Journale Prosa Erinnerung an die Gegenwart

Erinnerung an die Gegenwart

Journal zur Übersetzung von Der Mensch außer sich von Valère Novarina

Prolog

Den Auftrag, ein Ü.-journal zu führen, begreift der Ü. – so will ich den Übersetzer ab jetzt nennen – als Einladung zum Verfassen eines Reisetagebuchs. Wie es ein Innen und Außen der Sprache gibt, ist eine Übersetzung eine innere und bisweilen eben auch äußere Reise. Eine Route ist zu beschreiben, es kommt zu Begegnungen, eine geistige Gepäckkontrolle findet statt, Reiseführer werden konsultiert.

Kann man Gegenwart erinnern? Im Französischen heißt der Schauspieler Acteur, Handelnder. Sprechen ist handeln. Das Verb agir heißt aber auch wirken (wie zum Beispiel eine Medizin). Schauspielkunst ist handelnde Gegenwartsverdichtung. Das Schreiben des Sprachkünstlers Valère Novarina kommt zu sich, wenn es gesprochen, wenn es pure Gegenwart wird. Aber kann man Gegenwart in Gegenwart übersetzen? Der Ü. versucht sich zu erinnern. Es begann mit einem Flugschein.

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26. Februar 2020 – 8:55 Uhr Abflug Berlin-Tegel nach Paris-Orly, Aufbruch des Ü. zu „seinem“ Autor Valère Novarina.

Im Flieger sieht er zum ersten Mal drei Menschen mit ... Mundschutz – der Anblick, damals noch befremdlich, erinnert an Schnäbel. Oder Maulkörbe? Bei der Ankunft in Orly wird jeder einzelne Pass gesichtet, das hatte es so seit dreißig Jahren nicht mehr gegeben. Wie viele Namen sind es, die dort allein an diesem Tag von den Zöllnern abgelesen wurden? Eine Litanei der Namen schwebt lautlos als Wörterwolke unter der Decke der Ankunftshalle.

Der Flughafenbus zum Place du Trocadéro brummt durch den Nieselregen. Beim Aussteigen wirft der Ü. zur Vergewisserung den unvermeidlichen kurzen Blick auf Monsieur Eiffels Vertikale. Wohin deutet sie? Ist sie das Ergebnis eines erneuten Turmbaus zu Babel zum 100. Jahrestag der französischen Revolution? Ohne die babylonische Sprachverwirrung gäbe es uns alle nicht, die Ü.innen und Ü.!

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Wohlan, lasset uns hinabsteigen, und dort verwirren ihre Sprache, dass sie nicht verstehen Einer die Sprache des Andern. [...] Darum nannte man ihren Namen Babel, weil dort der Ewige verwirrte die Sprache aller Erdbewohner. [Genesis 11,7 u. 9., übersetzt von Martin Luther, Fassung 1981]

Nie war es dem Ü. aufgefallen: den Platz überquerend entdeckt er, dass im Westflügel des Palais de Chaillot ein Menschenmuseum logiert, das Musée de l’Homme. – Ist es etwa schon so weit? Kommen die letzten Exemplare der humanen Spezies kurz vor ihrer Abschaffung bereits ins Museum? Was hätte der Humanist Petrarca dazu gesagt, frug sich der Ü., die Rue de Pétrarque ansteuernd, vorbei am Stadtfriedhof Cimetière du Passy, auf dem weitere repräsentative Exemplare ihrer Gattung ruhten1, und erneut tonloses Hämmern von Namenslisten, diesmal in Stein gemeißelt! Generäle „mort pour la France“, siebzehn „Hommes politiques“, wo waren die Femmes politiques versteckt, ca. fünfzehn Schriftsteller, das Theaterehepaar Renaud und Barrault, der Komiker Fernandel. Es gab auch zwei weiße Psychiater, Vater und Sohn namens Blanche. Die Luft summte vor Kälte – und Namen summten in seinem Kopf:

„Dem Tier der Zeit!“, „Dem Hunde, welcher!“, „Dem Fleisch und auch dem Andern!“ Tiere mit Hirn, seht die Inschrift: sie haben ihre Gräber in Dielen gemeißelt. „Hier ruht der Mensch aus ohne die Dinge: alles ist ohne mich.“ Sieh da, die Gräber wie geritzt: ich sah die Namen der Sätze auf einen Kiesel geschrieben. Er, der in der Nacht geschrieben hat: „Licht der Welt ist Unvernunft.“ Und er: „Hier ruht mein durstloses Loch.“ Der andre da: „Ich lebte ohne Inschriftserde.“ Er sagt: „Die Welt ist sockellos errichtet worden und wir auf der Bahre genötigt zu wohnen und keinerlei Säule ist auf der Welt die je niemanden trägt der ist.“ Das ist ein Wort eines Tänzers. Der sagt: „Ruhm den Muskulanten, Schande den Medizininiern!“ Er litte unterm Hospitolien. „Ruhm den Nachfolgerern, Schande den Vorgängerern.“ Selbst wenn die Leichname dahin sind, erwidert gleichwohl stets die Grube noch auf unsere Fragen und wir lesen noch die Steine aus Sphären abgestürzter Namen und die Töne der Gebeine. (Valère Novarina, Die Rede an die Tiere, Teil 1: Das Tier der Zeit)

So beginnt die Theaterfassung von Valère Novarinas „Rede an die Tiere“, ein Mensch geht über einen Friedhof und liest seltsame Grabinschriften, die Bühne ist leer. In diesen Wochen dachte der Ü., dass der Untertitel dieses vor dreiunddreißig Jahren uraufgeführten Textes hätte lauten können:

Erinnerung an den Menschen.

1986 war „Le Discours aux animaux“ durch den Schauspieler André Marcon in Paris an Peter Brooks legendärem Théâtre des Bouffes du Nord uraufgeführt worden und erschien 1987 im Verlag P.O.L. Marcon hatte so großes Aufsehen erregt, dass er 1991 mit „L’Inquiétude“ einen zweiten Teil beim Festival d’Avignon folgen ließ. Nachdem 1984 bereits „Le Monologue d’Adramélech“ im kleineren Théâtre de la Bastille vorausgegangen war, war es diese Konstellation aus Autor und Schauspieler, die den Grundstein für Novarinas Weg im französischsprachigen Theater legte. Seinen frühen „Brief an die Schauspieler“ („La Lettre aux acteurs“) von 1973 hatte Novarina mit dem Satz begonnen: „Ich schreibe durch die Ohren.“ Und ja: Man versteht ihn auch am besten durch die Ohren!2

Den Ü. faszinierte immer wieder, wie ein Autor, jedenfalls bei der ersten Begegnung, so schwer zu lesen, aber so einfach zu hören sein kann. Daraus ergibt sich die übersetzerische Herausforderung, einen in der Schriftlichkeit des Buches ruhenden Text nachzubilden, der doch immer auf dem Sprung in die körperliche Gegenwärtigkeit des Gesprochenwerdens ist.

