Journale Prosa Von Hunden und Menschen

Von Hunden und Menschen

Journal zur Übersetzung von Saint Zoo von Chihiro Hamano

Ein Geschenk des Himmels
Interview mit Chihiro Hamano

Cover der japanischen Ausgabe 『聖なるズー』sei naru zū

Ein Geschenk des Himmels

Nachdem wir in den vergangenen Monaten sage und schreibe fünf enge Familienmitglieder verloren hatten, meinen Vater, meine beiden geliebten Taufpaten, den von mir ebenso geliebten Vater meines Bruders sowie dann auch noch die Mutter meines japanischen Partners, beschlossen wir schließlich, von Berlin nach Tokyo überzusiedeln. Es war eine Woche vor Abflug, als mich eine E-Mail mit folgendem Betreff erreichte:

„Wie geht´s?“

Gesendet hatte sie die Japanologin, Herausgeberin und Übersetzerin Irmela Hijiya-Kirschnereit (hier präsent mit dem Journal zu ihrer großartigen Übersetzung „Der Dornauszieher“), die an der FU Berlin meine Masterarbeit betreut hatte. Im Januar 2020 lag mein Abschluss etwa zwei Jahre zurück, umso mehr war ich über eine Nachricht von ihr überrascht. Darin deutete sie ein Übersetzungsprojekt an und fragte, ob ich Lust dazu hätte, einen Auftrag zu übernehmen. Ich erinnere mich noch genau an unser Telefonat, in dem wir erste Einzelheiten besprechen wollten, und dabei stellte sich heraus, dass Frau Hijiya-Kirschnereits Ehemann kurz zuvor verstorben war. Unser Gespräch kam ziemlich bald vom eigentlichen Thema ab und wir fingen gemeinsam an zu weinen, empfanden tief die Trauer des anderen, und das Ausmaß des beiderseitigen Verlustes war unermesslich.

Frau Hijiya-Kirschnereit stand in Kontakt mit dem Verleger Andreas Rötzer vom Matthes & Seitz Verlag Berlin und hatte das Buch SAINT ZOO 聖なるズー (sei naru zō)1 begutachtet. Als sich das Interesse seitens des Verlages konkretisierte, schlug sie mich als Übersetzer vor. In ihrer Ankündigung betonte sie, es handle sich bei SAINT ZOO um eine „etwas abseitige und wohl auch problematische Thematik“. Dies machte mich neugierig. Ich las ihr Gutachten, welches sie mir vertraulich gesendet hatte, und in der Tat weckte der Inhalt sofort mein Interesse. Die „Abseitigkeit“ und „Problematik“ von SAINT ZOO liegt in der der Thematisierung von häuslicher und sexueller Gewalt, sexueller und platonischer Liebe zu Tieren, und beides zum Teil sehr explizit dargestellt.

Fünf Tage später saßen wir im Flugzeug nach Tokyo. Gleich nach unserer Ankunft ging ich in eine x-beliebige Buchhandlung, wo sich der Band SAINT ZOO an prominenter Stelle am Eingang befand. Das Buch war wochenlang auf Platz 1 auf Amazon Japan gelistet, wurde mit dem Kaikō-Takeshi Preis für Sachliteratur ausgezeichnet, in zahlreichen Zeitschriften und Zeitungen rezensiert und hochgelobt.

Mit unserem Reisegepäck und dem erstandenen Buch in Händen fuhren wir in unser neues Zuhause. Anfang Februar wurden die Nachrichten von der Verbreitung des neuartigen Coronavirus in Wuhan, das geografisch nicht sonderlich weit entfernt liegt, immer beängstigender. Mitte März schloss Japan seine Grenzen und annullierte bereits ausgestellte Visa. Wie erleichtert war ich, dass ich es noch vor der Landesschließung nach Japan geschafft hatte!

