Journale Erinnerung an die Gegenwart

Francis Cohen

Ethnographie des Aktionsstadions und Anthropopodülologie des Schauspielers im Novarinischen Theater

Aus dem Französischen von Leopold von Verschuer

Aus einem weiblichen Geschlechtsorgan gekommen, tritt das Wort durch ein anderes Geschlechtsorgan wieder ein, das das Ohr ist.
Marcel Griaule

Gott ist eine zweifelhafte Vokabel.
Maurice Leenhardt

Ich bin der größte Feind der Humanwissenschaften.
Valère Novarina

„Wenn ich jemanden sah, fragte ich Mutter, wer ist das? Da rief sie zu meiner Bestrafung eines Tages eine Dame auf dem Feld herbei und sagte: »Gnädige Frau, hier ist ein kleines Mädchen, das ihren Namen wissen möchte.« – »Na, das ist aber ein neugieriges Mädchen«, antwortete die Dame, »also ich, ich habe auch keine Ahnung!«  Oh, wie gekränkt ich da war.“
Worte eine Bewohnerin von Minot, aufgezeichnet von Françoise Zonabend in ihrer Studie: „Warum benennen? (Personennamen in einem französischen Dorf: Minot im Châtillonnais.)“

 

Der Anthropopodülologe kehrt der anthropoiden Fabel den Rücken

Eine ethnolographische Betrachtung des Werks von Valère Novarina mag unangemessen, ja spaßhaft erscheinen, indessen erinnert das Auftreten des Nackten Menschen in Der unbekannte Akt zwangsläufig an den letzten Band der Mythologica von Claude Lévi-Strauss und seinen Antihumanismus, dem die Kritik Valère Novarinas an unserem Okzidorama voll und ganz entspricht. „Menschliche Erde“ von Dominique Parent, rezitiert durch Wirrwarz in Beobachtet die Logaeder!,1 die Untersuchungen des Ethnologen Arson über das Volk der Bo in Die Rede an die Tiere2 und schließlich die Auflistungen zahlloser Völker im Theater des Valère Novarina scheinen eine ethnographische oder vielmehr eine anthropopodülologische Untersuchung auf Novarinischem Territorium zu rechtfertigen. Man kann ins Träumen kommen und eines Tages in der berühmten Reihe ‚Terre humaine‘ des Verlags Plon ein Buch von Valère Novarina erscheinen sehen oder eines über die Valero-Novarinier, das Buch könnte den Titel tragen Traurige Anthropopen oder Sitten und Sexualität der Valero-Novarinier.

Dennoch ist die Feldforschung in Novarinischen Territorien kein Selbstläufer für den Beobachter. Wenn das Vergnügen, einer „Vorstellung“ auf dem Aktionsstadion beigewohnt zu haben, abklingt, habe ich oft den Eindruck, mich nicht an meinem Platze aufzuhalten, und zweifle an der Stichhaltigkeit meiner Arbeiten. Zahlreiche Berichte zeugen von diesem Unbehagen der Ethnologen, wie das Tagebuch eines Ethnographen von Malinowski,3 und zu diesen Schwierigkeiten kommt hinzu, dass man sich bei den Valero-Novariniern nicht dauerhaft einrichten kann, die Aufenthalte können wenige Stunden nicht überschreiten, just die Dauer der Aufführung in einem Aktionsstadion.

In einem Gespräch mit Laura Née aus dem Jahr 2014 vergleicht sich Valère Novarina selbst mit einem „Amateur-Ethnologen“, der bäuerliche Ausdrücke und Mundarten sammelt, wie es seine Freundin, die Ethnologin Aurore Monod bei den Trumai des Oberen Xingu im Amazonasgebiet tun mochte. Die Trumai erwähnt Valère Novarina in seinem Vorwort zum Dictionnaire du Chablaisien (Wörterbuch des Chablais-Dialekts) von André Depraz. Die meisten der letzten überlebenden Trumai leben im Xingu-Park, einem indigenen Schutzgebiet auf dem Mato Grosso, die Figur des Hans Matagrobian (Jean Matagrossier) findet zweifellos hier ihren Ursprung. Hans Matagrobian wurde über lange Jahre zu meinem hauptsächlichen Informanten anlässlich meiner zahlreichen Aufenthalte bei den Valero-Novariniern. Hans Matagrobian, der also vom Mata Grosso stammt, begegnete Claude Lévi-Strauss, als dieser über die Nambikwara-Indianer forschte, auch war er als Informant außerordentlich wertvoll und über die Aufzeichnungen gut unterrichtet. Der Ethnologe oder vielmehr der Anthropopodülologe, der über die Valero-Novarinier forscht, sieht sich mit einer beträchtlichen praktischen Hürde konfrontiert, da ihre Sprache noch sehr dunkel bleibt, bis heute gibt es kein Valero-Novarinisch/Französisch-Lexikon.4

