Journale Comic Vernon, ich fühl dich
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Vernon, ich fühl dich

Journal zur Übersetzung von Vernon Subutex von Luz & Virginie Despentes

Ich hab dich erwartet
Hör dir das geile Solo an!
Vernon! Hörst du mir zu?
Was ist das für ein Song, DJ?
Der bringt mich um, hat sie gesagt
Schläfst du, Vernon?

Copyright © Virginie Despentes, Luz et les Éditions
Albin Michel, département bande dessinée, 2020

Mach den Plattenspieler an, da vorne auf dem Regal. Leg Joy Division auf. Disorder. Hör auf die Bassline. Erst zuckst du nur, dann wirft sie dich um. Let it out somehow. Du drehst dich um, im Türrahmen steht ein Typ, groß, dünn, strahlend blaue Augen. Er sucht eine Schlafgelegenheit für eine Nacht, ob er auf deinem Sofa pennen kann? Haut sich hin, fängt an zu reden. Sein Leben ist ein Roman. Tote Kumpels, Gerichtsvollzieher, Bassistinnen, Passanten, Dealer, Studentinnen, Drehbuchautoren, Groupies, Traders, Barfrauen, Pornostars, Uniprofs, Obdachlose, Nazis, Schlägertypen und eine Hyäne. Alle reden gleichzeitig, dir schwirrt der Kopf. Auf Französisch jetzt. Désordre. Anderer Sänger, andere Stimme. Alle wollen die Geschichte erzählen. Von Vernon, Alex und diesen crazy binauralen Beats. Das ist wichtig, das ist echt. Verstehst du? Es gibt den Text und die Bilder. Eine Einheit im Strich. Du baust sie auseinander, untersuchst die Einzelteile, drehst und wendest sie, polierst ein bisschen, setzt sie neu zusammen. Im Nacken immer die blauen Augen. I’m watching you.

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Joy Division, Disorder

Ich hab dich erwartet

Vernon Subutex ist nicht irgendwer. Er ist DJ, Guru und vor allem eine Legende der Pariser Punkrockszene. Vernon Subutex1, der Comic, ist auch nicht irgendwas. Aus der doppelten Feder von Virginie Despentes und Luz scheint er mir fast barock in seiner Überschwänglichkeit. Despentes ist seit ihrem Debut Baise-moi (1994) nicht aus der französischen Literaturszene wegzudenken, die Romantrilogie Vernon Subutex ist ein Beststeller. Luz wurde mit seinen Karikaturen für Charlie Hebdo bekannt, er entkam als einer von wenigen dem Attentat auf die Redaktion am 7. Januar 2015. Seine Comics sind politisch, persönlich und unverwechselbar. Das perfekte Paar für diese Story.

Als ich den Comic das erste Mal lese, schwirrt mir der Kopf. So viele Stimmen, so farbenreich, so viel Action zwischen Panels, Orten, Zeitebenen. Aber es ist eine gute Verwirrung. Eine, die zeigt, warum Comics als Medium besonders sind und was eine gelungene Literaturadaption ausmacht. Gleich auf der ersten Seite ist klar, dass es kein Entkommen gibt:

Ich hab dich erwartet.

Die Hyäne, Ex-Dealerin und Troll avant la lettre, die für reiche Menschen die digitale Drecksarbeit macht, ist gesichtslos. Oder spricht hier vielleicht doch Vernon, verkleidet, in einem zweiten Leben?

Wir müssen über Dinge reden, die nur dich und mich was angehen.
Ich werde dir die wahre Geschichte von Vernon erzählen ...

Die Geschichte, die wir hören, ist aber nicht nur ihre. Sie ist vielstimmig und lässt alle zu Wort kommen, vom genervten Gerichtsvollzieher bis zur obdachlosen Kommunistin. Was Despentes in ihrer Romantrilogie vorgemacht hat, setzt Luz in fantastische Bilder um. Immer ist ein Mensch im Panel, oft sind es mehrere, immer wird geredet, gestritten, gesungen oder erzählt. Im Hintergrund donnert ein Soundtrack, der Klassiker aus Rock, Punk und R&B zu einer hypnotischen Schleife verknotet.

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Playlist, Spotify, „Vernon Subutex – der Comic“

Hör dir das geile Solo an!