Das Übersetzungsprojekt SAINT ZOO entpuppte sich als Trauerarbeit und ein Geschenk des Himmels. Es half mir, Bodenhaftung zu bewahren, mich in meiner neuen Umgebung rasch einzufinden und, auf der Suche nach einem geeigneten Ort zum Schreiben Bibliotheken in der Nähe kennenzulernen – eine sinnvolle Aufgabe, die sich mir stellte. Sich mit gewichtigen Fragen nach Liebe, Gewalt und Sexualität zu beschäftigen, erwies sich als willkommene Ablenkung von meiner Trauer, wofür ich sehr dankbar war. Durch die hochschnellenden Fallzahlen von Coronainfizierten in Tokyo wurde meine Bürozeit reduziert und ich konnte, musste oder durfte von zu Hause aus arbeiten. Die dadurch entstandenen Freiräume, die sich über Wochen und Monate ergaben, nutzte ich für die Übersetzung, und abermals konnte ich einem negativen Ereignis etwas Positives abgewinnen.

Chihiro Hamano legt ein Buch vor, das engstens mit ihrer persönlichen Lebens- und Leidensgeschichte zu tun hat und sie zur Recherche zu einer Gruppe von Anhänger·innen sexueller Tierliebe, die sich selbst „Zoos“ nennen, nach Deutschland führte. Der Schmerz, den die Autorin durch jahrelangen Missbrauch und Vergewaltigung seitens ihres Ehemanns erfahren hatte, muss brutal gewesen sein. Es überrascht nicht, dass sie sich auf die Suche nach Heilung machte, wohl aber, dass sie diese in einer sich selbst auferlegten wissenschaftlichen Beschäftigung mit Zoophilen fand und dass sie sich auf den weiten Weg nach Deutschland machen musste, um Linderung zu erfahren. Mein Weg war der umgekehrte, von Deutschland nach Japan, und auch ich erfuhr durch die Bewältigung einer großen Distanz Schmerzlinderung. Auch wenn es nicht eindeutig zu vergleichen ist, bleibt die schicksalshafte Verknüpfung meiner eigenen Situation mit den Lebensrealitäten meiner Mentorin sowie der Autorin Chihiro Hamano rätselhaft.

Angekettete Shiba-Hundestatue in Festkleidung in Asakusa, Tokyo, Juni 2022

Vom Japanischen ins Deutsche

Ein japanischer Satz besteht heutzutage aus drei und oftmals sogar vier Schriftsystemen, wenn lateinische Buchstaben beispielsweise für originale Buchtitel oder Firmennamen hinzugefügt werden. Zunächst sind da die beiden Silbenschriften hiragana und katakana. Erstere wird für grammatikalische Funktionen sowie für Partikel verwendet und die Zeichen sind eher kurvig, letztere für Lehnwörter sowie Lautmalerei, mit Zeichen, die etwas kantiger aussehen. Das dominierende Bild eines japanischen Textes ergibt sich jedoch aus seinen sino-japanischen Schriftzeichen, kanji, jenen Ideogrammen chinesischen Ursprungs, die aus bis zu 20, 40 oder in Extremfällen sogar noch mehr Strichen bestehen können. Ein einzelnes kanji drückt eine Vorstellung oder eine Idee aus. Ursprünglich handelte es sich um Piktogramme, die durch ihre Darstellung die Form der Dinge der sinnlich wahrnehmbaren Welt wiedergaben, was sich beispielsweise gut an den Zeichen für Baum 木oder Mensch人 erkennen lässt. Für eine detaillierte Abhandlung zur Schrift Japans fehlt an dieser Stelle der Raum, stattdessen möchte ich hier nur kurz etwas über die Sinnlichkeit dieser bildhaften Schrift und deren Übertragung ins Deutsche andeuten und mir einen Vergleich erlauben:

Das lateinische Alphabet, und vor allem dessen Großbuchstaben, besteht zum überwiegenden Teil aus nur wenigen einzelnen Geraden, die mal streng waagerecht oder senkrecht, in rechten oder spitzen Winkeln aneinander treffen: T N I X F H A M K Y L E usw. Damit haben diese Buchstaben etwas Hartes an sich und sagen alleinstehend zunächst wenig aus. Nun stellen wir beispielsweise dem Wort H-A-U-S das japanische お家o-uchi gegenüber. Schon bei der ersten Betrachtung fällt sogleich die Komplexität des mehr- und feingliedrigeren sino-japanischen Zeichens ins Auge.