Die Valero-Novarinische Sprache resultiert aus einem komplexen Synkretismus, da in ihr mehr als fünfzig Sprachen verschmelzen, jene der Sueven, der Sueviten5, der Sarmaten, der Daker, der Altai, der Geten, der Petschenegen, der Ugrier, der Algobraven, der Heruler, der Skiren, der Zumisten, der Rugier und der Urgen, der Obodriten, der Pippiniden, der Vareger, zu diesen Völkern oder Dynastien, die im Unbekannten Akt6 aufgezählt werden und die es gegeben hat, kann man die Urluburlisten (die zweifellos der Hurlumanität am nächsten kommen) hinzufügen, die Rurlaben, die Prothanthropen, die Gelunden, die Bithyaster, die Ulimisten, die Logiden, die Teugler, die Pastrodonen, die Polybritovitzer, die Urminaten, die Urlinimiaten. Die letzteren beiden werden gern verwechselt: „In Transgemiandrien massakrieren die Polybritovitzer unterschiedslos die Urminaten und die Urlinimiaten.“7 Sollte dieses Massaker nur ein Geistesblitz, ein Witz gewesen sein, wenn nicht gar ein Polybritovitz? Man darf die Hypothese wagen, dass diese Polybritovitzer, die es nicht gibt, in Wirklichkeit maskierte Lacandonen sind, die sich diesen Namen gaben, um zu spielen und die Signifikanten auf unbestimmte Zeit zu massakrieren, zum einzigen Zweck der Erzeugung von Gelächter.

Man müsste eine Liste aller von Valère Novarina zitierten Sprachen zusammenstellen und eine „Theorie der Völker“ entwickeln, diese Idee einer Theorie der Völker taucht in den Bühnenfassung von Le Vivier des noms (Der Teich der Namen) auf, in der Szene Entrée perpétuelle (Immerwährender Auftritt).8 Diese Theorie der Völker ist der bislang einzige Versuch einer Theoretisierung der Anthropopodülologie. Sie leitet das Verständnis des Anthropopodüls von geografischen Gegebenheiten ab, die Kategorie des Raums ist für den Menschen vor Ort ebenso zentral wie für den Bühnenmenschen. Der Raum bietet Kontiguitäten, Kontinuitäten, die es erlauben, eine „Theorie“ der Kontamination, des Transports, des Flusses, des Andersartigen zu befördern. Diese Theorie der Völker ist eine Theorie der Alterität (altérité), der Entstaltung (altération) des Gleichen, aber auch der dauernden Wiederkehr von Begegnungen und Wiederholungen, Sprachen lösen sich ab, Völker zirkulieren, es gibt keine gegebenen Völker, es gibt womöglich Sprachen, die das Entvolk (dépeuple) spricht. Die Theorie der Völker ist eine Hommage an Samuel Beckett und an den Körper der Schauspieler, von denen „jeder seinen Verwaiser (dépeupleur)9 sucht“.

In seinem Text „Novarina lecteur, penseur et acteur à l’égard du langage“ (Novarina als Leser, Denker und Schauspieler hinsichtlich der Sprache)10 weist der Linguist Michel Arrivé auf „eine beträchtliche Anzahl von Sprachen“ hin, hält davon aber nur wenige fest, er erwähnt lediglich das Mexidinische, das Pontische, das Trudellische, das Lekorni, das Bamblische, das Elefantinische und das Jublische. Eine anthropopodülo-linguistische Arbeit erweist sich als unverzichtbar. Als ich meine Feldforschung bei den Valero-Novariniern aufnahm, forderte mein Mentor, der große Ethnologe Arson, der dreißig Jahre den Stamm der Bo erforscht hat, wie in Die Rede an die Tiere dargelegt wird, mich auf, eine Dissertation über die Sexualität und ihr Fehlen von Verdrängung in der valero-novarinischen Gesellschaft anzugehen, er wollte mich zu einer ergänzenden kritischen Anmerkung zu Malinowskis Buch Geschlecht und Verdrängung in primitiven Gesellschaften anregen. Durfte ich aber dort, wo der große Ethnologe Arson gescheitert war, auf Erfolg hoffen? Ich wusste, da ich Die Rede an die Tiere gelesen hatte, dass mein Meister „dreißig Jahre bei dem Stamm der Bo verbracht hatte, deren Herumtollen er neunundzwanzig Jahre lang beobachtet hatte, ohne das kleinste Dokument abzuliefern, so sehr trieb es ihm die Schamesröte ins Gesicht, auf welch sonderbare Weise sich dieses Völkchen fortpflanzte.“ Angesichts meiner Weigerung wollte er mir daraufhin die Herausgeberschaft des Handbook of Valéro-Novarinian Languages anvertrauen, das er sich nach dem Modell desjenigen vorstellte, das Franz Boas den nordamerikanischen Indianern gewidmet hatte.  Ich habe diesen Vorschlag angenommen, der mein Postgraduierten-Diplom zur Vorbereitung meiner Dissertation darstellen sollte, meine Arbeit über die Valero-Novarinier widmete sich dem Studium ihrer Sprachen, danach arbeitete ich über den Begriff der „personne“11, die den Hauptgegenstand meiner Dissertation bildet. Ehe ich Ihnen in aller Bescheidenheit die Ergebnisse meiner Forschungen darlege, kann ich nicht umhin, Ihnen etwas über jene neue Disziplin zu sagen, die die Anthropopodülogie darstellt, weil meine Dissertation nicht eine in Anthropologie, ja nicht einmal in Ethnologie, sondern in Anthropopodülologie ist. Des Weiteren habe ich klarzustellen, dass die Bo existieren, sofern damit jene gemeint sind, die auf den Andamanen Inseln lebten, im Golf von Bengalen unweit von Birma gelegen, jenes Volk, dass man als eines der ältesten der Welt betrachtet und das heute stark bedroht, ja anscheinend sogar ausgestorben ist. Ich nehme jedoch an, dass die Bo, die Arson erforschte, vielmehr zu den Bankon gehörten, einem Bantu-Stamm in Zentral-Afrika. Daher ist es äußerst wahrscheinlich, dass diese Bo in Verbindung mit den Dogon gestanden haben müssen, wie ich nachzuweisen mich bemüht habe. Dabei hat mich kürzlich die Lektüre der Studie von Françoise Zonabend, „Warum benennen? (Personennamen in einem französischen Dorf: Minot im Châtillonnais)“ sehr verblüfft, da die Bewohner von Etalente, einer Gemeinde nahe bei Minot, ihrerseits „Têtes de Bô“ genannt werden, was so viel heißt wie Holzköpfe.12 Ich glaube, Arson wusste nichts von der Existenz dieser Bo-Köpfe. Ist ein Bo-Kopf eines Tages zu den Bo und ist umgekehrt ein Bo in die Gegend des Châtillonais gekommen?13