Was mir auch gleich klar wird: Ich muss die richtigen Stimmen für diese Übersetzung finden. Vernon und seine Kumpels sprechen Umgangssprache, bedienen sich bei Argot und Verlan, der aus den Pariser Vorstädten stammende Jugendsprache, die mittlerweile von fast allen Französ·innen diesseits der fünfzig verwendet wird, und streuen ab und zu ein englisches Wort ein. Die meisten sind Ende vierzig, würden aber gern jünger, lässiger sein. Und wenn sie high sind, kann es auch mal passieren, dass sie mit Hunden diskutieren.

Wie würde Vernon auf Deutsch sprechen, wohnte er in Berlin und wäre im Wedding auf der Straße gelandet? Auf der Suche nach einer Antwort fahre ich U-Bahn, höre den Leuten zu, speichere Belanglosigkeiten, Geheimnisse und spannende Formulierungen ab. Dann telefoniere und schreibe ich, vor allem mit französischen Freund·innen, um den Sound des Originals in all seinen Nuancen zu verstehen. Wir gehen aus im dunklen Berliner Winter und sinnieren über die Bedeutungsebenen von Freundin und Tussi, meuf, nana und pouf. Beschreibt Luz die Hyäne und ihre kleine Freundin Aïcha auf Französisch als paumées, sind sie auf Deutsch dann einfach verpeilt? Und wie die vielen Bedeutungsebenen von crevard in ein Wort fassen? Schnorrer, Loser, Arschkriecher?

Isabelle Liber empfiehlt mir Bob, ein fantastisches Online-Lexikon der französischen Umgangssprache. Jedes Wort scheint es hier zu geben, in hundert Variationen. Ich häufe Material an, notiere Gefühlsassoziationen, schreibe mit Muttersprachler·innen hin und her. Bob wird in diesen Monaten mein bester Freund. Häufig muss ich dabei an Pieke Biermann denken, die sagte, das Übersetzen sei entgegen des Klischees kein einsames Geschäft. Man sei doch immer mit anderen im Gespräch! In meinem Fall sind es auch Elektro-Produzenten, SPDlerinnen und Experten des Pornobusiness, die mir mit ihrem Sprachwissen helfen. Und immer noch schwirrt mir der Kopf. Da hilft nur der Soundtrack, die Bad Brains, ihr schnelles Kreischen rhythmisiert meine Gedanken.

Vernon! Hörst du mir zu?

Zwei Stimmen beherrschen die Geschichte: Da ist Vernon, der Plattenhändler, der erst seinen Laden, dann seine Wohnung verliert und von Sofa zu Sofa surft. Im Gepäck hat er die Beichte des Rockstars Alex Bleach, eines Freundes aus Jugendtagen, der auf der Höhe seines Ruhms mit zu viel Koks in der Nase und Pillen im Blut in der Badewanne ertrunken ist. Was er beichtet, weiß man nicht, schließlich hat Vernon sich die Videokassetten nicht angeschaut. Auch die binauralen Beats auf Alex‘ USB-Sticks hat er sich nicht angehört. Dafür hat er ihm mit Joy Division die Pforten zur Musik geöffnet, Disorder, der Durchbruch gelingt Alex mit seinem Song Désordre. Das entschuldigt Vernon für alles, auch dafür, den Leser·innen den eigentlichen Kern der Geschichte vorzuenthalten.

Copyright © Virginie Despentes, Luz et les Éditions
Albin Michel, département bande dessinée, 2020; © 2022 Reprodukt für die deutsche Ausgabe.

Der Comic springt wie der Roman zwischen den Zeitebenen: Auf eine Rückblende folgt Action in der Gegenwart, durchbrochen von Träumen und luziden Rauschmomenten. Um den Rhythmus der Prosa abzubilden, arbeitet Luz mit unterschiedlichen Panelgrößen, Seitenlayouts und Perspektivwechseln. Besonders eindrücklich ist die Rhythmik, wenn sich die Sprach- und Wahrnehmungsebenen verschränken:

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Vernon Subutex im Park
Redaktion: Lilian Pithan