Man kann sich vorstellen, dass einem Grundschulkind in Japan, das sich mit dem Erlernen von kanji beschäftigt, viel mehr Raum für die Fantasie offen steht, was ihm お家 alles bedeutet. Für ein europäisches Kind, das sich mit den geradlinigen und endlich scheinenden Buchstaben H-A-U-S zufriedengeben muss, ist die von den Zeichen an sich ausgehende Wirkung relativ schwach und regt wohl kaum dazu an, die vor einem stehenden Zeichen mit seinem inneren Gemütsreichtum zu verbinden.  

Das „Dach“ an der Oberseite von家 kann beispielsweise ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit aufkommen lassen. Unter dem Dach finden sich mehrere in verschiedene Richtungen ausfransende Ästchen, die für einzelne Familienmitglieder stehen könnten. Das Kanji findet sich wohlbalanciert mittig in einem imaginären Quadrat, das ihm Raum und Tiefe verleiht und den Geist auf sinnlich-ästhetischer Ebene ungleich mehr anspricht als die Aneinanderreihung der vier lateinischen Buchstaben. Darüber hinaus befindet sich ein おo vor dem 家uchi, was eine honorifizierende Funktion erfüllt und das „Haus“ mit einer Dimension des Respekts und der Ehrerbietung aufwertet.  Dieses sowie andere Honorativpräfixe und -suffixe finden sich vor allem bei persönlichen Namen, aber auch Gegenständen, Nahrungsmitteln oder gesellschaftlichen Anlässen wie beispielsweise bei Teller お皿o-sara, Reisbällchenお握りo-nigiri, Teeお茶o-cha oder beim formalen Treffen zweier potenzieller Heiratskandidatenお見合o-miai.

Es gibt wohl kaum eine intensivere Beschäftigung mit Schrift und Sprache als die der Übersetzung. Das Gleiten des Auges und des Fingers über Zeichen für Zeichen, Wort für Wort, Zeile für Zeile, ist eine überaus sinnliche Angelegenheit. Dies gilt umso mehr für das Japanische, bei dem ein einzelnes kanji durch seine Bildhaftigkeit mehrere Bedeutungsnuancen zulässt. Lese ich einen japanischen Text, rücke ich ganz nah an die Zeichen heran, werde regelrecht in sie hineingesogen und versinke darin. Beim langsamen Lesen vollziehe ich gern die Strichfolge der oftmals sehr dicht gestalteten sino-japanischen Schriftzeichen nach und erfühle die mal abrupt an einem Punkt anhaltenden, mal länger ausfließenden Strichenden in ihrer Dynamik wie einen Tanz. Dabei spüre ich die eigenwillige Rhythmik und anregende Abwechslung der sich ständig ändernden Schriftarten.

Ich erinnere mich noch sehr gut an ein Dasein ohne die Fähigkeit, Japanisch lesen zu können, denn ich habe erst relativ spät damit begonnen. Hielt man mir als 20-Jährigem einen solchen Text vor meine Augen, konnte ich daraus nicht eine einzige Bedeutung herleiten. Mit komplizierten Bauplänen, chemischen Formeln und vielem anderen mehr geht es mir noch heute so. Doch nach jahrelangem Lernen der Sprache und Schrift Japans spricht nun ein Zeichen oder ein Text mitunter schon nach einmaligem Hinsehen zu mir, was ich als faszinierend empfinde, vergleiche ich es mit meiner früheren Sicht auf die Dinge. Damit bestätigt sich mir, dass ein und derselbe Gegenstand, zum Beispiel eine Kaffeetasse, von jedem von uns ganz unterschiedlich gelesen wird, je nach kultureller Sozialisation und Lernerfahrung.