Die Anthropopodülologie ist also eine neue Disziplin, die sich gegen die Humanwissenschaften konstituiert hat, um „die Darstellung von jedweder Wissenschaft des Menschen und jedweder Moral zu entleeren, (…) einen Moment lang alle Humanwissenschaften auf[zu]geben.“14 Gegen den maßlosen Humanismus unseres Okzidoramas und seiner humanitären Religionen holt sie den Menschen aus dem Menschen heraus, die Anthropopodülologie steht der Architektur der Armen näher als den Humanwissenschaften, da sie nicht das Menschsein befragt, sondern „eine Hütte von unten. Nicht das Individuum, den menschlichen Besitzer, sondern Niemand.“15 Der Niemand als etwas, das die Tragung16 des Menschen aufzeigt, die Person als eine, die das Ergebnis des Austritts aus dem Menschen ist. Kurz, die Anthropopodülologie muss „der anthropoiden Fabel endgültig den Rücken kehren, die uns die Humniminalen Wissenschaften hier rundum seit viel zu Langem einhämmern“.17 Die Anthropopodülologie ist die nichthumane Wissenschaft des Menschverlassens, die Nicht-Wissenschaft von Niemand, die hurlumane Nicht-Wissenschaft der Huminullerei.

„Man wird sich nie genug gegen diesen Namen auflehnen, der uns gegeben ist: was man als Mensch bezeichnet, das man aber ganz anders nennen sollte. Man wird nicht nur einmal geboren, ich wurde nicht nur einmal geboren: er lässt uns immer wieder erneut zur Welt kommen, namenlos sein und gegen alle Arten protestieren, durch die wir dargestellt werden, protestieren gegen das menschliche Aussehen, gegen jegliche Wissenschaft vom Menschen, alle Idole zertrümmern, unablässig die Abbilder des Menschen sprengen gegen alle Karten, die schematische Ansicht über unser Draußen und Drinnen, uns stets immer weigern, unseren Namen zu tragen. Weil wir jenseits unserer Namen sind, jenseits unserer Bilder, nicht sprechend, sondern unsere Sprachen verkehrend, unsere Worte durchquerend, quer, hindurch, in einem Wald aus Sprache, in einer Menge aus Worten, in einer Inschriftenstadt, jene, die passieren, jene, die durchqueren.“18

Die Person widerfährt sich selbst, indem sie durch ihre Worte bewirkt wird, die Person ist die vorübergehende Folge eines Heraustretens und einer Durchquerung der Sprachen, der Austritt folgt den Wörtern der Sprachen, die Wörter sind nicht immer aus ein und derselben Sprache, diese Fährte führt uns oft zum äußerst seltenen reinen Wort, das gar nichts sagt, nichts als seine Flugbahn.

 

