Entfremdungsvermeidung
Journal zur Übersetzung von Geschichten der übelsten Sorte von Garielle Lutz
Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir ein Übersetzungsprojekt vor allem in Bezug auf seine Schwierigkeiten charakterisieren. Wie oft werden wir nach einem Buch gefragt, das wir gerade übersetzt haben, und unsere Antwort beginnt: „Besonders schwierig war ...“ Es gibt natürlich Gründe dafür, dass das passiert: Unser Handwerk ist hochspezialisiert, und wie jedes Handwerk haben wir die Aufgabe und die Verantwortung, etwas zu tun, was anderen weniger liegt, was ihnen schwer von der Hand geht. Wenn wir aber immer nur sagen, wie schwer alles ist und wie viel – geradezu unausweichlich – schiefgehen kann, vertiefen wir den Eindruck, dass das Übersetzen in der Regel ein Verlustgeschäft ist, bei dem es allenfalls um Schadensbegrenzung gehen kann, und dass man eine Übersetzung am sichersten an textlichen Schwächen erkennt, zu denen es eben kommen musste.
Die Erzählungen von Garielle Lutz1 gelten als „unübersetzbar“ – so „schwierig“ zu übersetzen, dass man gar nicht erst anfangen muss. Die ultimative Steigerung des übersetzerischen Schwierigkeitsfatalismus. Noch problematischer als die Tatsache, dass hiermit ein ganzes literarisches Werk als Problem abgestempelt wird, ist die implizite Unterstellung, dass bei anderen Texten Äquivalenz erreichbar ist – andere sind „übersetzbar“ (wenn auch schwierig und daher mit den Makeln einer schweren Geburt behaftet). Diese binäre Kategorisierung in Übersetzbares und Unübersetzbares hält einer Überprüfung nicht stand. Alles ist übersetzbar. Schon wer versteht, übersetzt, und sei es nur innerhalb der eigenen Sprache. Das sollte ein Gemeinplatz sein, aber es ist leider keiner. Daraus ergibt sich, dass niemand alles versteht. Niemand versteht einen Text (seinen Mann, seine Tochter, den Bundeskanzler, ein Gedicht von Hilde Domin, ein Käsekuchenrezept) ganz. Die Vorstellung uneingeschränkten Verstehens ist Mystik oder Eschatologie, aber für unser Handwerk nicht sinnvoll. Jedes Übersetzen ist unvollkommen, auch in der eigenen Sprache, und trotzdem nötig, möglich, nützlich und schön.
Garielle Lutz’ Erzählungen sind übersetzbar, denn sie sind Sprache. Was ist reizvoll daran, sie zu übersetzen? Wie kann das produktive Verstehen, das Übersetzen, hier gelingen? Wo kann die deutsche Sprache zum autorschaftlichen Projekt von Garielle Lutz beitragen? Die drei Fragen zielen wohl auf dasselbe ab; ich will eine Antwort versuchen.
Im englischen Original lesen sich die Erzählungen streckenweise sperrig. Syntax und Morphologie werden an ihre Grenzen geführt. Ruthful statt ruthless? Mädchen, die downthrown sind, nicht downtrodden? Gleamless statt gleaming? Ein customered Ort, also einer voller Kunden? Factish, also irgendwie mit Tatsachen verbunden? Slopwork, dreckige Arbeit? Skrupelvoll, niedergeworfen, glanzlos, kundendurchsetzt, tatsachenartig, Schlickschufterei. Das Deutsche kann hier gut mithalten und die Bauweise, den Klang, die Verschrobenheit und Mehrdeutigkeit von Wörtern rekonstruieren. Auch die Ableitung eines Wortes in eine andere Wortart lässt sich im Deutschen grundsätzlich gut nachvollziehen, auch wenn die Präferenzen normalerweise andere sind als im Englischen: Das Englische „can verb anything“ (kann alles zum Verb machen), während im Deutschen noch jede kleinste Partikel zum Substantiv reifen kann (erinnern Sie sich an das Wir?). Bei Lutz finden wir einen chronically howevering man, wir hören von desolating carnality, erfahren über einen Menschen, dass he circumstanced himself, und zwei Mädchen posieren stationarily. Entscheidend für die Übersetzung ist hier nicht im Detail, dass eine Konjunktion, ein Adjektiv oder ein Substantiv zum Verb oder ein Adjektiv zum Adverb wird, sondern dass die Ausdruckskraft verwendeter Sprache durch das Austesten der Grenzen zwischen Wortarten gesteigert wird.