Der Ü. war nun am Ziel seiner Anreise: Valère Novarina, „sein“ Autor3 empfing ihn in seinem Hause, sie rannten durch den Regen ins nächstgelegene Mittagslokal, um die Planung der nächsten Tage zu besprechen. Denn er sollte als Diener zweier Herren zwischen zwei Autoren pendeln. Aber war man als Ü., der nach Wortperlen fischt, nicht sowieso stets Diener zweier Herren, zweier Sprachen?

Mit Valère Novarina wollte er einerseits das neue Übersetzungsprojekt „L’ANIMAL IMAGINAIRE“ besprechen, vorher aber abschließende Fragen zu seiner kurz vor der Fertigstellung stehenden Übersetzung von „L’HOMME HORS DE LUI“ – „DER MENSCH AUSSER SICH“ klären. Denn das letzte Kapitel bestand aus 1580 Namen, Gebirgler-Spitznamen der Heimatregion des Autors in den französischen Alpen, der Haute-Savoie. Kaum jemand in den Hochtälern wurde dort bei dem Namen gerufen, der in seinem Personalausweis stand, fast jeder trug einen Ruf- oder Spitznamen, der sich aus einem Namenskürzel und einem charakterisierenden Zusatz (einem Ortsnamen, z.B. einem Hof, einer Tätigkeit oder sonst einer Eigenschaft) zusammensetzte, wobei in der Regel Wörter aus dem regionalen Savoyard einflossen, einem Dialekt der franko-provenzalischen Sprache Arpitan, die in angrenzenden Regionen Frankreichs, der Schweiz und Italiens gesprochen wurde (und teilweise noch wird). Da es ein ähnliches Rufnamen-Phänomen auch in den deutschsprachigen Alpen geben musste, hatte sich der Ü. auf die Suche gemacht und war auf den Pinzgau im Salzburger Land gestoßen, auch eine Grenzregion, Bayern lag ja nebenan. Das Pinzgauische wies dem Savoyard vergleichbare sprachliche Eigenheiten auf.

Eine Übersetzung im doppelten Rösselsprung mit detektivischen Komponenten stand an:  aus dem Savoyard, das auch noch von Dorf zu Dorf variierte, zunächst ins Französische, von dort ins Deutsche, und dann, zumindest was die Spitznamen anging, weiter ins Pinzgauische. Darüber hinaus war jedem Namen eine Tätigkeit zugeordnet. Hilfestellung durch den Autor in diesem gigantischen sprachlichen Wimmelbild tat Not! Wir kommen darauf zurück.

Sein zweiter Klient war der Lyriker und Herausgeber Francis Cohen. Ihn hatte der Ü. kennengelernt, als Cohen bei den legendären Colloques de Cerisy4 anlässlich einer Tagung zum Werk Novarinas eine aberwitzige ethnologische Untersuchung der fiktiven Völker und ihrer von Neologismen gespickten Sprachen im Werk Valère Novarinas vortrug: Ethnographie des Aktionsstadions und Anthropopodülologie des Schauspielers im Novarinischen Theater von Francis Cohen.5

Durch Cohen erst hatte der Ü. begriffen, dass die Völker, die scharenweise in Novarinas Theater-Sprachwerken auftraten, keineswegs durchweg frei erfundene Namen trugen, sondern in der Mehrzahl sogar wirklich existierten, was ihn zu hektischer Recherche veranlasste, um die betreffenden Passagen in seinen Übersetzungen zu korrigieren. Cohen hatte ihn damit neugierig gemacht, dass er behauptete, in seinen eigenen französisch verfassten Gedichtbänden deutsche Wörter zu verwenden, ohne jedoch des Deutschen mächtig zu sein, zwei trügen sogar deutsche Titel: „Zwar“ und „Diesmal“. Nicht beherrschte Sprache, das hatte den Ü. angelockt, die sparsamen Wortgebilde Cohens am Rande des Verstummens, in die das Deutsche wie geologische Zwischenschichten eingesickert war, erwiesen sich als ein Gegenpol zu den Textlawinen, in die er sich, stets aufs Neue von Novarina verführt, seit 25 Jahren immer wieder stürzte.

Im Kellergeschoss des Hauses des Autors durfte der Ü. ein Gastzimmer beziehen. Die schmale Stiege, die er hinabklettere, erinnerte ihn daran, dass Novarina in seinen theoretischen Äußerungen immer wieder von der „descente dans la langue“ sprach, dem Hinabsteigen in die Sprache. Und in der Tat war Buchstäblichkeit bei der Lektüre die Fährte, die ihm den gedanklichen Zugang zu diesen überraschenden Reflexionen zu Sprache und Körper eröffnet hatte.

„Indem wir tief hineingehen, hinein in ihre Leere, indem wir hinabsteigen in unsere Sprache, kommen wir etwas wie dem Stofflichen der Wirklichkeit am allernächsten.“
V. Novarina, Lichter des Körpers, § 3406

Novarinas Schreiben war ein Hinabfahren in die kraftvollen Tiefen der französischen Sprache. Er war dabei ein Kenner Rabelais und Bewunderer der Mystikerin Madame Guyon, die dem Ü. als frühe Surrealistin erschien:

„Ich wusste weder, was ich schrieb, noch was ich geschrieben hatte, noch auch in allem, was ich seither geschrieben habe. (…) Ich hatte den Kopf so frei, dass er in einer gänzlichen Leere war, ich war befreit von allem, was ich schrieb, dass es mir wie fremd war.“
Madame Guyon, Die geistlichen Ströme7

Dort unten im Kellerschlafgelass also traf der Ü. auf illustre Gesellschaft. In einem wandlangen Bücherregal stieß er neben einer Biografie des Clowns Charlie Rivel und einem Deutsch-Französisch-Taschenwörterbuch auch auf einige seiner literarischen Hausgötter: Jean Dubuffet und diverse Art-Brut-Schriften, das Werk des schizophrenen Tagelöhners Adolf Wölffli, die Vögel des Avantgarde-Komponisten John Cage. Hier würde er gut schlafen und davon träumen, dass der Renaissance-Dichter François Rabelais zu zarten Pfiffen von Cage den Österreicher Ernst Jandl verschluckt hatte, um jedes Jahr aufs Neue Valère Novarina zu gebären, während Wittgenstein als nicht eingeladene böse Fee an seine Wiege trat, doch da schrie der kleine Novarina:

„Wovon man nicht sprechen kann, DAS MUSS MAN SAAAAAAAAAAAAGEN!“

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Rückblick: Vor fünfundzwanzig Jahren hatte ihm ein Pariser Bekannter von einem irrwitzigen Theatererlebnis erzählt, an dem sein Mitbewohner als Schauspieler mitgewirkt habe. Wenige Wochen später zog der Ü., der da noch keiner war, aus seinem Kölner Briefkasten einen französisch frankierten Umschlag. Jemand sandte ihm „La Lettre aux acteurs“ (Der Brief an die Schauspieler) mit einer die gesamte erste Seite bedeckenden Zeichnung und ausführlichen Widmung des Autors, dem er noch nie begegnet war: Valère Novarina. Er schlug den schmalen Band auf, las drei Seiten und verstand wenig. Ein Jahr später erfuhr er zufällig, dass am Theater der 30 km entfernt liegenden Kleinstadt Remscheid eben jener französische Autor zu einer Lesung geladen sei. Er versuchte sich erneut an dem Büchlein und las es diesmal von vorn bis hinten durch.

