Übersetzen als Feministin: Endlich etwas, das uns passiert
Ein Podcast-Journal zur Übersetzung von Nichts, was uns passiert von Bettina Wilpert
Dieser Podcast ist ebenfalls auf Spotify und Apple Podcasts verfügbar.
Anna sagt, sie wurde vergewaltigt. Jonas sagt, es war einvernehmlicher Geschlechtsverkehr. In dieser, aus drei Folgen bestehenden Podcast-Reihe nimmt Julie Tirard uns mit hinter die Kulissen der französischen Übersetzung von Nichts, was uns passiert. Dieser erste Roman von Bettina Wilpert, der 2018 mit dem ZDF-Aspekte Preis ausgezeichnet wurde und in Frankreich für den Prix FNAC 2022 nominiert ist, liest sich in einem Zuge durch. Er stellt mit investigativ-journalistischer Schärfe eine tiefgründige Überlegung zur Vergewaltigung als sozialem Tatbestand an. Wie lässt sich beim Übersetzen der journalistische Ton treffen, der diesen Roman so einzigartig macht, und dabei der allem zugrunde liegenden feministischen Absicht gerecht werden? Wo liegen die Hürden einer feministischen Übersetzung und was bedeutet es, als Feministin zu übersetzen? Wie positioniert sich die Übersetzerin, zum Text, zur Autorin aber auch zum Verlag, der das Buch herausgeben wird?
FOLGE EINS
ZEIT(EN)SPRUNG
In dieser ersten Folge erklärt Julie Tirard, was sie dazu bewegt hat, eine große Veränderung in der französischen Übersetzung vorzunehmen…
„Das bin ich, beim Ausprobieren verschiedener Übersetzungsversionen vom ersten Kapitel des Romans. Was sich bei jeder Version ändert ist die Zeit. Passé simple. Passé composé. Präsens.
Es ist März 2022, ich befinde mich mitten in einem Albtraum.
Die allererste Version dieses Kapitels ist eigentlich von März 2018, vor vier Jahren. Damals hatte ich an einer Übersetzungswerkstatt teilgenommen für junge Literatur-Übersetzer und Übersetzerinnen, dem sogenannten Goldschmidtprogramm. Im Zeitraum von zwei Monaten haben wir abwechselnd an Übersetzungs-Workshops und Verlagsbesuchen teilgenommen, unter anderem waren wir beim Verbrecher Verlag in Berlin. Dort habe ich Nichts, was uns passiert, kurz vor dem Erscheinungstermin entdeckt.
Da ich schon eine Übersetzung in Arbeit hatte, Oh Simone! von Julia Korbik, die zwei Jahre später bei La Ville Brûle erschienen ist, war ich eigentlich schon gut beschäftigt. Aber am Abend, vor dem Ins-Bett-Gehen, konnte ich einfach nicht anders, ich habe Heft und Stift zur Hand genommen und den Anfang von Nichts, was uns passiert übersetzt. Ich habe einen regelrechten Drang verspürt, dieses Buch den französischen Lesepublikum zugänglich zu machen. In der letzten Woche des Workshops war meine Mentorin, die mich im Laufe des Programms begleitet hat, einverstanden, einen Blick auf die Übersetzungsprobe zu werfen. Als wir uns für das Gespräch getroffen haben, warte ich nervös auf ihr Urteil und sie sagt: „160 Seiten im Plus-que-parfait zu übersetzen, das könnte etwas schwierig werden… – Ah.“
FOLGE ZWEI
ÜBERSETZEN: EINE POLITISCHE HANDLUNG, EINE KOLLEKTIVE HANDLUNG
In der zweiten Folge stellt sich Julie Tirard die Frage: Wie sollten feministische Texte übersetzt werden? Und wie geht Übersetzen als Feministin? Was machen, wenn ein Text Sprachelemente enthält, die uns problematisch scheinen? Muss die Übersetzerin davor die Augen verschließen? Darf sie eingreifen?
„Ich übersetze feministische Texte. Theater, Romane, Essays, Poesie. Feministisch. So lässt sich heute mein Engagement beschreiben.
Für mich ist Übersetzung zwangsläufig politisch. Es ist keine willkürliche Handlung. Es geht nicht nur um das Herüberbringern aus der einen Sprache in die andere. Die übersetzende Person ist für mich keine passive Mittelsperson, sondern ein Akteur, eine Akteurin, die eine Verpflichtung eingeht und dieser durch die Entscheidungen, die er oder sie andauernd trifft, gerecht werden muss. Übersetzen ist Wählen. Es ist Ablehnen. Bevorzugen. Abwägen. Es bedeutet sich der eigenen Subjektivität bewusst zu werden und sie anzunehmen.