Die Valero-Novarinischen Sprachen: Dämpfe und Donau

Die Valero-Novarinische Sprache oder vielmehr die Valero-Novarinischen Sprachen sind äußerst schwierig aufzulisten, manche werden nicht mehr gesprochen, sie sind seit Jahrhunderten ausgestorben, die meisten dieser Sprachen waren germanischen Ursprungs und manche gibt es gar nicht; als ich beispielsweise Nachforschungen über die Sprache der Nabauken anstellen wollte, verwiesen mich alle Suchmaschinen an die Rabauken, für die Prukter, die Protovolsker, die Molezambeken und die Urminiaten wurde ich zu den verschiedenen Aktionsstadien im Theater des Valère Novarina weitergeleitet. Völker, die es nicht gibt oder die es nicht mehr gibt, können dennoch eine Sprache haben, die weiterhin in die anderen einsickert und die hörbar zu machen den Schauspielern obliegt. Sprachen ohne Sprecher, Sprachen, die nie gesprochen wurden, sind dennoch sprechend, die Person spricht in Zungen, sie spricht und bisweilen zerbricht sie; diese Sprachen, beispielsweise die Sprache der Urminiaten, könnten verwandt sein mit der Ur-Sprache vieler Novarinischer Texte, in denen Glossolalien vernehmbar werden, diese Sprachen erweisen sich für jede reale Sprache als ihre Möglichkeiten, gesprochen zu werden. Man muss festhalten an diesen Sprachen, damit der Novarina‘sche Aphorismus „Wovon man nicht sprechen kann, das muss man sagen“ möglich wird. All diese Sprachen sind die Sprache, die fehlt und ohne die nicht gesagt werden könnte, was gesagt werden muss mit der „Liste der Töne der Verben, die müssen. Verben auf Üt, Verben auf Bliff, Verben auf Fütt, Verben aufwärts.“19 Diese Sprachen, die nicht gesprochen werden, gehen hervor aus dem Glauben, dem Glauben an die Sprache, dem Glauben an die Notwendigkeit des Sprechens, damit der Mensch nicht aufhört, aus sich herauszukommen. Wie es Michel de Certeau im zweiten Band von La fable mystique schreibt: „L’oralité, c’est l’or“ (Die Mündlichkeit ist das Gold),20 das Gold, das die Valero-Novarinier verschwenden, das Wort, zwingt zum Sprechen; der Valero-Novarinier ist eine „großer Texteschlucker“, ein „großer Wörter-Esser“, ein Verschwender von Worten. Das Wort ist nicht als Kommunikationsmittel gedacht, sondern muss verfliegen, das Wort verbraucht sich; diese Ökonomie der Mündlichkeit lässt sich im Lichte der Analysen von Mauss über den Potlatch deuten. Das Wort, weit davon entfernt, ein simpler Akt der Kommunikation, der Nennung oder gar der Anrufung zu sein, ist in Wahrheit ein triadischer Prozess, dessen Zirkulation durch die Kohäsion seiner drei Dimensionen gewährleistet wird: geben, bekommen, zurückgeben. Wenn das Wort ein Wort der Erwiderung aufruft, bleibt immer noch zu begreifen, was denn da zum Sprechen zwingt:

„Wenn man die Dinge gibt und zurückgibt, dann, weil man sich »Anerkennung« gibt und zurückgibt – wir nennen es noch »Höflichkeiten«. Man gibt aber beim Geben auch sich, und wenn man sich gibt, dann, weil man sich und sein Gut – den anderen – schuldet.“21

Indem er sprechend sein Wort gibt, gibt sich der Valero-Novarinier, er ist gegeben durch sein Wort; sein Austausch, der für uns die Form von Theaterdialogen annimmt, schreibt das Valero-Novarinische in einen fortlaufenden Sprachstrom ein, wobei dieser als ein „Fluidum, das sich im Raum ausbreitet“22 begriffen wird. Große Nähe der Valero-Novarinier zu den Dogon, sogar Louis de Funès hatte Kenntnis von den „Syntagmierern der Dogonen“.23 Die Sprache der Dogon wird mit dem Mandinka in der Liste von Sprachen genannt, die in Observez les Logaèdres! (Boebachtet die Logaeder!)24 auftaucht.

In Dieu d‘eau (Gott des Wassers)25 erklärte Marcel Griaule bereits, dass für die Dogon, ganz wie für die Valero-Novarinier, die vitale Kraft, die die Sprache transportiert, als Wasserdampf aus dem Mund austritt, das Wort ist wie Wasser. Es scheint sogar, dass manche Valero-Novarinier ihre Vorfahren, die Pomulken, nicht anders verehren können als in Bezug auf ihre „Dampfigkeit“:

„Wir sind“ sagt Onomager in Der unbekannte Akt, „die entmenschten-Omnillienschen, wir verehren den Schatten unserer Vorgänger, wie auch immer ihre Dampfigkeit sei.“26

