische Feinheiten, Klangeinheiten und kleine Gemeinheiten, vielleicht Gemeinsamkeiten. Manchmal wie stillstehend, bisweilen verzweifelt. Und nach ein paar weiteren Phasen zum Ende dann möglicherweise wieder schnell: Nach vielen Überarbeitungen den Gesamttext, das große Ganze wieder in den Blick bekommen.

Ein anderes Mal kann der erste Durchgang auch langsam sein, wenn mein Misstrauen mehr Raum bekommen, ich mich erst durchgraben muss, an einzelnen Sätzen hadere, einige Fäden verheddere, den Schlüssel zum Einganspunkt oder Ausgangspunkt suche. In so einem Fall werden wahrscheinlich die nächsten Durchgänge sukzessive immer schneller.

Eine erfahrene Übersetzerin wird Routinen entwickelt haben, auch das ist wohl ein Rhythmus des Übersetzens.

Das repetitive Element gibt es in Übersetzungsprozessen ganz sicher, doch wenn man es ausschließlich zirkulär denkt, entgeht einem das Jazz-Element, das auch ein rhythmisches ist. Denn es kommt die Spontaneität hinzu, Tagesformen, etwas, das sich linear aufbaut, zunimmt, vielleicht ein kumulierendes Verständnis von dem, was da steht, was man immer mehr mit eigenen Erfahrungswelten verknüpft. Wörter, die mir in der U-Bahn an mehreren Tagen und immer wieder durch den Kopf schwirrten. Und vielleicht erst nach dem dritten Spaziergang entscheide ich mich für eine der Möglichkeiten. Wenn ich aber einen dreitägigen Entscheidungsprozess habe, dann habe ich in dieser Zeit auch weitererlebt, Neues gesehen, ein anderes Buch weitergelesen.

Mit dem Performance-Begriff ist der Übersetzungsrhythmus des Arbeitsprozesses nicht nur zirkulär, sondern auch linear, ein Aufmerksamkeitsrhythmus in verschiedenen Dynamik-Stufen, der sich einen Weg bahnt im Feld zwischen Original und Übersetzung, sehr oft intuitiv, improvisierend, denn ich halte nie eine zuvor festgelegte Reihenfolge ein. Bin ich routinenresistent? Es unterliegt schwer zu beschreibenden Variationen, wann welche Quelle zu welchem Ziel wird. Ich denke, das ist kein Manko, es ist ein Übersetzungsrhythmus, eine Übersetzungsbewegung, die Teil des Ganzen ist.

Luboš sagte mir einmal im Gespräch, ein Gedicht sei der Weg zur Arbeit, bei der man dann aber nicht ankommt. Das passt zum rhythmischen Gedanken der Übersetzungsbewegungen. Ich denke nicht an eine kausale lineare Entwicklung, meine aber auch nicht, dass man auf der Stelle tritt, gar nicht erst losgeht oder nur im Kreis oder hin und her, einen Schritt vor, einen zurück. Eine Gedichtübersetzung ist auch ein Aufbruch zu einem Ergebnis, bei dem man dann aber nicht ankommt. Es gibt nicht die Notwendigkeit der objektiv feststellbaren Lösung, die ich nur noch erreichen muss. Die dann jemand überprüfen kann und als richtig oder falsch bezeichnet, absegnet, abhakt. Es gibt aber den Prozess, auf den ich mich einlasse.

Ich wünschte, alles wäre einfach und hätte einen progress bar

Jemand sagte, das Wort „progress bar“ sollte ersetzt werden durch etwas Verständlicheres wie etwa „Ladebalken“. Doch ich hänge schrecklich an dem progress bar, klingt er nicht verheißungsvoll und viel durchlässiger, schneller, nach vorne weisender als der allzu begrenzende „Balken“? Ich höre ihm gerne zu, dem progress bar und seinem Sound. Außerdem erinnert er mich an die Boys vor ungefähr dreißig Jahren, wie sie (so stelle ich sie mir vor) als Teenager mit den damals eben verfügbaren Rechnern Spiele downloaden, und es dauert wegen der mangelnden Internetgeschwindigkeit ziemlich lange, doch das Betrachten des progress bars, wie er langsam immer voller und voller wird, ist etwas Schönes, eine verlängerte Vorfreude. Und verbunden mit dem Wissen, dass am Ende des Regenbogens eine Schatzkiste steht. Und kann er nicht auch an den peanut bar erinnern, eine Süßigkeit, ein weiteres Stück Glück? Ich möchte ihn nicht aufgeben, den progress bar, und mein formales Argument lautet, dass er hier selbst im Tschechischen auf Englisch da steht, obwohl das Deutsche im Verhältnis zum Tschechischen eigentlich schneller dabei ist, gut klingende englische Begriffe zu verwenden, sie den deutschen Entsprechungen oder Übersetzungen oder Neologismen vorzuziehen, und das gilt besonders für die digitale Welt, social media, gaming usw. Die Verwendung der englischen Sprache gehört dazu, verhandelt auch den Klang von Digitalisierung und Fortschritt mit. Den Schritt mit. Den Rhythmus.