Novarina selbst begegnete der Ü., der da noch keiner war, 1993 auf einem Flur des Stadttheaters Remscheid. Damit das Remscheider Publikum diesmal zumindest eine Ahnung bekäme, was ihm da vorgetragen wurde, schlug die frankophile Theaterdirektorin Helga Müller-Serre dem Ü., der da noch keiner war, vor, ein paar Abschnitte ins Deutsche zu übertragen, ein tollkühner, aber für ihn folgenschwerer Vorschlag.

Denn er eröffnete ihm eine Welt, die ihn wieder zurückführte auf etwas, worin er seinen ersten Impuls, Schauspieler zu werden, wiederfand. Seine frühen jugendlichen Schreibversuche waren von einer vagen Vorstellung dessen angeregt gewesen, was das automatische Schreiben der Surrealisten gewesen sein mochte. Max Ernst stand mit seinen dadaistischen Collagen Pate. Aufgrund seines Geburtsorts Brüssel wurden die belgischen Surrealisten Magritte und Delvaux mit ihren Melonen tragenden rätselhaften Herren, die Sphinxen des belgischen Symbolisten Fernand Knohpff, die lachenden Masken des flämischen Expressionisten Ensor, das Marionettentheater des Michel de Ghelderode seine künstlerischen Paten, hinzu kam die Stimme Ernst Jandls auf der „Laut und Luise“-Schallplatte, die seine österreichische Mutter ihm und seinen Geschwistern immer wieder vorspielte.

Die Texte Valère Novarinas aber katapultierten ihn nun aus dieser noch etwas theatralischen Welt auf so vitale Weise heraus, dass er mit ihnen als Schauspieler zu seiner eigenen Stimme fand. Und nach der ersten gemeinsamen Lesung im Januar 1994 auf der Remscheider Bühne erhielt er bereits im folgenden Jahr die Gelegenheit, diese neu gefundene Stimme in den französischen Uraufführungen des Autor-Regisseurs in Paris und Avignon am Original zu erproben. Das körperliche Erlebnis des Sprechens dieser Texte auf der Bühne, der geradezu physische Effekt, den sie auf das französische Publikum ausübten, legten den Grundstein für sein sich daraus entwickelndes Übersetzerabenteuer. Sein erster Buchauftrag wurde folgerichtig die Übersetzung „Der Brief an die Schauspieler“ und „Für Louis de Funès“ von Valère Novarina:

„Louis de Funès wußte mehr über den Menschen als alle Humanitätigkeitsexperten, Orthoszenisten, Anthropotherapeuten, Leber-, Synapsen- und Kommunikationsspezialisten, Kastrationsexperten, Syntagmierer von Dogonen, Flexoren agglutinierender Sprachen und Geodäten der Broca’schen Zonen; er wußte über ihn viel mehr als sie alle, denn – dort auf der Bühne – da wußte er, daß ein Mensch sich dauernd neu erfindet, sich allabendlich mit Worten wieder herstellt, sich fortwährend zersetzt und wieder aufbaut, daß er bei jedem Atemzug völlig neu ist.“
V. Novarina, Für Louis de Funès8

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Und nun lachte ihm fünfundzwanzig Jahre später in Paris auf einem Tischchen Funès Gesicht vom Programmheft der Pariser Cinémathèque entgegen, neben einem erstaunten Zeitungsartikel in Le Monde über die bürokratische Verordnung genderkorrekter Ausdruckweise in deutschen Amtsstuben.

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27. Februar. Er traf Novarina nachmittags in seinem Schreibatelier, dem Ort, wo Sprache räumlich bearbeitet wird. Dessen neuester Text für das Festival von Avignon 2020 bedeckte die Wände. Aber sie sprachen über seine nächste Übersetzung, „L’ANIMAL IMAGINAIRE“ war am 20. September 2019 in Paris im La Colline – théâtre national uraufgeführt worden, einem 600-Plätze-Theater in unmittelbarer Nähe des Friedhofs Père Lachaise, auf dem auch Guillaume Apollinaire, der erste Surrealist unter den französischen Dichtern, unter einem phallischen Grabstein begraben lag.

Novarinas Uraufführung war dort dreieinhalb Wochen en Suite vor vollem Haus gespielt worden. Am 5. Oktober hatten sie sich mit zwölf Ü.·innen zu einer « République des Traducteurs »versammelt – einer « Republik der Übersetzer » – um auf der großen Bühne im Beisein des Autors öffentlich Auszüge seiner Texte zu übersetzen und sich darüber auszutauschen. Ihre „Live-Übersetzungen“ erschienen simultan auf einem das gesamte Bühnenportal ausfüllenden Bildschirm. Es kamen Georgine Ayoub für Arabisch, Amin Erfani für amerikanisches Englisch, Yuriko Inoue für Japanisch, Natalia Mavlevitch für Russisch, Louisa Mitsakou für Griechisch, Zsofia Rideg für Ungarisch, Albert Arribas für Katalanisch, Chunyan Ning für Chinesisch, Guy Régis Junior für haïtianisches Kreolisch, er für das Deutsche und der Tänzer Cesc Gelabert für die Sprache des Körpers. Mitten im Publikum saßen als zartfühlende Moderatoren die beiden Literaturprofessoren Marco Baschera aus Zürich und Constantin Bobas aus Lille, ein Schweizer und ein Grieche, deren Singsang die Ü.·innen mit liebenswürdigen Girlanden dazu verleitete, aus ihren Nähkästchen zu plaudern. Eine der diskutierten Passagen aus „Lumières du corps“ behandelte textile Aspekte von Texten im Theater:

164. (…) La mise en scène, c’est l’écriture au vif. Le texte écrit vient se nouer à la trame de l’espace, jouer encore avec, s’y enchaîner à nouveau... Tout est tissé sur scène : « Le drame se noue » est une expression à prendre à la lettre. Au théâtre, tout est texte et tout vient se tresser à l’acteur, à l’espace et au corps du public.