Noch eine dritte Ebene zieht sich durch den Comic. Zwischen den Panels schwebt eine Erzählerin, sie fasst zusammen, definiert, präzisiert, leitet neue Szenen ein. Auch sie ist vielstimmig: Mal klingt sie wie eine Unbekannte, mal wie die Hyäne und dann wieder genauso wie Virginie Despentes. Es ist aber auch die Stimme von Claudia Steinitz, die Despentes‘ Romane aus dem Französischen ins Deutsche übertragen hat. Die Erzähltexte im Comic hat Luz der Vorlage entnommen, es müssen also nicht alle 303 Seiten übersetzt werden. Viele der Dialoge sind aber neu oder finden sich nur ansatzweise im Roman. Claudia bestätigt meinen ersten Eindruck: Es geht um die Stimmen, um die Vielfalt des Ausdrucks. Sie hat viel Vorarbeit geleistet, auf die ich mich stützen kann, hat lange mit einer Obdachlosen in Berlin geredet und die Sprache der Nazis im Internet dokumentiert. Luz hat dem Comic außerdem ganz neue Szenen verpasst, in denen er die Beziehung von Vernon und Alex vertieft oder die Backstorys einzelner Nebenfiguren ausbaut. Nicht alles stimmt mit der Vorlage überein, wie es sich für eine gute Literaturadaption gehört.

Michael Groenewald, Verlagslektor von Reprodukt, und ich fahren zweigleisig: Während ich die Dialoge übertrage, nimmt Michael sich Claudias Übersetzung vor, fahndet in Büchern und E-Books nach einzelnen Sätzen. Schnell wird klar: Luz ist einer, der die Freiheit liebt. Er hat das Original gegen den Strich gebürstet, hier und da einen Cut gemacht und das Ganze neu verwoben. An manchen Stellen fügt er Witze ein, an anderen tauscht er einzelne Wörter aus. Mir fallen auch subtile Registerverschiebungen auf: aus femme wird meuf, aus ami wird pote. Frauen werden je nach Kontext zu Tussis, Freunde zu Kumpels. Die von Luz neu geschriebenen Dialoge sind um einiges umgangssprachlicher als die Romanvorlage. Auch Despentes war an der Adaption beteiligt, sie hat die Texte gegengelesen und geglättet. Auf der Seite fügt sich alles perfekt zusammen, die verschiedenen Ebenen verwirren nicht, sondern unterstreichen die Polyphonie. Beim Übersetzen sticht für mich einer heraus: Alex‘ Stimme ist hypnotisch, sexy, überdreht. Der Rockstar stiehlt allen die Show.

Was ist das für ein Song, DJ?

Ohne Musik wäre Vernon ein anderer. Sein Plattenladen definiert ihn, selbst als er schon längst geschlossen hat. Wie lässt sich der Sound von Joy Division, von Tricky und Lydia Lunch in Worte fassen? Der richtige Klang der Sätze ist mir bei allen Übersetzungen wichtig, bei Subutex wird er zum beherrschenden Prinzip. Immer wieder spreche ich mir die einzelnen Szenen vor, verändere die Rhythmik, ziehe mir die Haut der Figuren über. Plötzlich kann ich Vernons Verzweiflung spüren, als er auf der Straße landet. Emilies Wut auf ihre Bandmitglieder wird meine, ebenso wie Sylvies Einsamkeit und Patrices Resignation. Wenn die Worte durch das viele Wiederholen fast ihre Bedeutung verloren haben, höre ich Musik. Manche Songs kenne ich, andere sind Entdeckungen. Die Playlist „Vernon Subutex“ auf Spotify zählt 319 Tracks.

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Spotify, Playlist „Vernon Subutex“

Ich arbeite mich durch die Musik, den Text und immer wieder schweife ich an den Bildern ab. Luz spickt seinen Comic nicht nur mit Melodien, sondern auch mit popkulturellen Zitaten. Als Vernon vom Gerichtsvollzieher auf die Straße gesetzt wird, trottet ein missmutig an seiner Kippe zehrender Michel Houellebecq an ihm vorbei. Während er sich bei Xavier auf dem Sofa fläzt, sprüht im Fernsehen der rechtsradikale Politiker Éric Zemmour sein Gift von sich. Alex erinnert mich an Tricky und Lenny Kravitz, an Don Cheadle in „The Fresh Prince of Bel-Air“, in seiner Coolness hat er aber auch etwas von Jean-Michel Basquiat. Er geht an der Musikindustrie zugrunde, an Kapitalismus, Rassismus und seiner eigenen Drogensucht. Wenn Vernon der Rockjournalistin Lydia Bazooka von ihm erzählt, wird er zum Philosophen:

Erfolg ist wie Schönheit, da gibt's nichts zu streiten: Es trifft den, den's trifft.
Und am Ende musste Alex dran glauben.