Das Wort wird sichtbar im Wasserdampf, der sich um den Mund kondensiert, doch kann dadurch auch, durch den Akt des Benennens, der Schatten der Vorfahren geehrt werden. Man könnte den Gedanken wagen, dass für einen Valero-Novariner benennen verdampfen heißt, und verdampfen, oder umnebelt sein, heißt: zum Dasein bringen. Ein zwischen der Monokorden Mutter und dem Olympischen Kind aufgeschnappter Dialog (in Der unbekannte Akt) ließ mich das Verhältnis zwischen Dampf und Sprache verstehen: Auf die Frage der Monokorden Mutter „Wo hast du deine Redseligkeit her?“ erwiderte das Olympische Kind: „Ich sah meine Mutter nackt umnebelt in der Heiligen Waschküche, wo ich aus ihrem Loch ihr durch das Dach entweichen konnte.“ Die Ähnlichkeit zwischen dem Körper der Mutter und einer Behausung erscheint für einen dogonischen Geist keineswegs unerwartet, Marcel Griaule in Dieu d’eau und Geneviève Calame-Griaule in Ethnologie et langage, la parole chez les Dogon (Ethnologie und Sprache, das Wort bei den Dogon) haben in der Tat die strukturelle Übereinstimmung zwischen dem Haus und der menschlichen Person unterstrichen, wobei das eine  nach dem Bild der anderen gebaut ist. Das Kind, das möglicherweise ein Dogon oder auch ein Bo ist, schreibt seine Gabe des Sprechens dem Anblick seiner umnebelten Mutter zu, der Dampf ist also nicht nur das, was die Wörter sichtbar macht, er ist auch das, was das Wort trägt. „Die vitale Kraft, die das Wort trägt, die das Wort ist“ schreibt Marcel Griaule „tritt aus dem Mund als Wasserdampf, der Wasser und Wort ist.“ Die Arbeiten von Geneviève Calame-Griaule über das Wort bei den Dogon erlauben es, die große Verwandtschaft zwischen den Valero-Novariniern und insbesondere jenen der Ethnie der Bo mit den Dogon auf den neuesten Stand zu bringen: „Wir wollen hier nur hervorheben, dass die verschiedenen Elemente, die die Sprache bilden, sich in diffusem Zustand im Körper befinden, insbesondere in Form von Wasser. Wenn der Mensch spricht, tritt das Wort in Form von Wasserdampf aus, wobei das Wasser der Sprache durch das Herz »erwärmt« wurde. Wenn das sprechende Subjekt davon absieht, seine Gedanken auszudrücken, das heißt seine »innere Sprache«, dann wird sie durch die Bauchspeicheldrüse »abgekühlt« und verbleibt im Organismus in Form von Wasser; es bleibt aber weiterhin möglich, sie zum Ausdruck zu bringen, indem man sie wieder »erwärmt«.“27 Dieses flüssige Konzept von Sprache fände demzufolge seinen Ursprung bei den Dogon, doch diese durchaus einleuchtende Herkunft – ich vermute in der Tat, dass die Bo den Valero-Novariniern ermöglicht haben, sich mit den Dogon auszutauschen – sollte man auch um die Hypothesen einer neuen Untersuchung ergänzen, die die These einer danubischen Herkunft der valero-novarinischen Sprache vertritt. Tatsächlich bevölkerten einst die Sueven, die Geten, die Daker, die Rugier und sicher noch andere die Ufer der Donau, die flüssige Sprache finde auch dort ihren Ursprung, im „meisterlich danubischen Rhythmus“28 dieser Sprachen. Die Linguistik ist, wie das Kind Valère Novarina verfocht, „ein Zweig der Physik der Flüssigkeiten und Gase“. Die Sprache ist ein Fluidum, in dem das Wort davongetragen wird. Doch für den Ethnologen und erst recht für den Anthropopodülologen, der vermeinte, die Valero-Novarinier seien ein Volk ohne Geschichte, bleibt dieses Konzept von Sprache erstaunlich, denn im Geist der Valero-Novarinier mündet es auch in eine sehr originelle, radikal pessimistische Geschichtsphilosophie. Auch sie, die Geschichte, ist ein Zweig der Physik der Flüssigkeiten und Gase:

„Hier“, sagt Raymund von Materie in Der unbekannte Akt, „sind zwei Behälter. Ich schreibe darauf, oder vielmehr nein, ich gieße Wasser hinein. Oder Blut. Diese Flüssigkeit steht für: den Inhalt der Geschichte ... In einem der beiden Behälter entscheide ich willkürlich, dass der Mensch der Akteur der Geschichte ist: sehen Sie ...; im anderen, dass nur der große animalische Zufall und seine chemische Kausalität uns antreiben. Lassen wir sie ruhen und tausend, zweitausend oder fünftausendsiebenhundertsiebenundvierzig Jahre vergehen. Im Endeffekt – bitte entkorken – ist das Resultat das gleiche: das ganze Wasser ist am Boden. Ohne den Menschen oder mit dem Menschen wandert die Weltgeschichte ins selbe Loch. Und nun, begeben wir uns ins Herz des Paradoxons: die Flüssigkeit ist die Sprache.“29

Die Geschichte ist nicht die Geschichte des Klassenkampfs, die Geschichte ist auch nicht dem Zufall ausgeliefert, die Geschichte ist die Geschichte der flüssigen Sprachen, ihrer Ebben und Fluten. Die Geschichte verflüssigt, liquidiert den Menschen in seinem Blut.

Auf einem Aktionstheater muss also stets große Kälte herrschen, damit, was verdampft, auch zu sehen ist, man sieht es nämlich in der Tat, „das ballistische Auftauchen der Wörter, die vom Mund ausgeschickte Pfeile sind.“ Es ist nicht verwunderlich, festzustellen, dass diese Bahn des Worts große Ähnlichkeiten aufweist mit der Beschreibung des Wegs der Sprache der Dogon, die Geneviève Calame-Griaule vorlegt:

„Die durch das »Aufkochen« des Wassers in der Leber auf das Wort übertragene Bewegung ist eine Vibrationsschwingung, die sich spiralförmig entfaltet. Der Weg des Wortes ist also der gleiche wie der Weg des Wassers: »Das, was strudelt, das Wort spricht im Zickzack.«  Das erklärt, warum die Sprache wie das Wasser graphisch durch eine Fischgrätlinie dargestellt wird.“30

Leider verhindern unsere beheizten Theater den Anblick der Worte, diese werden also auf riesigen Tafeln dargestellt, durch die hindurch bisweilen die Anthropopodüle erscheinen.