Auch bei kreativen Mehrwortfügungen kommt das Deutsche dem Übersetzer entgegen: employment-defying ist wohl berufstätigkeitsfern, a tasseled toss-up of a woman kann ein betresstes Unentscheiden in Frauengestalt werden. Und wie heißt jemand, der nicht nur the most befucked of us (der Befickteste von uns) ist, sondern auch the first to start filling out? Er ist also sexuell aktiv, wird als erster dick und will, wie es etwas früher in derselben Geschichte heißt, für erwachsen gehalten werden? Der Erstzunehmende.
Bleiben wir noch einen Moment auf der Ebene einzelner Wörter oder kürzerer Wortverbindungen. Wie schon angedeutet, klingt in vielen ein weiteres Wort mit – zum Beispiel in ruthful auch ruthless. Die Bedeutung des tatsächlich verwendeten Wortes ergibt sich auch daraus, dass es als Abweichung von einem erwarteten, aber nicht verwendeten kenntlich ist. „Underlying networks of signification“ nennt man das in der Übersetzungswissenschaft. Wie sich das in der fertigen deutschen Übersetzung abbilden lässt, habe ich bereits angesprochen. Dadurch, dass Lutz’ Erzählungen so stark geprägt sind von diesem „ausgedrückten Vermeiden“, liest man oft auch das gleich mit, was nicht da steht – und mir ist im Übersetzungs- und vor allem dann im Überarbeitungsprozess bewusst geworden, natürlich auch dank meinem Redakteur Jens Berger, wie oft ich etwas „gelesen“ habe, was nun wirklich nicht da stand. Berger strich in meinem deutschen Text das Wort Ehefrau an, das ich verwendet hatte, weil ich wife gelesen hatte, wo aber life stand. Französisch korrigierte er zu frisch, weil eben im Original fresh stand und nicht French. Mein zum Scheitern verurteilter Selbstverteidigungsversuch lautet: Es gibt offenbar eine Weise des Lesens, die so aufmerksam ist, dass sie zu Fehlern führt; Lutz regt dazu an.
Auf syntaktischer Ebene sind Garielle Lutz’ Erzählungen in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Die erste hat mit der Valenz von Wörtern zu tun, also mit ihrer „Anschlussfähigkeit“. Der Fachbegriff lautet Wertigkeit. Ein zweiwertiges Verb verlangt zwei „Ergänzungen“, um im Satzgefüge funktionieren zu können (schneiden: Ich schneide Brot, also Subjekt und Objekt). Bei manchen Verben unterscheidet sich die Wertigkeit je nach Kontext; man könnte dann sagen, dass einige Ergänzungen notwendig und die weiteren jedenfalls möglich sind (schreiben: Das zweiwertige Ich schreibe Gedichte ist in sich sinnvoll und grammatisch richtig; möglich ist aber auch das dreiwertige Ich schreibe dir ein Gedicht). Bei Lutz scheint mir, dass die Valenz eines Wortes immer bis zum Äußersten, bis zum höchsten Wert ausgereizt wird. Im folgenden Beispielsatz spricht eine Lehrerin oder ein Lehrer (das Geschlecht ist unbestimmt): „Every so often when I was devising a new test, my sister would notice me from the bed in a way that made me feel myself seen.“ Reichen würde: made me feel seen. Das zusätzliche myself nutzt eine weitere Anschlussmöglichkeit aus, die normalerweise brach liegt. Durch die Präzisionsfreude der deutschen Grammatik ist diese Aufgabe für den Übersetzer technisch lösbar. Man könnte formulieren: Ab und zu, wenn ich eine neue Prüfung entwarf, bemerkte meine Schwester mich vom Bett aus so, dass ich mich dazu brachte, mich gesehen zu fühlen. Die Herausforderung ist hier also keine technische, sondern eine stilistische – wie kann der Satz eleganter, konziser klingen? „Ab und zu erstellte ich eine neue Prüfung, und dann sah mich meine Schwester vom Bett aus so an, dass ich mich spüren ließ, wie sie mich ansah.” Noch ein zweites Beispiel: „Every song was the worst way I could think of to ask for what I did not yet know how not to want.“ („Jedes Lied war die schlimmstdenkbare Frage nach dem, was ich auf eine Art und Weise einmal nicht wollen würde, die ich noch nicht kannte.“) Wer das Original dieser Sätze liest, mag zunächst meinen, dass hier Sprachnormen verletzt werden; der Übersetzer muss aber erkennen, dass es ein seltenes Ausreizen ist und kein willkürliches Sprengen, und sich entsprechend am Riemen reißen.