So wie mit der Kaffeetasse oder mit kanji verhält es sich auch mit anderen Gegenständen. Mit jeder neuen Erfahrung schärft man seinen Blick. Der Übersetzungsprozess von SAINT ZOO, worin es um Menschen und ihre emotionale und sexuelle Hinwendung zu Tieren geht, hat meine Vorstellungskraft stark erweitert. Sehe ich heute Menschen ihre Hunde ausführen, stellen sich mir Gedanken ein, auf die ich vorher nicht gekommen wäre, die aber vielleicht an die Lebenswirklichkeit der Betroffenen näher als bislang herankommen. Das „Abseitige“ ist mir jetzt vertrauter und gar nicht mehr so abseitig, Vorurteile sind abgebaut und ich habe Verständnis für eine sexuelle Orientierung gewonnen, über die ich bis dahin nie nachgedacht hatte. Es erweist sich als Glücksfall, sich Schritt für Schritt menschliche Angelegenheiten verständlich zu machen und vorschnell gefällte Urteile zu vermeiden.

Der Hund ist des Menschen ältester Kumpane und steht kaum wie ein anderes Tier in seiner emotionalen wie körperlichen Nähe. The Companion Species Manifesto von Donna J. Haraway, in dem über die historische komplexe Verflechtung der Lebensbereiche von Mensch und Hund reflektiert wird, hat mich als Student der Genderwissenschaften sehr fasziniert. In Einträgen zum Begriff des „Schoßhundes“ wird dieser mal als „höfisches Statussymbol“, mal aufgrund seiner etwa zwei Grad wärmeren Körpertemperatur als „Schutzschild vor Flöhen“ sowie in der volksmundartlichen Bezeichnung auch als „Punzenlecker“ betitelt. So überrascht es eigentlich nicht, dass sich die allzu menschliche Tradition der innigen Verbundenheit von Mensch und Hund bis heute fortsetzt. Verschiedene Spielarten sexuellen Begehrens gelten als gesellschaftliche Tabus und wie so oft kann Literatur Aufklärungsarbeit leisten, was in der Tat Chihiro Hamanos Motivation ist. Mit SAINT ZOO ist ihr dahingehend ein großer Wurf gelungen – frei von Sensationslust und Empörung.

Pudel im Jeans-Look und Stirnkappe, Hundeauslaufplatz, Yokohama, Frühling 2022

Interview mit Chihiro Hamano

im März 2022 in Yokohama

Für SAINT ZOO warst Du einige Wochen bzw. Monate in Deutschland. Welches Deutschlandbild hat sich durch deine Aufenthalte ergeben?

Ich habe insgesamt sechs Monate in Deutschland verbracht – vier Monate vor dem Schreiben meines Buches SAINT ZOO und zwei Monate nach dessen Fertigstellung. Meine Erfahrungen beschränken sich natürlich nur auf einen kleinen Ausschnitt von Deutschland. Um mit meinem Eindruck von den Menschen zu beginnen, mit denen ich zusammentraf, nicht mit meinem Eindruck von der Gesellschaft als Ganzes, würde ich sagen, dass die meisten sehr aufgeschlossen waren und mich beeindruckt haben. Ich konnte mich überraschend leicht mit ihnen austauschen und hatte das Gefühl, dass sie ihre Gedanken klar auszudrücken wussten und gleichzeitig Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu bzw. mit anderen anerkennen konnten. Durch meine Begegnungen lernte ich nicht nur die Zoos, sondern auch viele andere Menschen kennen und schloss einige wichtige Freundschaften.

Ich hatte das Gefühl, dass es in Deutschland weniger Diskriminierung und Vorurteile aufgrund von Nationalität, Rasse, Geschlecht, sexueller Orientierung und anderen Kategorien gibt als in Japan. Ich war auch überrascht von den aktiven Bürgerbewegungen und denke, dass die japanische Gesellschaft in dieser Hinsicht viel von Deutschland lernen könnte.

Wie ist dein allgemeiner Eindruck von der Beziehung zwischen Mensch und Tier in Japan im Vergleich zu Deutschland?

In Japan gibt es viele Volksmärchen und Sagen aus längst vergangenen Zeiten, in denen Menschen auf verschiedene Weise mit Tieren umgehen. Einige von ihnen, wie zum Beispiel Geschichten von Mädchen, die sich in Pferde verlieben, sind keineswegs ungewöhnlich. Eine Vielzahl der in japanischen Volksmärchen vorkommenden Tiere sind hier heimisch: Füchse, Waschbären, Schildkröten und Kraniche. Der tägliche Umgang mit ihnen war den Dorfgesellschaften der Vergangenheit vertraut.