L

Der Fortschrittsrhythmus. Rhythmus schreitet fort, er verläuft in der Zeit. Die Gleichzeitigkeit der Bedrohung, die von zunehmender Automatisierung und der quantifizierten Beherrschung der Menschen durch Daten ausgeht, und der Hoffnung, die die digitalen Vernetzungen und die Maschinen, die für uns arbeiten, mit sich bringen, ist nicht erst eine Sache unseres Jahrtausends  – auch die Untersuchung der Dialektik dieses Vorgangs ist nicht neu. Die Erzählung über uns selbst hängt daran, gepaart mit der Hoffnung, dass die Unterdrückung alter Erzählungen sich auflösen möge. Zum Beispiel 1985 im Cyborg Manifesto von Donna Haraway ist das kybernetische Selbst doppelt gefasst, von zwei Seiten. Denn sie beschreibt „the cyborg“ als „oppositional, utopian“ und nicht mehr aufgeteilt in eine öffentliche und eine private Sphäre, definiert vielmehr als „technological polis based partly on a revolution of social relations“, aber zugleich auch als „the awful apocalyptic telos of the <West’s’> escalating dominations of abstract individuation“. Die Entscheidung ist nicht ob, sondern wie. Cyborg ist diesem Manifesto-Text zufolge die Metapher der verschwimmenden Grenze zwischen Mensch und Maschine, ein „hybrid of machine and organism, a creature of social reality as well as a creature of fiction“, und in Manifestmanier wird dazu aufgerufen, eine Hoffnung darin zu sehen und diese durch Erzählungen zu unterstützen.

Während die Grenzen verschwimmen, während meine Hand über den Bildschirm streicht, während die Oberfläche alles geschehen lässt, was geschieht, mache ich mich weiter auf die Suche nach der rhythmischen Oberfläche und nach dem oberflächlichen Rhythmus, mit dem ich diese körperliche Dimension des algorithmischen Geschehens begreifen kann, nachspüren kann. Die Stelle, an der die Oberfläche auf mich übergeht, in mich hineingeht. Der Laptop – mein täglich Brot.

das notebook kommt noch heiß in den rucksack
damit es mir den rücken wärmt

zurück kauf ich nebenan ein brot

Könnte mein Rücken es eigentlich auseinanderhalten, ob er von einem Laptop gewärmt wird, der heiß gelaufen ist, oder von einem frisch gebackenen Brot, das gerade aus dem Ofen kommt?  /\ Ich bekomme ein wohliges Gefühl, wohlwollend gegenüber dem Laptop und dem Brot, versonnen an die beiden denkend. /\

Neben dem Effekt, dass das Brot nun mit dem Laptop konkurrieren muss und die Vögel unsere Handy-Klingeltöne singen, scheint auch noch das Gegenteil auf, die „Rache des Analogen“ (wie David Sax es nannte). Viele kennen die neue Freude an alten Vinylplatten. Vielleicht auch die neue Freude am handgedruckten Buch. Vielleicht auch die Sinnsuche in der „Latte Art“ und die im Kleinen versuchte und dann doch so oft ganz alltäglich scheiternde digitale Lösung. Wrong Passphrase, try again.

Das Telefon kennt mich nicht, liest den Fingerabdruck nicht ein,
m-a-n-u-e-l-l-e Arbeit.

Zwei Schauspielerinnen unterhalten sich:
Schau mich nicht so an!

Aber die Cyborg-Frage holt mich ein: Die Maschine spendet mir Wärme? Bedient die Maschine mich, bediene ich die Maschine, können wir existieren, wenn wir einander nicht haben? Könnten wir uns gesellschaftlich erhalten und reproduzieren? Werde ich erhalten, um weiter die Maschine bedienen zu können? Wir werden am Laufen gehalten. In Bewegung, im Rhythmus.