164. (…) Inszenieren ist Schreiben am lebenden Körper. Der geschriebene Text kommt sich in die Gewebefäden des Raumes einknüpfen, weiter mitspielen, aufs Neue sich mit ihm verketten ... Alles auf der Bühne ist gewoben: „Das Drama wird eingefädelt“ ist als Ausdruck durchaus buchstäblich zu nehmen. Im Theater ist alles Text und kommt alles, um sich mit dem Schauspieler, dem Raum und dem Körper des Publikums zu verflechten.9

Sprache wird von Novarina immer stofflich und räumlich gedacht. So war sein exzessives Schreiben von Anfang an stets auf das Gesprochenwerden ausgerichtet, ein durch und durch körperliches Ereignis:

„Mund, Anus. Sphinkter. Unsre Röhre verschließende Ringmuskel. Öffnung und Verschluß des Wortes. Knapper Anschlag (mit Zähnen, Lippen, Muskelmund) und klarer Abschlag (Luft weg). Knappes Ende. Den Text zerkauen und essen. (…) Stücke des Textes müssen gebissen, scharf angegriffen werden von den Essern (Lippen, Zähne); andre Stücke schnellst geschlürft, geschleckt, geschluckt, gesogen und runtergeschlungen werden. Friß, schlürf, iß, kau, lung dich auf, kau und mahle, kannibale! Au, au!“10

Damit war der Schauspieler für Novarina auf der Bühne zum Stellvertreter des Menschen geworden, des einzigen Tieres, das spricht. Der wirkliche, der eigentliche menschliche Körper war für ihn die Sprache.

Zurück in die Rue de Pétrarque: Bei ihrem heutigen Gespräch wünschte sich Novarina, dass der Ü. sich nicht auf die zu Beginn der Proben in den Druck gegebene Buchfassung stütze, sondern auf die Fassung, zu der sich der Text im Laufe der Arbeit mit den Schauspielern verdichtet hatte und schlug dafür den ursprünglich avisierten Titel vor: „L’ANIMAL PARLANT“. Der Ü. war dankbar. Da sich jeder französische Theatergänger bei dem Buchtitel „L’ANIMAL IMAGINAIRE“ an Molières „Malade imaginaire“, den „Eingebildeten Kranken“, erinnert fühlte, hatte er 2001 das Stück „L’Opérette imaginaire“ mit „Die eingebildete Operette“ übersetzt.11 Allerdings schien ihm Das eingebildete Tier kein wirklich guter Titel. Nun also:

DAS SPRECHENDE TIER

Bei der Aufführung am 4. Oktober im Théâtre de la Colline war dem Ü. dieser Text als eine Synthese von Novarinas Schreiben der letzten zwanzig Jahre erschienen. Motive aus „L’Origine rouge“, uraufgeführt im Jahr 2000 beim Festival d’Avignon, wie aus den nachfolgenden Stücken „La Scène“ (2003), „L’Acte inconnu“ (2007), „Le Vrai sang“ (2011), „Le Vivier des noms“ (2015), das ihm wie ein luftiges Kartenspiel-No-Theater erschienen war, und aus dem Monolog „L'Homme hors de lui“ (2018)12 schienen sich ihm hier in Echowirkungen zu einem sublimen Alterswerk zu verdichten. Manches bekam im Rückblick eine prophetische Qualität, wie das wütende Insistieren des nihilistischen Philosophen Raymond de la Matière, der bereits zwölf Jahre früher in „Der unbekannte Akt“ aufgetaucht war:

« Nous entrons dans la période animale de l’histoire. Et dans l’histoire animale, il n’y a que deux facteurs qui comptent : reproduction et Climat. (…) À la lutte des classes succède la guerre des animaux ! »

„Wir treten in die animalische Phase der Geschichte ein. Und in der animalischen Geschichte zählen nur zwei Faktoren: Fortpflanzung und Klima. (…) Auf den Klassenkampf folgt der Krieg der Tiere.“

Verstört stellte sich der Ü. nun auch die „Rede an die Tiere“13 von 1984 heute vor – und es bestand für ihn kein Zweifel: diese stummen Tiere, das waren wir alle als glotzend stumm versammeltes Publikum, Maulkorb-Mundschutz-bewehrt mit angstweit aufgerissenen Augenpaaren, die wir uns unter Einhaltung des eineinhalb-Meter-Abstandes in einem verwaisten Theater schweigend auf jeden dritten Sitz platzierten.

Diese „Rede“ begann ja nicht nur mit einem Gang über den Friedhof und der Lektüre seltsamer Grabinschriften, sondern sie endete, nach einer mäandernden Lebensaufzählung, mit der Anrufung von 1111 erfundenen Vogelnamen. Angesichts einer Welt, in der der Vogelgesang nach und nach verstummte, weil seine Sänger auszusterben drohten, war aus einem zauberhaften poetischen Erfindungsgang durch einen ornithologischen Paradiesgarten unserer Sprache heute, fünfunddreißig Jahre später, ein Menetekel geworden. Wenn sie bald nicht mehr singen würden, würden wir sie uns erfinden müssen,

„die Limnille, den Fuskel, den Hippling, den Figill, den Lipptauch, den Tintel, die Narzillis, den Olk, die Gymniste, die Luse, den Drangel, den Gintling, das Selmchen, den Lipp, den Hützspirl, die Drolle, den Kiebutz, den Flüchz, den Tölpler, den Würgig, den Plattling, die Dramse, den Zeter, den Lipis, das Bräulchen, die Grillzipfe, den Güllhäpp, die Spalze, den Ridibus, die Treuse, den Elbsentrippler, die Brüstelalbe“ ...

und viele weitere in allen Sprachen.14

1111 VÖGEL

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25. März. Erster Lockdown: Was lockte uns da hinunter? Wer war es, der uns einschließen wollte? Bevor die Städte verriegelt würden, floh der Ü. mit seiner Familie aufs Land. Aber was geschah da? War „Der Mensch außer sich“?

Der Ü. fand sich in einem Landstrich wieder, wo die Gebrüder Grimm als volkskundliche Sprachwissenschaftler vor etwas mehr als zweihundert Jahren begonnen hatten, in den Dörfern mündlich überlieferte Sagen und Volksmärchen zu sammeln und aufzuschreiben – auch sie als Schreiber „durch die Ohren“.

Den Ü. zog es in den Wald, die Bäume so früh im Jahr noch kahl und dabei seltsam wirklich in einer sich plötzlich immer unwirklicher anfühlenden Welt: Erst übernahmen die Viren, später blieben die Moose …

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Nach Tagen vergeblicher Versuche erreichte der Ü. endlich den Autor am Telefon. Der hatte sich in sein Haus in den Alpen der Haute-Savoie zurückgezogen. Sein Kommentar zur Pandemie: C’est la tour de Babel. – Das ist der Turmbau zu Babel. Hatte der neunzigjährige Vater des Ü.s nicht am Vortag gesagt: „Das ist die große Ohrfeige für die Menschheit“?