 

Die Acht

Ja, es gibt eine starke Verwandtschaft zwischen den Dogon und den Valero-Novariniern; über die große Nähe ihrer linguistischen Konzepte hinaus bleibt zu ergänzen, dass die Bedeutung der Zahl Acht bei den Valero-Novariniern sich nur im Lichte des dogonischen Denkens verstehen lässt. Die Ziffer Acht ist nämlich für die Dogon das Symbol des Wortes, der Begriff der Person wird aus acht Leitprinzipien gebildet, die man Seele nennt. Die Entwicklung des Kindes beginnt mit derjenigen des Schädels und der Schlüsselbeine; für die Dogon entspricht das Schlüsselbein zwei wesentlichen Funktionen: einer Funktion als „Aufhängung“ des Skeletts und einer anderen als Behältnis der acht wesentlichen Samenkörner;

„Die acht Samenkörner der Schlüsselbeine sind das Symbol der acht Schwingungen des ersten »Worts«  von Amma. Sie verleihen dem Individuum das organische Leben, so, wie es diese Schwingungen dem ersten lebenden Samenkorn gewährt hatten. Die »Lautbildungen des Worts« von Amma werden in den »Gelenkbildungen« des Skeletts des menschlichen Körpers präsent sein, symbolisch gefasst in den Schlüsselbeinen.“31

Die „acht Arme, acht Beine auf Atemwegen achtfach sprachenhaft, acht Glieder oben und acht unten“ des Schauspielers in Für Louis de Funès sind undenkbar ohne die acht Samenkörner, man müsste hier das zahlreiche Auftreten der Acht im Denken der Valero-Novarinier hervorheben; ohne die Acht wären sie gar nicht sichtbar: „Kein Theater nirgends auf der Welt als in dem Achtseitenkopf.“32

Unvergesslich ist mir die von Achten gesättigte mathematische Formel der Zeit, die Hans Höhle in Der Rote Ursprung vorträgt: „(a + b)8  = a8+ 8 a8b8 + 8 ab8 + a8b8 + b8 = (a + b)8= a8 + 8 a8a + 8 a8a8 + 88 a8a8 + 888 a8 + a8“.33

 

„Nieder mit dem Ego!“, was dem Valero-Novarinier folgt

Der Valero-Novarinier hat von seinem Leib eine zugleich linguistisch theatralische und eine mythische Vorstellung. Wie bei den Dogon konnten wir feststellen, dass bei den Valero-Novariniern die verschiedenen Elemente, die die Sprache bilden, sich in Form von Wasser im Körper befinden und im Wesentlichen durch Röhren (tubes) laufen; das für die Sprache benötigte Wasser wird durch Röhren kanalisiert, deshalb verehren sie den Röhrengott Tubal, von dem in Der unbekannte Akt die Rede ist.

Starke Affinitäten seitens der Valero-Novarinier zur tubistischen Malerei eines Fernand Léger. Der Valero-Novarinier ist konsistent nur als einer, der spricht, hier ganz wie der Melanesier; alles, was er tut, seine Frau, sein Garten, sein Auto, sein Geschlecht, seine Kleider, was er isst, all das ist Wort. Die Sprache macht ihn sich selber unbehaftet, er nimmt teil an dem, wovon er spricht, und hat teil an dem, was er sagt; so ist sich der Valero-Novarinier seiner selbst kaum gewiss, von Grund auf seiner unsicher, eben deshalb hört er nicht auf, nach seiner Person zu suchen; es kann vorkommen, dass er aus Wut oder Verzweiflung seinen eigenen Schatten umbringt, um sich nicht mehr vergebens folgen zu müssen. Bei den Valero-Novariniern unterscheidet sich das Wort être (sein) nicht vom Wort suivre (folgen); wenn also der Valero-Novarinier sagt: „je suis“ („ich bin“), bedeutet das, dass er hinter sich her ist, sich folgt (qu’il se suit), man müsste also übersetzen: „je me suis“ („ich folge mir“).34 Als ich beispielsweise einem Dialog zwischen Jean Singulier (Hans Singular) und der Grammatik beiwohnte, hatte ich die größten Mühen der Welt zu begreifen, was sie sagten, obgleich, was sie sagten, völlig verständlich war. Folgendes sagte Hans Singular:

„Ich war Hans klitzeklein bei den Uneingetroffenen; wohin ich auch göng und was ich auch ward, nichts brachte mich hin. […] Wohin ich auch ginge, nichts ging hin, wo immer ich sei, ich floh davor … oder ist es so, dass ich nichts sehe?“35