Grafik: © Luboš Svoboda

E

Wo Rhythmus und Oberfläche sich treffen, stoße ich auch auf Syntax und auf Notation.

Im Zukunftsreport 2019 „Das postdigitale Zeitalter“ steht zu den psychologischen Auswirkungen der Netzkommunikation: „Im Netz sind wir Opfer einer Pseudonymität, die uns verrückt macht, weil wir nie wissen können, ob wir wirklich gemeint sind.“

Das Gefühl der Bedrohung der eigenen Subjektivität lässt mich auf die Frage nach dem Subjekt im Satz kommen. Hier liegt eine der rhythmischen Herausforderungen beim Übersetzen von Svobodas Texten, denn während das Tschechische den Verweis auf die Person (ich du er sie) in Endungen verlegt, brauche ich im Deutschen dafür immer wieder ein eigenes Wort. Dadurch kann sich nicht nur der Vers ganz schön in die Länge ziehen, sondern es entsteht unweigerlich auch eine Klarheit, ein eigener Raum für das Wort, das das Subjekt erklingen lässt. Eine Klarheit, die im Tschechischen eigentlich so nicht da war.

Im nun folgenden Beispiel kommt das tschechische Wort für „ich“ („já“) nur einmal vor, und zwar kursiv, am Ende der zweiten Zeile:

Jsem digitální muzeum
toho, čemu se teprve bude říkat.

Während es in der ersten Fassung meiner Übersetzung so klang:

Ich bin das digitale Museum
dessen, was erst später ich heißen wird.

In dieser Version gäbe es aber leider das „ich“, das es eigentlich noch nicht gibt (erst später so heißen wird), gleich doppelt, und dann fängt das Gedicht außerdem noch direkt mit dem an, was erst später so heißen wird. Auch das ist ein rhythmisches Problem, denn der inhaltliche Fluss und die Wortreihenfolge stehen im Widerspruch zueinander. Der gebrochene inhaltliche Fluss nimmt auf den Lesefluss unweigerlich Einfluss. Bevor sich in den ganzen Flüssen alles auflöst, verschmilzt und verdünnt: Manchmal darf es auch abwehren, stocken, hängen, vielleicht macht es den Rhythmus im Gegenteil noch interessanter? Fließen, ziehen, abwehren. Abwehren vielleicht auch von Erwartungen. Völlig glatt ist er ja im Tschechischen auch nicht, dem Gedankengang muss man erstmal folgen können, es schaffen, hier und da innehalten. Wie entscheide ich mich? Welche Stufe, welches Stolpern baue ich ein und welches nicht? Ich sehe bei diesem Vers letztendlich keine andere Möglichkeit, als das erste „Ich“ wegzulassen, ich möchte nicht mit dem „ich“ beginnen. Dann verstärkt sich im Deutschen die Verunsicherung. Das ist okay, würde ich sagen. Eine syntaktische Entscheidung, eine rhythmische Entscheidung.

Ein digitales Museum
über das erst später so bezeichnete ich bin ich

Die Stelle, an der sich Rhythmus und Oberfläche treffen, kann außerdem der Ort der Notation sein. Die Notation kurz vor der Konnotation. In der deutschen Sprache braucht ein Text oft länger, mehr Wörter, mehr Buchstaben. Sie hat nicht die vielen schönen diakritischen Zeichen. In manchen Textsorten erhöhen Diakritika höchstwahrscheinlich das Tempo des leise Lesens, denn wenn man „š“ nehmen kann, braucht man nicht „sch“ und ist mit den Augen schneller fertig.

Das Deutsche unterscheidet sich von vielen anderen Sprachen außerdem in der Groß- und Kleinschreibung. Hier gerät im Zeitalter der Kommunikation etwas in Bewegung, da es nicht ungewöhnlich ist, dass Menschen in Emails oder Textnachrichten aus schlicht und einfach praktischen Gründen (nehme ich jedenfalls an) alles klein schreiben. Alles klein schreiben! Das haben davor doch nur Dichter*innen gemacht? Auch in der Welt der Literaturübersetzungen ist es nichts Neues, denn die Kleinschreibung genau aus dem Ursprungstext zu übernehmen, das haben schon andere ausprobiert. Etwa bei Reiner Kunze ist mir das begegnet, der viele tschechische Dichter ins Deutsche übersetzt hat. Ich beschließe, damit zu arbeiten, die Übersetzungen manchmal in ihrem Fließen (Strömen, Ziehen, oder Aneinanderreihen von Assoziationen) zu unterstützen durch sparsames Verwenden von Kommata und Großschreibung. Wie wird das am Ende wohl redaktionell und verlagsseitig gesehen? Alle Leute werden Vergleiche anstellen und nach der Kohärenz zwischen Original und Übersetzung fragen. Deal with it.