Mit seinen Kindern streunte der Ü. vom Dorfrand in die Felder. Kaiser Barbarossa habe in der Nähe ein Heerlager für seinen dritten Kreuzzug aufgeschlagen, berichtete er ihnen. Und wenn er selbst und seine Geschwister, lang vor dem Fall des „eisernen Vorhangs“, als Kinder den Herzberg im damaligen „Zonengrenzgebiet“ bestiegen, konnten sie über die deutsch-deutsche Grenze hinweg die Sonne sich auf den Kupferdächern der Wartburg bei Eisenach spiegeln sehen. 1521 hatte Martin Luther sich dort inkognito aufgehalten. Und, um der Qual der unfreiwilligen Verbannung in dieses „Reich der Vögel“, wie Luther es nannte, etwas entgegenzusetzen, hatte er in nur elf Wochen das Neue Testament der Bibel aus dem Griechischen ins Deutsche übertragen. Seine Übersetzungsleistung galt als „wesentlicher Beitrag zur Entwicklung einer einheitlichen deutschen Schriftsprache“. Luther aber war ein Zeitgenosse Rabelais. War Luther für die deutsche Sprache, was Rabelais für die französische war, überlegte der Ü.. Jedenfalls meinte er behaupten zu dürfen: man könne Novarina nicht ins Deutsche übersetzen, ohne in die Lutherbibel zu schauen. Es handelte sich bei ihr, wie er in einer allseits beliebten Online-Enzyklopädie nachlas, um eine „Übersetzung, die gleichzeitig durch die starke Orientierung an der Idiomatik der Zielsprache Deutsch deutliche kommunikative Elemente enthält – ein damals innovativer und kontrovers diskutierter Ansatz. Die Bilderwelt ist vielfach auf den deutschen Leser zugeschnitten.“15 Auch das Luther-Diktum, dieser habe dem Volk „auff das Maul sehen“ wollen, erinnerte den Ü. an Novarinas Diktum „J’écris par les oreilles.“ – „Ich schreibe durch die Ohren.“

Novarina übersetzen hieß ebenfalls, ihn in der Zielsprache neu erfinden, denn sein sprachschöpferisches Schreiben war so sehr Bewegung IN der französischen Sprache, dass eine Übersetzung ins Deutsche ebenso Bewegung IN der deutschen Sprache sein musste.

Den Ü. interessierte, wie Georges-Arthur Goldschmidt in seinem Buch „Freud wartet auf das Wort“ die Unterschiede zwischen der französischen und der deutschen Sprache beleuchtete. Einen Eindruck, den er lange für sein subjektives Gefühl gehalten hatte, fand er bei Goldschmidt bestätigt: dass im Deutschen die Distanz zwischen dem Wort und dem bezeichneten Ding geringer sei als im Französischen, dass das Deutsche quasi dinghafter und das Französische abstrakter sei, als hätten die deutschen Worte ein höheres spezifisches Gewicht, als seien die französischen schwebender, unbestimmter. Novarina gab, so wollte ihm scheinen, dem Französischen eine Dinghaftigkeit wieder, die es seit Rabelais nach und nach verloren hatte.

An diesem Tage las der Ü. in dem alten Familienhaus am Dorfrand sitzend bei Goldschmidt im 2. Kapitel mit dem Titel „Am Waldrand oder Soll man Freud übersetzen“:

„Jede Übersetzung hat von Anfang an schwer an ihrer Unmöglichkeit zu tragen – als könnte man einen Körper entkleiden. Alles, was in einer Sprache gesagt oder geschrieben wird, ist diese Sprache. Die Übersetzung macht aus demselben ein anderes; ein deutscher Text kann nicht ein französischer werden. Und gerade weil Übersetzung unmöglich ist, ist sie unumgänglich. (...) Viel interessanter wäre es herauszufinden, wie es nicht geht“16

Wenn Goldschmidt in seiner Vorbemerkung fragte: „Wie sieht das Deutsche auf französisch aus?“, so fragte der Ü. sich bei der Arbeit unablässig, wie sähe der oder jener Satz aus, wenn Valère Novarina ihn als deutschsprachiger Autor geschrieben hätte, wie wäre er als deutscher Text entstanden. So wurde er zunehmend vom traducteur (Übersetzer) zum trad-acteur (Übersetz-Schauspieler).17 Dabei hatte ihm zweifellos die Erfahrung geholfen, Novarinas Sätze auch im Original auf der Bühne gesprochen zu haben, ihre räumliche und physische Wirkung auf das französische Publikum selbst erlebt zu haben. Der Moment, bevor das Wort im noch leeren Bühnenraum aus dem Mund hervorbrach, wo die Bühne durch das Wort erst definiert wurde, entsprach vielleicht am ehesten dem, was Goldschmidt bezogen auf die Sprachen das „Vor-Babel“ nannte:

„Vor-Babel ist das Vorher, vor dem Sprechen, vor jeder Äußerung in der einen oder anderen Sprache, jener unfaßbare, nichtexistente Moment, indem das, was gesagt werden wird, unaufhaltsam ins Sagen kippt“18

Dieser Moment war allen Sprachen gemeinsam. Erst, wenn wir zu sprechen beginnen, beginnen wir uns nicht zu verstehen. In diesem Nichtverstehen, das Goldschmidt „die Umöglichkeit“ der Übersetzung nannte, lagen die tausend Möglichkeiten der Sprache. Die biblische Strafe der Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel eröffnete also einen sprachlichen Kosmos. Einmal hatte der Ü. den französischen Hegel-Übersetzer Jean-Pierre Lefebvre sagen hören: „Arme Deutsche, die ihr Hegel nur im Original lesen könnt!“19 In den Auffaltungen durch das Übersetzen offenbarte sich, wie viele Texte in einem einzigen enthalten waren, nämlich mindestens so viele, wie Augen und Ohren, die ihn lasen oder hörten. Im Übrigen wurden auch beim Originaltext aus dem einen Text ebenso viele, wie es Leser gab. Diese Vielstimmigkeit zu ermöglichen, war Aufgabe des Schreibens und des Übersetzens. Oder, wie es Novarina einmal paradox formuliert hatte: „Der Schauspieler schreibt den Text, der Autor wiederholt ihn nur.“ Gleiches ließ sich über jeden Leser sagen: Der Leser schreibt den Text mit seinen Augen.

Was ihn, den Ü., betraf, so gab es Texte, die er im Wald ihrer Bedeutungen nicht zu lesen vermochte. Er konnte sie nur ... auswendig lernen, oder eben, Wort für Wort, Satz für Satz, übersetzen. Übersetzer sind die Erdarbeiterinnen der Sprache. Und nun ... stand er also wieder mal im Wald.