Musik rettet also nicht, entgegen aller urban myths. Vernon hilft sie trotzdem mehr als einmal aus der Patsche. Immerhin das.

Copyright © Virginie Despentes, Luz et les Éditions
Albin Michel, département bande dessinée, 2020; © 2022 Reprodukt für die deutsche Ausgabe

Den Comic bis ins kleinste Detail auseinanderzunehmen, jedes Wort, jeden Strich zu beleuchten, braucht viel Zeit. Davon gibt es natürlich zu wenig, je näher die Deadline rückt, desto stärker verzerrt sich meine Wahrnehmung der verstrichenen Wochen und Monate. Während ich noch übersetze, geht ein Teil des Textes schon ins Lektorat und wird weitergereicht an Olav Korth, den Letterer von Reprodukt. Jedes Wort muss neu geschrieben werden und den Versalien des Originals dabei so nah wie möglich kommen. Eine Kunst, die nicht jeder beherrscht. Olav ist ihr unbestrittener Meister.

Der bringt mich um, hat sie gesagt

Irgendwann schaut Vernon sie dann doch an, diese Beichte auf Kassette. Allerdings erst, nachdem er durch ganz Paris gejagt, von der Hyäne aufgegabelt und seinen Freunden festgenagelt worden ist. Was Alex im Halbdunkel brabbelt, ist crazy, haarsträubend und tragisch. Seine Ex-Freundin Vodka Satana ist tot. Die Medien sagen Selbstmord, Alex sagt Mord. Die Wort- und Bildfetzen dieses Videos, die sich ab Seite 32 durch den Comic ziehen, setzt Luz am Ende elegant zusammen. Während die Worte sich wiederholen, sind die Bilder jedes Mal neu. Mal sieht man Alex mit der Kamera hantieren, mal stecken wir in Vernons Kopf und schauen durch seine langsam zuklappenden Augen, dann wieder steigt Alex aus einer beschlagenen Dusche und beschwört im Zigarettenqualm seine Vergangenheit. In diesen Szenen zeigt sich, was Comics als Medium besonders macht: Gute Zeichner·innen spielen mit der Perspektive, zeigen unterschiedliche Ausschnitte, drehen und wenden die Panels, bis sie in immer neuen Kombinationen nicht nur eine, sondern eine Vielzahl von Geschichten erzählen. Dazu kommt die Kolorierung: Luz gibt jeder Figur ihre eigene Farbpalette, bei Alex sind es schwarz, azur und pastellgelb.

Copyright © Virginie Despentes, Luz et les Éditions
Albin Michel, département bande dessinée, 2020; © 2022 Reprodukt für die deutsche Ausgabe.

Rot mischt sich erst dann ins Bild, wenn Satana vor lauter Koks die Nase brennt. Eine Seite später ist sie tot und Alex bleibt nur die Prophezeiung, die sie bei ihrem letzten Streit ausgestoßen hat:

Ich hab 'ne Liste. Ich pack aus. Ich hab ihm gesagt: Jetzt reicht's aber! Du willst, dass ich schweige? Dann musst du blechen. Er hat gesagt, er bringt mich um, und das tut er auch...
Der Sack bringt mich um!

Was genau es mit ihrem Tod auf sich hat, bleibt ungewiss. Das Leben des Vernon Subutex geht schließlich noch weiter, es wird einen zweiten Band geben. Satanas letzte Worte dröhnen mir in den Ohren, wenn ich beim Übersetzen zwischen den Szenen springe. Ihre Anklage beunruhigt mich auch deshalb, weil ich mich selbst wie eine Killerin fühle. Immer muss ich Sätze kürzen, neu zusammenflicken, ganze Passagen streichen: In den Sprechblasen ist einfach nicht genug Platz. Bei den Erzähltexten sieht es nicht besser aus, in den Kästen drängen sich die Worte auf engstem Raum. Fragt man nach der größten Herausforderung des Comicübersetzens, hört man oft: „Der Platz!“ Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich stimmt, schließlich lässt sich das Gesprochene immer präzisieren. Die Kunst der Verdichtung verbindet den Comic mit der Lyrik: Kein Wort ist zu viel, jedes muss sich seinen Platz erkämpfen. Dieses Spiel mit Grenzen gefällt mir. Je weniger Buchstaben ich habe, desto mehr Bedeutungen changieren in einem einzigen Wort. Trotzdem tut es weh, wieder eine schöne Fügung opfern zu müssen. Kill your darlings.    