ARBEIT

Am Knotenpunkt von Rhythmus und Oberfläche finden sich schließlich auch ganz allgemein die Arbeitsrhythmen, in den vielen digital durchdrungenen Bereichen bestimmt von dem Kontakt zu den Oberflächen der Endgeräte. In der digitalisierten Arbeitswelt/Arbeitsphase/Normalität spielt sich alles auf dem Bildschirm vor mir ab, bis ich nicht mehr weiß, wie viel von mir selbst da drin ist. Im Binärcode drin. Ist der Selfie-Stick eine Erweiterung meiner selbst, augmentated me, oder eine Verstümmelung von mir als sozialem Wesen? Ich nehme an, beides, die Dialektik des homo protheticus (Karin Harrasser).

Lohnarbeit, Reproduktionssphäre, unbezahlte Arbeit: Die Philosophin Kylie Jarrett schreibt von den „digital housewifes“, die in der besten Manier der Pflege- und Care-Arbeit die Kontakte pflegen, Likes verteilen, Links klicken, Zeit auf Plattformen verbringen, scrollen, unbezahlt, aber zugunsten der Profite der Plattformbetreiber. Strukturell sind Leute, die in dieser Funktion im Internet tätig sind, für Jarrett die unbezahlten Hausfrauen der digitalen Welt.

Grafik: © Luboš Svoboda

Angekommen beim Anfang, beim Titel, bei der m-a-n-u-e-l-l-e-n Arbeit, Cklickworker, digitales Prekariat, Crowdworker, Tagelöhner*innen, bin ich aber angewiesen darauf, klicke mich weiter durch, in einem Beat, den ich selbst zum Klicken bringe, nein, ich wollte sagen, zum Klingen bringe, auch wenn ich ihn nicht produziert, kein Einblick in den Algorithmus habe, seine Entstehung, seine Ängste, Sorgen, Interessen, den Algo-rithmus. Ein Rhythmus, der in mich eingegangen ist. Vermittelte Zugänge zur Wirklichkeit. Ich nehme mich wahr als Akteurin, in allen Momenten, in denen ich etwas zum Klingen bringe, klare rhythmische Entscheidungen treffe. Ich brauche dafür immer wieder Gedichte und ihre Schwingungen, Wellen. Und genau darin besteht auch die Verflechtung von Rhythmus und Oberfläche in den Texten von Luboš.

/\

Rhythmus ist umstritten. Wäre es nicht der Rhythmus, sondern das Rhythmus, dann wäre es eine süß schmeckende Leckerei, dann käme das Rhythmus auf mein täglich Brot. Das Rhythmus, das aus dem Glas auf die Oberfläche meines Tellers fließt. Wäre es nicht das Rhythmus, sondern die Rhythmuse, dann nur mit einem angehängten E, damit sie meine Inspiration wird, die mich auf meine Oberfläche küsst, die mich an sich zieht und schützt. Die Herkunft des Wortes Rhythmus bleibt umstritten. Fließen, ziehen, schützen und küssen.

 

Luboš Svoboda: M-a-n-u-e-l-l-e Arbeit, übers. von Lena Dorn. Edition Ostrovers Nr. 12, Hochroth Verlag 2022.

 

01.11.2022
PDF

Lena Dorn, Foto: © Beatrice Barth

Lena Dorn (*1984) übersetzte u.a. David Böhm, Ondřej Buddeus, Olga Pek, Vratislav Maňák, Jitka N. Srbová. Sie schreibt Gedichte, Erzählungen, Essays, zuletzt Üben und Ersetzen (Nachtalb Verlag Engelsdorf 2022), erhielt den Sonderpreis Neue Talente Übersetzung beim Jugendliteraturpreis 2021 und steht auf der IBBY Honour List 2022. Sie spielt in der Band The Amazing Sugar Glider Adventures.

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