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5

11. April. Immer noch auf dem Dorf. Um ihn her jedoch brach der Frühling hervor.

An diesem Tage hatte der Ü. Viktor Helm20 besucht. Viktor fehlte seit einem Sturz ein Teil der Schädeldecke, sein Sprachzentrum war beeinträchtigt. Wenn Viktor einen Satz begann, wusste er nach drei oder vier Worten nicht mehr weiter. Die Grenze dessen, was unsagbar war, schien mitten durch ihn hindurchzugehen.

„Drunter und Drüber

„Dort, wo die Sprache ist, was die andere nicht ist, liegt das „Dazwischen, die Grenze, die Pause, wo sie einander wechselseitig konstituieren. Der Platz der Übersetzung ist im »Leeren«, wo beide gleichzeitig sprechen, ohne daß man sie hört.“ (Goldschmidt)21

Dann hielt sich Viktor in diesem »Dazwischen« auf, als ein Stolpernder zwischen Erleben und Sprache, der in diesem »Leeren« täglich hängen blieb.
Das Unverständliche – und bei Novarina erschien manches „unverständlich“ – wollte der Ü. nicht so übersetzen, dass es verständlich würde, sondern so, dass wir als Leser verstanden, was und dass wir nicht verstehen. Bei Goldschmidt hatte er gelesen:

„Die deutsche Sprache stellt sich extrem zur Schau und zeigt alles; sie (…) legt von Anfang alles offen. (…) Die Sprache ist in Deutschland keine Staatsaffäre, deshalb bleibt sie „unmittelbarer“, dichter am Ausdruck (…). Jedes Wort enthält genau das, was es meint. (…)

In gewisser Hinsicht ist das Deutsche (…) im Materiellen gefangen, das die Ideen in strenge Formen zwingt, die im Übrigen auch nicht näher am „Sinn“ sind.

(…) alle Sprachen sind dem, was sie sagen möchten, auf ihre je besondere Art fern, sonst würden sie es nicht sagen.“ 22

Novarina zu übersetzen erlaubte dem Ü., seine Sprache, das Deutsche, wieder dem Unfassbaren zuzuführen, aber ohne, dass es dabei seine Dinglichkeit verlöre.

6

13. Juni. Vor drei Wochen endlich die Rückkehr in die Stadt. Eine irreal wirkende Normalität kroch langsam wieder aus den Häusern. Die Infektionszahlen waren erstmals gesunken. Der Bedarf nach Erklärung für das wochenlange Eingesperrtsein aber schien dabei so groß, dass die irrsinnigsten Deutungsmodelle kursierten. Offensichtlich war der Bedarf nach Sinnhaftigkeit, und sei es im Felde der Verschwörungstheorien, größer als die Bereitschaft, sich dem noch nicht Ergründeten zu stellen und es auszuhalten. Wie viele neue Wörter hatten sie in dieser Zeit gelernt. Und wie intensiv war das Erlebnis, nach dem „Lockdown“ endlich wieder ins unmittelbare, ins direkte Gespräch von Angesicht zu Angesicht, von Mund zu Mund eintreten zu dürfen. (Das Deutsche holt sich die Abstraktion durch die Fremdsprache. „Lockdown“ wirkte auf unsere Ohren weniger brutal als „Ausgangssperre“, unschlagbar aber war das französische „confinement“, aus dem der Ü. eher so etwas wie ein „verfeinertes Zusammensein“ herauszuhören meinte.)

Am Vorabend hatte er die Übersetzung von „L’Homme hors de lui“

DER MENSCH AUSSER SICH

endlich abgeschlossen. Ja, sie waren außer sich. Und an Novarinas Schreiben hätten sie trainieren können, sich der Helligkeit des Rätsels zu öffnen, die Ohren dem Klang der Welt zu öffnen, auch da, wo die Sprache zwar ausspricht, der Verstand aber daran zu versagen glaubt. Natürlich wollte man den „Fehler“ dann am liebsten dem Rätsel in die Schuhe schieben, statt an der Offenheit der eigenen Ohren zu zweifeln.

Ein harter Knochen war das abschließende Kapitel der 1580 Gebirgler-Spitznamen gewesen, ein erheblicher Rechercheaufwand23, Satz für Satz herauszufinden, auf welchen Namen ein Namenskürzel zurückging und ob der charakterisierende zweite Teil des Spitznamens eine Ortsbezeichnung, eine Tätigkeit, ein körperliches Charakteristikum oder die Beziehung zu einer weiteren Person benannte. Unter den ausgewählten Sprachreiseführern war insbesondere ein Dialektwörterbuch hervorzuheben:

DIKCHONÉRO FRANSÉ - SAVOYÂ
DICTIONNAIRE FRANÇAIS - SAVOYARD
von Roger Viret

das in seiner siebten erweiterten Auflage von 2019 zahlreiche Varianten der savoyischen Sprache enthielt, die sich teils von Dorf zu Dorf unterschieden.

Ein Beispiel aus dieser immensen Aufzählung:

« Fred à Gorzet diminue les portions »
„Fred [vom Soundso] verkleinert die Portionen“

Dank der Wortsuche in Virets Wörterbuch stieß er auf die Varianten des französischen Begriffs gorge (Hals), die im Savoyard je nach Ortschaft variierten:

gorzhe, gourzhe, gourza, gueûrzhe, gourdze, gurza, gueûrya, gura, gozî, gojé.

Da gorge im Französischen nicht nur Hals, Kehle, Gurgel(!), Schlund, sondern auch Schlucht bedeutete, konnte es sich um eine Ortsbezeichnung handeln. Der Wörterbuchartikel zum Begriff gorge erläuterte über beinah zwei Seiten alle Bedeutungsvarianten, je nachdem, ob es sich beispielsweise um eine schmale oder breite Schucht handelte, ob sich ein Bach durch sie ergoss etc.

Im Österreichischen gab es für die Schlucht den Begriff Klamm, im Pinzgauischen, das unter den Salzburger Gebirgsdialekten sprachwissenschaftlich zu den südbairischen Dialekten gehörte, den Begriff Moas für eine Geländeschlucht in den Bergen („bairisch“ nicht mit „bayrisch“ zu verwechseln, das sich auf das Land Bayern bezieht).
Also konnte die Übersetzung lauten:

„Klamm Fred verkleinert die Portion“
oder
„Moas Fred verkleinert die Portion“

Da das österreichische Online-Telefonbuch herold.at für das Bundesland Salzburg einen Treffer beim Familiennamen Görgl verzeichnete, stand ihm außerdem noch Görgl Fred als Variante für eine phonetische Übertragung zur Verfügung. Auf eine solche wollte er aber nur zurückgreifen, wenn sich keine semantische Übersetzung fand, daher entschied er sich für den „Klamm Fred“.