Die durch den Verlag P.O.L. vorgeschlagene Übertragung dieses Austauschs erscheint mir ungeschickt und, wie ich zu sagen wage, fehlerhaft.36 In dieser Fassung erscheinen die Verben être (sein) und aller (gehen) als verschieden, während Jean Singulier nur ein Verb verwendet, das Verb suivre (folgen). Ich würde also folgendermaßen übertragen: „Ich folgte mir Hans klitzeklein bei den Uneingetroffenen; wohin auch ich mir fölge und obwohl ich mir auch fölgte, nichts brachte mich hin. […] Wohin ich auch ginge, nichts ging hin, wo immer ich mir folgte, ich floh vor mir … oder folgt es mir und ich seh nichts?“ (Oder „geh nicht?“, weil sich das Verb sehen vom Verb gehen im Schlimperfekt nicht unterscheidet.) Mir sind die Übertragungsschwierigkeiten nicht unvertraut, dennoch möchte ich zusätzlich klarstellen, dass die Tempi der Verben nicht der Indikativ Imperfekt und der Konjunktiv Imperfekt sind, sondern der Schlimperfekt und der Mehr-als-Verlust im Modus des Koruchlativs. (Ich stütze mich auf die wenigen Elemente einer Grammatik des Valero-Novarinischen, die durch das Aschenkind in Vous qui habitez le temps (Die ihr die Zeit bewohnt) gegeben werden.37 (Das Aschenkind  ist einer der wenigen Valero-Novarinier, die ich kenne, dem es gelingt, so gut in die Sprachen hinabzusteigen, dass er sie uns hörbar macht.)

In der Übertragung, die ich vorschlage, ist die Zwei-Pronomen-Struktur zu beachten, diese Struktur passt zu der sehr fließenden Vorstellung, die die Valero-Novarinier vom Begriff der Identität haben. Das bedeutet nicht, dass jegliche Form von Subjektivität ihnen unbekannt wäre, sondern eher, dass sie keine Konsistenz hat. „Mir war die Tatsache immer unerträglich“ sagte mir die Samenfrau, „dass im Französischen das ich gleichzeitig von mir selbst und mehreren anderen verwendet werden kann.“38 Dabei ist nun die Nähe des Valero-Novarinischen zum Kanakischen verblüffend, wobei anzumerken ist, dass schon in La Lutte des morts (Der Kampf der Toten) die Canâcres präsent waren,39 das könnte den Einfluss der kanakischen Kultur auf die Valero-Novarinier bestätigen. Der Begriff der Person bei den Valero-Novariniern unterhält in der Tat sehr enge Beziehungen zu dem melanesischen Personenbegriff, wie Maurice Leenhardt ihn in seinem großen Werk Do Kamo untersucht hat.40

Dieses Misstrauen gegenüber dem Ich ist bezeichnend für die Valero-Novarinier, so wird es mitunter verdoppelt und zum Ichich (Jeje) oder Ijich (Ije); das Ichich setzt das Ich aufs Spiel und verdeutlicht zweifellos ein abwesendes Bewusstsein oder wenigstens ein großes Misstrauen ihm gegenüber; indem ich sie so darstelle, kann ich mir das Wagnis nicht verhehlen, das darin liegt, die Valero-Novarinier gleichzusetzen mit dem, was von der alten Ethnologie als „die Primitiven“ bezeichnet wurde. Indessen ist das Gegenstück zu dieser Abwesenheit von Selbstbewusstsein die Vielheit der Partizipationen, die die Valero-Novarinier leben; vielleicht muss man diese Bewusstseinsabwesenheit voraussetzen, um zu verstehen, wie, durch was und durch wen sie leben. Das Valero-Novarinische Konzept der Partizipation ist komplex. Dieses von Lévy-Bruhl übernommene Konzept bezeichnet zunächst einmal eine Art zu leben, in der der Mensch sich nicht mehr von dem unterscheidet, woran er teilhat, die Partizipationen verkehren die Sprache, die uns der Welt enthaftet, sie implizieren also eine Rekonfiguration des Sprechens, welches die Person diesen Multipräsenzen neu einhaftet. Der Erdemann (Bonhomme de terre) in Le Jardin de reconnaissance sagt die Liste seiner Partizipationen auf, die Liste seiner Teilhaben durch das, was er erlebt hat, ich halte ein paar Beispiele aus der Liste fest:

„Ich lebte Simonade bei Hans Höhle; ich lebte das Amphatuarische Kind und sein Ideenloch; ich lebte die Müllverstreutheit von Marzella Zischler; ich lebte den kleinen Flink, … ich lebte das Naturgefühl beim Baum, … ich lebte das Geürmel der blonden Sachen, … ich lebte die zum Ansehen regungslose Erde, … ich lebte Eric Colliard lebendig überfahren mit Sylvia;“ (und weil ich den Tubismus erwähnt habe:) „ich lebte die tuboiden Runden mit Gewalt ins Menschenloch versetzt, um aus Mensch herauszukommen …“