Die heutigen Stadtbewohner Japans haben keine derartige Beziehung zu wilden Tieren mehr, aber bei den meisten gibt es immer noch eine starke Vorstellung davon, dass Tiere und Menschen nicht voneinander zu trennen sind, dass es zwischen ihnen keine wertende Hierarchie gibt und man anerkennen sollte, dass es sich bei beiden um Seelenwesen handelt. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass mein Buch SAINT ZOO seit seiner Veröffentlichung überwiegend positive Kritiken erhalten hat, und dass weder die Zoos noch ich je beschimpft oder belästigt wurden. Das hat mich selbst ein wenig überrascht. Nach der Ankündigung der Veröffentlichung des Buches bereitete ich mich auf die heftige Kritik vor, die auf mich zukommen würde. Ich denke, es ist eine der Besonderheiten Japans, dass es nicht dazu kam.

Andererseits ist es aber so, dass es im heutigen Japan viele Probleme gibt, wenn es um die Haltung bzw. Beziehung zu Haustieren geht. Wie ich in SAINT ZOO geschrieben habe, sehen viele Menschen Hunde als Ersatz für Kinder. Es ist wunderbar, einen Hund als Familienmitglied zu haben, aber ausschlaggebend ist jedoch, sich der Tatsache zu stellen, dass Hunde eben Hunde sind und ihr Leben als solche zu schätzen. Bedauerlich finde ich, dass es in Mode gekommen ist, Hunden Kleidung anzuziehen.

Was die soziale Infrastruktur angeht, haben wir nicht die gleichen Möglichkeiten wie in Deutschland, wo man seinen Hund überall hin mitnehmen kann. Damit die japanische Gesellschaft in Harmonie mit Hunden leben und eine wirklich bereichernde Beziehung zu ihnen aufbauen kann, müssen wir meiner Meinung nach auch unsere Gesetzgebung überdenken.

Zwergpudel zur Rosenschau in Yokohama, Frühling 2022

Wie hat sich seit SAINT ZOO dein Verhältnis zu Tieren verändert?

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass ich selbst nicht mit Tieren leben kann. Das ist traurig und manchmal bedauere ich diesen Umstand. Aber zu diesem Schluss bin ich gekommen, seit ich dieses Buch geschrieben habe. Ich glaube nicht, dass ich im Moment dem Leben und der Sexualität von Tieren in ihrer Gesamtheit angemessen gerecht werden könnte.

Solange ich wie jetzt in einer kleinen Wohnung in Tokyo lebe, wären Hunde, Katzen oder Vögel wahrscheinlich großem Stress ausgesetzt. Hunde brauchen ausreichend Platz zum Schlafen, einen Park, einen Wald oder ein Flussufer, wo sie herumlaufen können. In Tokyo gibt es nur wenige solcher Orte. So kommt es, dass große Hunde hier nur selten zu sehen sind, meist sind es kleinwüchsige, die man halt etwas streicheln kann. Stadtplanung und Wohnumfeld wirken sich auf die Beziehung zwischen Mensch und Tier aus. In Tokyo werde ich immer wieder daran erinnert, wie kompliziert es eigentlich ist, für ein Umfeld zu sorgen, wo Tiere und Menschen glücklich und in Harmonie zusammenleben können.

Du hast mit den Zoos in englischer Sprache kommuniziert, dein Buch jedoch in Japanisch geschrieben. Wie bist du mit eventuellen sprachlichen Abweichungen der Aussagen der Zoos durch diesen Übersetzungsprozess umgegangen?