Und er hatte noch Glück gehabt, weil Fred als Name nicht übersetzt werden musste, da er in beiden Sprachen und ihren jeweiligen Dialekten gleichermaßen geläufig war.

Die meisten Namenskürzel erschlossen sich jedoch ebenfalls erst nach Recherche:

In der digitalisierten Monographie du Patois Savoyard von 1903 durch F. Fenouillet (der als pensionierter Grundschullehrer und Mitglied der ‚Société Florimontane‘ von  Annecy vorgestellt wurde, sowie als Präsident der Imker-Gesellschaft der Region Haute-Savoie und ‚Chevalier du Mérite Agricole‘) fand sich ein detailreiche Liste von Namenskürzeln in vielen Varianten:

Die allbekannte Françoise konnte im Savoyischen Franchoése, Fanfouèse, Foèse, Foise, Faftchette, Fanchon, Françon, Sanson, Sasson, Ceisa, Cèse, Zèiza und Yéye gerufen werden. Der geläufige Joseph wird zu Josephe, Josë, Joset, Joson, Lolon, Dioset, Diodiet, Lolet, Zephe, Fèfe und Féfé.

Oft fielen auch einfach die Anfangssilben weg.

Médée war nicht etwa die altgriechische Medea, sondern ein Kosename für Amédée, im Deutschen mit dem wenig häufigen Amadeus, aber auch schlicht als Gottlieb zu übersetzen, in den Alpen auch Goge, Goga, Godei oder Gottl gerufen. Alphonse rief man Fonse, Auguste wurde Gustin, Claude wurde Llaudo, Isidore wurde Zidore etc. Ebenso rief man den Matthias auf dem Salzburger Gaisberg Hiasl, den Ignaz Nadsi, und mit Zenzi war die Kreszentia gemeint. Und der auch hier geläufige Joseph (sav. Dioset) wurde natürlich Seppl und Sepp gerufen, aber auch Seppe, Seppi, Sepperl, Seppei, Bepperl, Beppe, Beppi oder Beppo.

Haariger wurde es bei den Attributen:

Dass ein maréchal nicht etwa ein Marschall war, sondern ein maréchal-ferrant, also ein Hufschmied, hatte dem Ü. der Autor verraten. Dass Marius à Chibreli ein Kartenspieler war, verriet ihm das savoyische Dialektwort chibrer. Das Wort war über die Grenze aus der Deutsch-Schweiz gekommen, wo schieben eine Variante beim regionalen Kartenspiel Schieber-Jass darstellte, das auch im österreichischen Vorarlberg gespielt wurde. Also war es der Schieber Mario, der im Text herumschlich.

Doch ehe der Ü. sich aber auf Wortbedeutungssuche begab, gilt es jedes Mal zunächst herauszufinden, ob es sich beispielsweise bei Joset aux Plagnons vielleicht doch um den Bewohner eines Dorfes, Weilers oder einzelnen Hauses und Hofes handelte. Dank der akribischen Arbeit eines Schweizer Monsieur Henry Suter, der in vermutlich jahrelanger Arbeit eine gigantische alphabetische Aufstellung aller Namen und Orte der romanischen Schweiz, Savoyens und Umgebung zusammengetragen und mit geografischen und vor allem auch etymologischen Hinweisen versehen hatte, erfuhr er, dass es sich bei Les Plagnons um eine Ansammlung einzelner Häuser in einem Tal der Haute-Savoie handelt, und dass der Name sich vom Spitzahorn, franz. érable plane ableitete. Zwar gibt es im Salzburgischen keinen Ortsnamen oder Weiler, indem der Ahorn vorkam, aber den Ahornbüchsenkopf, eine Anhöhe nahe der deutschen Grenze. Also durfte bei ihm der Ahornbüchsen Sepp nach Luft schnappen.

Der seit 1477 jeden September stattfindende Viehmarkt „Foire de Crète“ in Thonon-les Bains

Man mochte sich fragen, was der Sinn einer derartig recherche-intensiven Aufzählung sein sollte. Nun, es waren, es sind die NAMEN!

In den Namen, die benennen und dabei dennoch frei von Narration sind, die ein Dasein schlicht bezeichnen, ist jede Sprache ganz bei sich. Namen sind vertikale Erzählungen, linguistische Tiefenbohrungen, Erdproben einer Sprache, denn sie transportieren viel: Geschichte, Herkunft, Geografie, ohne sie jedoch auszuerzählen, denn sie sind einfach als Konzentrat in ihnen enthalten. Und sie sind ein ganz spezifischer Klangraum in jeder Sprache. Selbst gleiche Namen wie Joseph und Marie verwandeln sich im Klang von Landstrich zu Landstrich, ja von Kontinent zu Kontinent. In den Namen wohnt das unterbewusste Gedächtnis der Sprachen.

Was Valère Novarina hier sprachlich ausbreitete, könnte man auch mit den großen Wimmelbildern des niederländischen Renaissance-Malers Pieter Bruegel (1525-1569) vergleichen, „Die niederländischen Sprichwörter“, „Kinderspiele“ oder die „Bauernhochzeit“. Wie bei Bruegel die Physiognomien, die Haltungen, die Kleidung, die Stimmungen von Figur zu Figur dramatisch variierten, so waren es bei Novarina die Klänge der Rufnamen, die sich im Alpenländischen eben oft aus den Personen- und ihnen zugehörenden Ortsnamen zusammensetzen.

So reicherte der Autor den Klang des staatlich sanktionierten Französisch an mit den regionalen Färbungen seiner Heimat, es tauchten Varianten und unbekannte Wortbildungen auf. Die Landessprache erhielt Ober- und Untertöne, ein regelrechtes Sprachorchester durch Raum und Zeit bildete sich hier neu.

Die Szenerie dieser gigantischen Aufzählung aber war der seit 1477 bis heute jährlich an jedem ersten Donnerstag des Monats September stattfindende Jahrmarkt „Foire de Crète“, der große regionale Viehmarkt in Thonon-les-Bains am französischen Ufer des Genfer Sees. Dorthin stiegen sie alle von den Bergen und umliegenden Bergtälern herab und brachten den Klang ihrer Spitznamen und jede und jeder eine spezifische Tätigkeit mit:

« Jean la Grêle, Lucien à Pitaque, Mimi Calendrier, Louis Lanlà, la Piccoline, Chaudron, Marcelle à Grabé, Aimé des Aix, Phonse à Brussaglier, Phi des Boeufs d’en Haut, Marie du Colibri, Marcel à Bison, la Béchevette, Joset Tamalet, Trigaline, Riendû, Trois Francs Six Sous, Pite à Pacot, Tienne à Conet, Bizule, Fanfoué le Piot; Médée la Quine ôte son béret. »