Book Review: The Complete Gary Lutz
Zweitens fällt auf satzbaulicher Ebene auf, wie viele Sätze wirklich sehr lang sind. Das Extrem ist ein 236 Wörter umfassender Satz (keine Liste, sondern ein diskursives Meisterwerk in pseudowissenschaftlichem Ton) über ein in einer ungespülten öffentlichen Toilette schwimmendes Stück Scheiße. Zugegeben: Für den Übersetzer schwierig war hier nicht in erster Linie die Arbeit an der Grammatik, sondern die Überwindung, sich lange in das Thema vertiefen zu müssen. Ausscheidungen, Ausdünstungen und Körperflüssigkeiten jeglicher Art2 spielen in den Erzählungen eine große Rolle; übersetzbar sind sie insofern gut, als im deutschen Sprachraum allgemein die Auseinandersetzung damit sehr viel offener – und das heißt sprachlich expliziter – gehandhabt wird als im englischen. (Flachspüler3 sind für viele Amerikaner·innen der beste Beweis, dass mit den Deutschen was nicht stimmt.)
Wenn ich nun einerseits sage, dass der englische Originaltext von Garielle Lutz’ Erzählungen lexikalisch, morphologisch und syntaktisch so ungewöhnlich ist (und der Microsoft-Word-Editor angibt, dass nur 83% „richtig“ sind), andererseits aber erkläre, wie gut das Deutsche auf so einen Text vorbereitet ist, laufe ich dann nicht Gefahr, gerade das Sperrige, Ungewöhnliche herunterzuspielen? Das ging mir tatsächlich beim Übersetzen durch den Kopf. Um es mit den übersetzungswissenschaftlichen Fachbegriffen zu sagen: Schon das Original wirkt aufgrund sprachlicher Mittel verfremdet (foreignised)4, und zwar gerade durch solche Mittel, die in der Zielsprache weniger deutlich markiert sind. Um Lutz gerecht zu werden, musste ich also diese Mittel berücksichtigen und gleichzeitig versuchen, die Fremdheit Gestalt werden zu lassen, die ihnen in der Ausgangssprache eingeschrieben ist. Wie mir das gelungen ist, kann ich nicht beurteilen.
Oben war von einer Lehrkraft unbestimmten Geschlechts die Rede. Lutz’ Erzählungen werfen fast durchgängig die Frage nach Geschlechtern auf – allerdings wohl eher für den Übersetzer als für alle, die einfach lesen. Denen kann nämlich leicht verborgen bleiben, dass das Geschlecht vieler Personen in den Erzählungen verborgen, unbestimmt, sprachlich unausgedrückt bleibt. Ist the kid in „The smell of how the world had ground itself onto somebody else“ ein Junge oder ein Mädchen? Ist the substitute teacher in „Positions“ eine Frau oder ein Mann? Die Antwort, die Lutz’ Erzählungen – durchgängig implizit! – geben, ist, dass wir nicht mehr Kategorien brauchen, sondern weniger. Ich muss hier keinen Katalog der Mittel präsentieren, die das Deutsche bereithält, um genderneutrale Formulierungen zu ermöglichen. Oft hitzige Diskussionen der letzten Jahre haben diese Mittel ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Ich will aber doch sagen, was mir beim Übersetzen aufgefallen ist: Selbst wenn ich die Lehrkraft oder die Bedienung schreibe, legt der Artikel den Gedanken an ein Geschlecht nahe. Geht mir das genauso, wenn ich der Mensch, die Person, das Mädchen schreibe? Für mich war das – und bleibt das auch beim Wiederlesen – eine wichtige Erfahrung: mich plötzlich, oft erst nach längerer Arbeit an einer Erzählung, zu fragen, ob eine bestimmte Figur als Mann oder als Frau gekennzeichnet ist, und dann keine Antwort zu wissen.
Spannender noch für den Übersetzer ist eine in den Erzählungen noch viel häufiger anzutreffende Schreibweise: dass von einer Person über mehrere Absätze oder Seiten die Rede ist, ohne dass deren Geschlecht in irgendeiner Weise deutlich bestimmt wird, und dann aber doch. Wie gehe ich mit dieser „Verzögerung“ um? Gehe ich davon aus, dass mir die Information schließlich gegeben wird und ich daher ohnehin, von Anfang an damit arbeiten, sie also schon früher sprachlich ausdrücken kann? Sicher nicht. Denn zur Substanz der Literatur gehört die Texttopographie. Literatur ist nicht die Summe der sprachlich vermittelten Fakten, sondern sprachgeleitete Erfahrung. (Das gilt übrigens auch für das Wiederlesen.)