Die meisten Zoos sprechen fließend Englisch, sodass die Kommunikation kein Problem darstellte. Es gehört sich eigentlich, dass Kulturanthropologen die Landessprache lernen, in der sie forschen, aber ich hatte vor meinen Recherchen keine Zeit, gut Deutsch zu lernen. Darüber hinaus habe ich bei meiner Suche nach Protagonisten das Thema über die Region und die Sprache gestellt, und stieß so auf die Gruppe der Zoos über den ZETA-Verein (Zoophiles Engagement für Toleranz und Aufklärung). Ich bedauerte es und schämte mich ein wenig, dass ich nicht besser Deutsch konnte, aber als ich meine Forschung fortsetzte, erkannte ich auch die Vorteile der englischen Sprache. Da Englisch sowohl für die Zoos als auch für mich eine Fremdsprache ist, blieben wir manchmal bei dem einen oder anderen Wort hängen. Dann schlugen wir in digitalen Wörterbüchern auf dem Handy nach, oder wir zeigten uns gegenseitig Bilder, um zu verdeutlichen, was wir sagen wollten. Durch wiederholtes Fragen und auch durch diese Erklärprozesse lösten sich Unklarheiten ganz von allein auf. Wir gaben unser Bestes, um sicherzustellen, dass die jeweilige Botschaft richtig ankommt. Da wir uns mehr als vier Monate lang ausführlich unterhalten haben, bin ich sehr zuversichtlich, dass ich die Aussagen der Zoos nicht missverstanden habe. Musste ich während des Schreibprozesses etwas überprüfen und hatte Fragen dazu, übersetzte ich den Text ins Englische und schickte ihn per E-Mail an den oder die Betroffene zur Ansicht.

Da ich SAINT ZOO auf Japanisch schrieb, nachdem ich mich mit Deutschen auf Englisch unterhalten hatte, und dies nun wiederum ins Deutsche übertragen wurde, bin ich natürlich ein wenig darüber besorgt, ob die ursprünglichen Nuancen auch erhalten bleiben, da sie mehrere Sprachen durchliefen. Trotz allem hoffe ich, dass SAINT ZOO bei den deutschen Leser·innen gut ankommt.

Hast du mit Zoos aus Deutschland oder Japan noch Kontakt?

Ja, das habe ich. Seit dem Ausbruch des Coronavirus konnte ich nicht mehr ins Ausland reisen, und damit auch die Zoos in Deutschland nicht besuchen, aber manchmal sprechen wir miteinander und tauschen Nachrichten über Skype aus. Ich würde sie sehr gerne irgendwann wiedersehen.

SAINT ZOO hat in Japan großes Aufsehen erregt, du hast den Kaiko Takeshi-Preis für Sachliteratur gewonnen und warst für einige andere Preise nominiert. Welche Reaktionen waren dir besonders angenehm, welche waren dir nicht so angenehm?

Positive Reaktionen waren etwa Folgende: „Ihr Buch hat mein Werteverständnis verändert“, „Es hat meine Sicht auf die Welt verändert“, „Es zeigte mir, wie sehr ich in Konventionen gefangen bin und ich reflektiere nun, inwieweit ich andere akzeptieren kann“, „Ich konnte nicht aufhören zu weinen, als ich das Ende erreicht hatte“, „Noch nie hat mich etwas so sehr zum Nachdenken über menschliche Sexualität gebracht wie Ihr Buch“. Andere kontaktierten mich und erzählten, dass sie durch SAINT ZOO inspiriert eine Online-Gemeinschaft von Betroffenen gegründet hatten. Dies löste unbeschreibliche Glücksgefühle in mir aus.

Nicht so gut ausfallende Reaktionen waren eher selten, wie ich bei der zweiten Frage schon erwähnt habe. Es gab welche, die meinten, ohne das Buch gelesen zu haben, es wäre „einfach eklig“, was natürlich schade ist.

Eine ganz andere Reaktion, die mich zum Lachen brachte, war die Neugier auf Knödel und die Aussage, dass man „zumindest einmal im Leben Knödel essen wolle“.

Wurde dein Buch in andere Sprachen übersetzt?

Neben der deutschen Ausgabe wird im Laufe des Jahres 2022 auch eine koreanische Version erscheinen. Ich freue mich darauf, da die Reaktionen in jedem Land sicher unterschiedlich ausfallen werden.

Gab es nach der Veröffentlichung deines Buches in Japan Reaktionen von Tierschutzvereinen?

Als die Buchvorschau bekannt wurde, kam es zu einer Online-Petition, in der eine einstweilige Verfügung gegen die Veröffentlichung des Buches gefordert wurde. Ich machte mir Sorgen, ob es so weit kommen würde, aber dann sammelte man doch nicht so viele Unterschriften und das Buch konnte ohne Probleme erscheinen. Nach der Veröffentlichung gab es wider Erwarten keine heftigen Reaktionen. Sie waren überwiegend positiv, auch von mehreren Tierschutzvereinen.