„Hagel Hans, Pitak Lutz, Kalender Mimi, Lenglachner Lois, die Pikkoline, Kessel, Leiten Mathilde, Bründl Heimo, Bruchegger Fons, Oberochsen Fise, Marie vom Papageno, Bison Maxl, die Verdrehte, Sepp Tamandl, Trigoggala, Kreidelos, Drei Schilling sechs Groschen, Gatschentrampel, Kinigl Steff, Wuzi, Franzai der Baumhacka; Lotto Gottl lüftet sein Käppi.“ und viele mehr …

Über Jahre hatte Valère Novarina diese Namen gesammelt oder sich zutragen lassen und damit nicht nur seiner Heimatregion, die kaum weiter von Paris entfernt sein konnte, ein sprachliches Denkmal gesetzt, sondern auch der französischen Sprache machtvoll in Erinnerung gerufen, wie weit gespannt ihre Wurzeln sind, wieviel reicher und kraftvoller ihr Klang war als das, was davon bis in die Académies der Hauptstadt drang. Das Genie dieses Textes lag auch darin, wie selbstverständlich der Autor Hochsprache und regionalen Wortschatz zusammenfließen ließ und sie keineswegs als feindliche Gegensätze begriff. Die Sprache zu weiten, ihr die verlorenen Kräfte wieder zu erschließen, darum ging es hier. Ja, und dann war in einem solchen Wimmelbild natürlich eben doch unendlich viel zu hören und zu sehen. Den Ü. faszinierte hier, dass Erzählung viel mehr war als der bloße, in jeder guten Fernsehserie beschworene „Plot“, dass Erzählung bereits in jedem Eigennamen vibrierte.24

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14. Juni. Heute hatte der Ü. endlich begonnen, die ersten Zeilen aus

DAS SPRECHENDE TIER

zu übersetzen!

Es begann mit einem seltsamen Rollennamen: L’Écrituriste, also einer Wortschöpfung: écrire hieß schreiben, aber écriture war die Schrift, Schriftstellerinnen aber nannte das Französische écrivaine. Dann jedoch folgten Anführungszeichen. Wer also sprach? (Hamlets Sein oder Nichtsein steht ja nicht in Anführungszeichen!) Wen zitiert die, die dort schriftet, diese Skipturistin? Oder ist sie selbst die Zitierte? Ihr Rollenname sagt mir, dass sie nicht liest, sondern schreibt ... – oder ist es so, dass sie Schrift spricht? Schrift praktiziert?

Und schon bin ich mitten in ihr, der „descente dans la langue“, dem Hinabsteigen in die Sprache, das der Autor immer wieder beschwört.

DIE SCHRIFTERIN.
„Es kam mir eine so starke Regung zu schreiben, dass ich ihr nicht zu widerstehen vermochte. Die Gewalt, die ich mir antat, es nicht zu tun, machte mich krank, und beraubte mich der Sprache. Ich war sehr überrascht, mich solchergestalt zu erleben, denn noch nie war mir dies widerfahren. Nicht, dass ich auch nur etwas Bestimmtes zu schreiben gehabt haben würde, ich hatte nichts auf der Welt, nicht die geringste Idee zu was auch immer. Es war ein schlichter Instinkt, in einer Fülle, die nicht ertragen konnte. Ich war wie diese Mütter, die zu voll von Milch sind und die sehr leiden. (…)

Das Zitat, wie sich in der Tat herausstellt, stammt von Madame Guyon, jener Mystikerin der Zeit Ludwigs des Vierzehnten, die fünf Jahre lang in einem Kerker der Bastille einsaß. Valère Novarina hat viel für die Wiederentdeckung der Schriften dieser Dame getan. Es gibt Sätze bei ihr, die sich fast wie ein Manifest surrealistischer écriture automatique lesen lassen:

„Ich wusste weder, was ich schrieb, noch was ich geschrieben hatte, noch auch in allem, was ich seither geschrieben habe. (…) Ich hatte den Kopf so frei, dass er in einer gänzlichen Leere war, ich war befreit von allem, was ich schrieb, dass es mir wie fremd war.“
(Madame Guyon in „Die geistlichen Ströme)25

Epilog

8. Juli 2022. Mit diesem Ausblick in ein neues Abenteuer möchte der Ü. sein Journal nicht beenden, sondern mit dem Versprechen einer Fortsetzung versehen. Über zwei Jahre sind vergangen, seit er mit der Aufzeichnung begann. Die sogenannte Pandemie verursachte Verzögerungen, unterbrach Gespräche, die nach langer Pause erst wiederaufgenommen werden mussten. Nun aber ist es soweit. Ein kühner Verleger bringt

in der Friedenauer Presse heraus, die ihr neues Zuhause und ihren Fortbestand unter dem Dach des Verlags Matthes & Seitz Berlin fand.26

Zum vorläufigen Abschluss jedoch möchte der Ü. von einem der letzten Arbeitsgänge der Ausgestaltung dieses unwahrscheinlichen Buches berichten, nämlich vom erhellenden Austausch mit einer klugen Korrektorin. Da wurde nicht korrigiert, sondern angesichts eines Textes voller Eigenheiten und Wortschöpfungen stets behutsam nachgefragt, beispielsweise, ob dem Beruf des Kommpensatorenstylisten tatsächlich zwei m zustehen. Ja, hier tun sie es. Einiges hat der Ü. gelernt, z.B., dass beim Kürzel Lkw nur der erste Buchstabe großgeschrieben wird, wie man iahen buchstabiert, dass vonstattengehen zusammen, da gewesen aber getrennt zu schreiben sind, dass Diphthonge mit ph und th geschrieben werden und, wie man Palatschinken trennen kann, nämlich sowohl vor, als auch nach dem t. Ja, Sprache lebt auch vom Detail. Ich habe es genossen. Danke, Korrektorin, ich freue mich aufs Wieder ... lesen.

So bleibt dem Ü. nur noch, mit Valère Novarina auszurufen:

„Herr Publikum, erbarme dich Pinocchios!“

© privat

21.06.2022
Fußnoten
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Leseprobe PDF

©M. Knickriem

Leopold von Verschuer, geboren 1961 und aufgewachsen in Brüssel von deutschen Eltern. 1980-1986 Anfänge als Schauspieler in Berlin im Thea­ter und Kino, 1986-93 an Roberto Ciullis Mülheimer Theater an der Ruhr. Seither freischaffend als Übersetzer, Regisseur, Schauspieler, Moderator, Autor in Theater, Rundfunk und Verlagen im deutsch- und französisch­sprachigen Raum. Seine Liebe gilt den „unmöglichen Autoren“. Eine enge Zusammenarbeit ver­bindet ihn in allen Funktionen mit den Autor·innen Valère Novarina (seit 1994), Alvaro Garcìa de Zuñíga (seit 1998) und Kathrin Röggla (seit 2001), mit der er verheiratet ist und in Köln lebt.

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