Warum nun war, wenn die Übersetzung der Erzählungen einen solchen Sprachgestaltungsgenuss für mich bereithielt, diese Arbeit die wohl anstrengendste, die ich in meinem Übersetzerleben bisher verrichten durfte?5 Ich glaube, die Antwort liegt auf der Makroebene, auf der Ebene der Gesamttexte. Ja, es sind Erzählungen – Kurzgeschichten, könnte man sagen. Aber in zahllosen Rezensionen wurde bereits festgestellt, dass es kaum Plot und Spannungsbögen gibt und dass Figuren in einem traditionellen Sinn kaum kenntlich werden. Die Autorin selbst sagt, ihre Texte seien letztlich Pointensammlungen. Ich kann hier keine narratologische Analyse vorlegen, die sich aber unbedingt lohnen würde. Für den Übersetzer hat das Fehlen einer irgendwie herkömmlichen narrativen Struktur, wie mir im Laufe der Arbeit klarwurde, ebenfalls drastische Auswirkungen, und zwar sowohl auf sprachlicher wie auf psychologischer Ebene.
Ein Beispiel auch hierfür. In „Their sizes run differently“ („Die fallen unterschiedlich aus“) lassen sich einige typische Lutz-Merkmale identifizieren. Die Protagonistinnen sind junge Frauen, über die wir auf der ersten Seite erfahren, wie sie Bleistifte halten, wie ihre Haut beschaffen ist, wie sie das Freizeichen des Telefons hören. Über ein weiteres Mädchen erfahren wir, wie sie Kuchenstücke betrachtet. All das wird ausführlich, aber ohne logische Verbindungen miteinander und ohne offensichtliche Handlungsfolgen beschrieben. Der zweite Abschnitt der Geschichte beginnt vage: „Allzu oft kam mein Leben allerdings so daher und ich schloss mich ihm an – kümmerte mich wieder völlig darum, verschrieb mich einer bereits sich vollziehenden Bewegung, stellte mich mir, eräugte, wie mein Körper mir neuerlich entgangen war.” Und der Beginn des dritten deutet in einem Nebensatz Dramen an, von denen aber anderweitig nicht die Rede ist: „Schließlich nahm mich eine Frau auf, deren Tochter eine der Ertrunkenen gewesen sein musste.” Weil ein offenkundiger narrativer Bezugsrahmen fehlt, bleibt der Blick beim Lesen an Details kleben, hangelt er sich kleinschrittig voran. Die Krise des Erzählens ist eine Krise der Antizipation – man hat keine Vorstellung, was kommen könnte; und ein befriedigendes Auflösungsmoment gibt es auch nicht.
Für mich bedeutet das Fehlen einer nachvollziehbaren Entwicklung, dass ich mit jedem Satz gleichsam neu ansetze. Meine Wortwahl kann sich kaum auf etwas beziehen, was bereits etabliert ist. Genau wie das Erzählen ein dramaturgisches und damit auch semantisches Stochern im Trüben zu sein scheint, müssen die übersetzerischen Kriterien für die Wahl der richtigen Worte und Wörter fast mit jedem Satz neu etabliert werden. Das schlaucht. Stellen Sie sich vor, Sie dürften einem fünfjährigen Kind einen ganzen Abend lang Geschichten erzählen, müssten aber immer gleich nach dem ersten Satz eine neue anfangen. Ich bin sehr dankbar, dass die Autorin meine vielen per E-Mail gestellten Fragen geduldig beantwortet und mir dadurch verborgene Zusammenhänge erschlossen hat.6
Ich weiß nicht, ob ich das überzeugend oder auch nur treffend beschrieben habe. Ich würde mich jedenfalls freuen, mit jemandem über diese Frage ins Gespräch zu kommen. Was ich noch beitragen kann, ist ein Eindruck, der mir zuvor völlig unbekannt war: Beim Lesen der Anmerkungen des Redakteurs, bei der ersten Druckfahne, bei der zweiten, dritten – mir erschien meine eigene deutsche Version jedes Mal völlig neu. Mir kam es so vor, als sähe ich den Text zum ersten Mal. Und jedes Mal erschien mir der Text nicht nur neu, sondern auch anders – einmal urkomisch, einmal brutal, einmal süffig. Ich kann mir das nur so erklären, dass ich das viele Ungesagte jedes Mal anders auffüllte. Unheimlich war das auf jeden Fall.
Für diese Erfahrung bin ich dankbar; ich wünsche sie allen, die das Buch in meiner Fassung lesen.