Schläfst du, Vernon?

Als die zahllosen Stimmen am Ende auf der geletterten Seite zusammenkommen, scheint es mir wie ein Wunder. Alles fügt sich so perfekt. Die Bilder rücken wieder in den Vordergrund. Während ich das Buch schon losgelassen habe, denke ich darüber nach, warum so wenige Literaturadaptionen als Comic funktionieren und wie Luz es trotzdem geschafft hat. Er selbst beschreibt seine Arbeit am Text als Spitzenklöppelei, bei der man manchmal die Motorsäge anlegen müsse. Er sagt auch: „Ich wollte, dass Virginie in meiner Adaption etwas anderes lesen kann, als ihr eigenes Buch.“ Das habe er geschafft, sagt sie. Vernon hat nun ein Gesicht, hat Augen, von denen sich niemand mehr lösen kann. Er ist aber nicht einfach ein Abbild der Romanfigur, sondern ein ganz neuer Mensch. Die Bilder hinterlegen nicht den Text, sie wachsen über ihn hinaus. Luz fasst es so in Worte:

Für mich bedeutet eine gute Adaption, dass man den Text respektiert, ihn in einem unerwarteten Moment bricht und ihn vor allem nicht illustriert.

Man könnte es auch so zusammenfassen: Im Comic sind Text und Bild eine Einheit. Sie können nur gemeinsam, nicht allein. Beim Übersetzen denkt man deshalb in ganz anderen Relationen, hat weniger Spielraum, aber mehr Freiheit. Eine Einheit sind auch Vernon und Alex Bleach. Eine Bromance par excellence. Alex‘ Worte hallen lange nach:

Du warst ein Schleuser, Alter, für uns alle. Wir mochten dich und du hast’s nicht gemerkt.
Der König warst du, Vernon.

Was wirklich passiert ist, werden wir nicht herausfinden. Die wahre Geschichte von Vernon ist eine Story unter vielen, ein hypnotisches Stimmengewirr, das man nicht verstehen, sondern nur fühlen kann. Und durch alles pulsieren die binauralen Beats.

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Spotify, Tricky, Excess

Die Platte dreht sich, der Song ist ein anderer. Raue Stimme, harte rhymes, hast du zu viel mitgemacht? Entweder du gibst alles oder du lässt es bleiben. Diese Stimmen, die lassen dich nicht los. Sie sind manisch, selbstbezogen, imperativ. I believe in people lying. Du glaubst nicht länger, dass sie von Vernon erzählen, jede spinnt ihre eigene Story. Vielleicht sind das die binauralen Beats, die Druck- und Schallwellen, denen sich keiner entziehen kann. Nichts ist kontrollierbar, alles hebt ab. Der Typ pennt immer noch auf deinem Sofa, schweigt, öffnet selten seine blauen Augen. Du weißt nicht, was er denkt, es ist dir jetzt auch wirklich egal. Die Wahrheit liegt im Dazwischen, im Gefühl, das ein Wort auslöst, wenn es über Auge, Mund oder Ohr ins Hirn einschlägt. Eindeutigkeit ist keine Lösung. Fühl ihn, auch wenn er nichts sagt. Dann fügt sich das Ganze, alles hat seinen Platz. We all sound the same, you don't know my name. 

 

Die Buch- und TOLEDO-Journalpremiere fand am 25. Juni 2022 im Literarisches Colloquium Berlin im Rahmen des Festivals „Mit Sprache handeln“ statt. Das Video kann auf der Webseite des LCB angeschaut werden.

 

25.07.2022
Fußnoten
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Lilian Pithan, ©Bea Davies

Lilian Pithan studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Romanistik und Anglistik in Tübingen und Paris. Seit 2013 arbeitet sie als freie Übersetzerin und Redakteurin mit Schwerpunkt grafische Literatur. Sie kuratiert Ausstellungen für den Internationalen Comic-Salon Erlangen und moderiert den Graphic Novel Day beim Internationalen Literaturfestival Berlin. Außerdem ist sie Mitgründerin des deutsch-arabischen Kulturmagazins FANN und der Arabisch-deutschen Literaturtage Berlin. Neben Lyrik übersetzt sie französisch- und englischsprachige Comics, u.a. von Hervé Tanquerelle, Camille Jourdy und Luz.

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