Die Grenzen des Valero-Novariniers sind unbestimmt, sehr variabel, seine „Zugehörigkeiten“ (oder wie Diogenes am Steuer es in La Scène nennt, seine „Errungenschaften“)41 sind nicht eine Erweiterung seiner Person, sie sind integraler Bestandteil der Person und verschmelzen mit ihr. Der Erdemann gebraucht zwar jedesmal das Personalpronomen, wenn er die Liste seiner Partizipationen verkündet, jedoch am Ende seines Katalogs wird er nur noch Ichich sagen können, wenn ich richtig gezählt habe, 70 Ichs. Man versteht auch, dass sein, wie Lévy-Bruhl in seinen Carnets schreibt, partizipieren heißt, oder auch: „Sein entspricht zu partizipieren.“42 Die Partizipation ist, wenn sie vom Erdemann ausgedrückt wird, etwas Gelebtes, es handelt sich um die Erfahrung einer Konsubstantialität, einer Kommunion, einem Identischsein, einer Teilhabe, einer Identität zwischen ihm selbst und Wesen, Dingen, der Natur. Die Partizipation, wie sie bei den Valero-Novariniern gelebt wird, erlaubt es uns, weiterzudenken und womöglich besser zu verstehen, was für Lévy-Bruhl die Essenz der Mentalité primitive bildete. Für die Valero-Novarinier ist das Verb sein, wie wir gesehen haben, nicht zu unterscheiden vom Verb folgen. Wenn der Erdemann beispielsweise Eric Colliard lebendig überfahren mit Sylvia „ist“, oder das Amphatuarische Kind lebt, folgt er diesen Wesen als ihre Schatten. Ich könnte den berühmten Aphorismus des Autors der Mentalité primitive neu formulieren und sagen: Partizipieren heißt folgen. Partizipation des Valero-Novariniers an der Welt, an den anderen, an den Dingen findet statt, weil sie durchwandert werden und ihnen gefolgt wird auf den Landkarten der Sprache. Das Wort Person, das muss gesagt sein, geht zu den Valero-Novariniern hin, die Person ist unablässig außer sich, außerhalb eines Egos oder eines Körpers, wie unser Okzidorama sie definiert. Der Valero-Novarinier ist er selbst nur unter der Bedingung, zugleich ein anderer als er selbst zu sein. Wie für den „Primitiven“ Lévy-Bruhls „weit davon entfernt, ein einzelner zu sein, ist er ein weiterer und mehrere zugleich. Er ist also gewissermaßen ein wahrer Ort der Partizipation.“ Die Person ist für die Valero-Novarinier wie für die Melanesier ein Ort der Beziehungen und Verbindungen, der Mittelpunkt dieser Beziehungen ist ein leerer Ort, wie es das Diagramm von Maurice Lehnhardt aus Do kamo zeigt, in dem er sorgsam jede Darstellung eines Ego vermeidet.

 

b

 

f                                            c

a

a                    a
 

a               a 

 

e                                           d

 

ab, ac, ad, ae und so weiter repräsentieren in Lehnhardts Schema die Person und ihren Vater, und ihren Onkel, und ihre Frau usw.; für die Valero-Novarinier verdeutlicht dasselbe Schema beispielsweise die „Leben“ des Erdemanns. Das Zentrum seiner Beziehungen ist niemand:

„60. Das Wort »Person« bietet uns Leerstellen, schenkt uns Öffnungen – im Gegensatz zum Wort »Individuum«, das umreißend, erfassend eine Menschenparzelle isoliert, ihre Besitztümer absegnet, die es katastriert, sie für unteilbar erklärt. Hier erfasster, abgesteckter Mensch: Selbstbesitzer.

61. »Person« sagt uns mehr zu, da dieses Wort uns preisgibt, und vielleicht sogar uns beraubt. »Person« lässt in uns Raum für die unsichtbare Leere. Es lässt in uns die Tür zur Leere offen. Person unvollendet uns.“43

Der Valero-Novarinier unterscheidet wie der Melanesier nicht Innen von Außen, es gibt kein subjektives Inneres im Gegensatz zu einem objektiven Äußeren: „Nichts mehr ist im Inneren von nichts. Es gibt nichts im Inneren von ihm. Es ist niemand mehr im Inneren von ihm.“44 Der Valero-Novarinier ist außer sich, er ist der Mensch außer sich, der über den Menschen in Le Vrai sang sagt: „Das ist ein alphabetisches Loch!“ und der ergänzt: „Oh Leere! Kehre zurück in deinen grundsätzlichen Grund!“45

Der zweite Aspekt der Abwesenheit von Bewusstsein bei den Valero-Novariniern wie bei den Kanaken, und in erweiterter Weise für Lévy-Bruhl bei den „Primitiven“, ist, dass sie kein Bewusstsein eines eigenen Körpers haben als etwas, dessen besitzender Inhaber das Individuum wäre. Der valero-novarinische Mensch ist nicht Besitzer seines Körpers.

Nichts Valero-Novarinisches ist außerhalb des Valero-Novariniers und niemand ist außerhalb des Valero-Novariniers, der niemand ist, nicht mal einer außer sich. Nichts von dem, was ist, d. h. was dem Valero-Novarinier folgt, könnte uns fremd zu sein.

Wenn man den Valero-Novarinier fragt, wer er ist, antwortet er stets damit, wohin er geht, er ist hauptsächlich beschäftigt, sich dabei zusehen zu lassen, wie er in Aktionsstadien und anderen Anthropodromen aus sich heraus geht, wo er ausprobiert, dasjenige zu sein, dem er folgt, indem er unablässig wiederholt: „Es ist ein anderer in mir, der nicht ihr seid, der niemand ist.“46

 

 

 

 

Zitate wurden, soweit sie nicht bereits übersetzt vorliegen, neu übersetzt.

© Francis Cohen 2018
© deutsche Übersetzung Leopold von Verschuer 2019

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