In SAINT ZOO scheint die Überwindung der Grenze zwischen Tier und Mensch ein wesentlicher Aspekt zu sein. Was kannst du uns darüber sagen?

Ich glaube nicht, dass es den Zoos wesentlich um eine „Überwindung“ der Grenze zwischen Tier und Mensch geht. Sie lieben den Hund als Hund, und die Verschiedenartigkeit von Hund und Mensch ist eine Grundvoraussetzung für sie. Der Zoo liebt seinen Hund nicht als Menschenersatz oder hundeähnlichen Menschen.

Sie essen, schlafen, gehen spazieren, kuscheln, spielen, haben möglicherweise Geschlechtsverkehr, pflegen sich gegenseitig, wenn sie krank sind, und leiden miteinander im Angesicht des Todes. So wie es ein ideales menschliches Paar tun würde, sorgen hier Mensch und Hund füreinander, was vielleicht in gewisser Weise eine „Überwindung“ der Artengrenze darstellen könnte.

Welche Autor·innen waren dir beim Schreiben von SAINT ZOO wichtig? Inwieweit haben dich animal studies, queer studies, feminist studies beim Schreiben beeinflusst?

Ich habe SAINT ZOO als non-fiction-Literatur verfasst und versucht, akademische Diskussionen zu vermeiden. Dennoch basiert das Buch auf einer kulturanthropologischen Untersuchung der Sexualität von Zoophilen in Deutschland. Meine Studie ist an der Schnittstelle von Tier- und Sexualstudien angesiedelt und beide Aspekte finden ihre Berücksichtigung. Im Rahmen meiner Forschung war Donna Haraways Konzept der „Companion Species“ sehr wichtig. Ihre Texte beinhalten viele erotische Beschreibungen und Passagen über Beziehungen zu Hunden, aber ich fragte mich, warum sie nicht auf die sexuellen Belange der hündischen Begleiter einging.

Der Einfluss, den der Feminismus auf mich hat, ist unermesslich, aber ich gehe in meiner Arbeit nicht speziell auf feministische Positionen ein.

Worum geht es in deiner Doktorarbeit, die du im Moment an der Universität Kyoto schreibst?

Ich bin gerade dabei, meinen Forschungsschwerpunkt von Tieren auf Objekte zu verlagern. Konkret handelt es sich um Sexpuppen, die in Japan beliebt sind, und um Sexroboter, die auch in den USA und einigen Teilen Europas vertrieben werden. Ich versuche zu erörtern, was es bedeutet, Puppen und Roboter, also Objekte, sexuell zu begehren, und die Beziehung zwischen Menschen und Objekten aus der Perspektive der Sexualwissenschaft zu betrachten.

Leider hat die Corona-Pandemie meinen Zeitplan erheblich verzögert, und ich konnte bislang nicht im Ausland forschen, sodass es noch eine Weile dauern wird, bis ich meine Arbeit schreiben kann.

Liebe Chihiro, herzlichen Dank für das Interview!

Boxer bei einem Schreinfest in Asakusa, Tokyo, Juni 2022

Bonustrack: Ein fiktives Interview mit der Schäferhündin Cessy, einer Protagonistin aus dem Buch

 

 

Fußnoten
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©privat

Daniel Yamada ist geboren in Wien und wohnt seit dem Jahr 2000 in Berlin und Tokyo. Nach jahrelanger Tätigkeit als Tänzer und einer Tournee nach Japan studierte er Ostasienwissenschaften und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin, daraufhin Japanologie mit Schwerpunkt Übersetzung sowie Tanzwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Dozent für Deutsch als Fremdsprache u.a. am Sprachenzentrum der Humboldt-Universität zu Berlin, an der Keio Universität und Dokkyo Universität in Japan. Daniel Yamada ist freiberuflicher Übersetzer seit 2017. Aktuell übersetzt er „ikigai ni tsuite – Über ein lebenswertes Leben“ von Psychiaterin Mieko Kamiya.

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