Seit einiger Zeit frage ich mich nicht einfach, wie ich einen feministischen Text übersetzen kann, sondern wie ich einen Text als Feministin übersetzen kann.
Ich frage mich nicht nur welche französischen Worte ich verwenden kann um diese Idee, jenes Konzept aus dem Deutschen oder Englischen zu übersetzen, sondern welche französischen Worte ich überhaupt verwenden darf.“
FOLGE DREI
ALS FEMINISTINNEN HERAUSGEBEN
2021, zum Zeitpunkt des Skandals um die Übersetzung von Amanda Gormans Gedichten, wurde die Frage nach der Legitimität beim Übersetzen gestellt. Anders ausgedrückt: Sind einige Übersetzende besser befähigt als andere, um bestimmte Autor·innen zu übersetzen? Im gleichen Jahr bildete sich in Frankreich ein Kollektiv, bestehend aus engagierten Verlegerinnen, das sich die gleiche Frage, aber auf Verlagsseite stellt: Gibt es Verlage, die sich für die Herausgabe bestimmter Texte besser eignen als andere?
In dieser dritten und letzten Folge beschäftigt sich Julie Tirard mit dem Herausgeben und Veröffentlichen von feministischen Texten und fragt sich, ob ein anderer Verlag Ça n’arrive qu’aux autres hätte herausgeben können oder gar müssen(?)…
„Ich habe es in der ersten Folge erwähnt, den Roman Nichts, was uns passiert von Bettina Wilpert habe ich im Januar 2018 im Rahmen einer Übersetzungswerkstatt entdeckt. Und bei einem Treffen mit verschiedenen Pariser Verlagen konnte ich das Buch Benoît vom Verlag Le Nouvel Attila vorstellen. Ich wollte ihn gar nicht überzeugen, ich hatte eigentlich vor, es anderen Verlagen vorzuschlagen, die sich mehr auf feministische Texte spezialisiert hatten. Und Verlegerinnen. Aber als es so weit war, wollte keine Verlegerin das Buch machen. Als Ablehnungsgrund nannten sie oft den Stil: mal war er ihnen zu nichtssagend, dann wieder zu eigensinnig. Und für Benoît war es gerade der Stil, der ihn überzeugt hat. (…) Also war es vor allem der Stil, der, noch vor der Dringlichkeit der feministischen Aussage, dafür sorgte, dass Nichts, was uns passiert übersetzt werden konnte.
Es war ein Mann, ein weißer cis-Mann, der auf dieses Buch gesetzt hat. Ich glaube, das kann ich immer noch nicht ganz fassen.“
Audionachrichten
„Hi Benoît, ich glaube es wäre gut, wenn du nicht so sehr von Grauzone, sondern eher von einem Roman, der die Pseudo-Grauzone anprangert, sprichst // Hi Benoît, bei „deux mois plus tard une plainte est déposée“, fände ich aktiv doch besser, denn Anna ist ja aktiv, sie erstattet Anzeige // Seite 27, „encore ce mot, survivre“, da hast du „encore survivre“ draus gemacht, aber es geht hier ja wirklich um „ce mot“, „das Wort“// Seite 13, „pourquoi se séparent-ils, peut-être le fait qu’il a été socialisé en tant que garçon“, du schlägst vor: „qu’il a grandi en tant que garçon“, es ist aber wichtig „socialisé“, „sozialisiert“, und nicht „aufgewachsen“ zu schreiben, Lisa hat den feministischen Diskurs so verinnerlicht, da benutzt sie ganz klar „sozialisiert“ wenn sie redet // Seite 21, Datei Nr. 2, „disons qu’elle trouve ça étrange, victime de viol“, du schlägst einfach „un viol“ vor, da bin ich nicht für, das was Verena komisch findet, ist nicht die Vergewaltigung, das passiert alle sieben Minuten in Frankreich, sondern eher, dass Anna sich als Vergewaltigungsopfer bezeichnet, denn sie verhält sich nicht so, wie Verena es für angebracht hält // Hi Benoît, zum Klappentext, „ils passent une nuit ensemble, cette nuit-là quelque chose n’a pas tourné en rond“, Jonas vergewaltigt Anna, da ist nicht einfach was „schiefgelaufen“ // „elle va se débattre seule avec le poids de ce non dit“, das ist kein „Unausgesprochenes“, denn sie sagt es // „comment mettre des mots sur l’indicible“, das ist nichts Unsagbares, es ist eine Vergewaltigung // „comment obtenir réparation dans une société qui ne sait pas entendre“, die Gesellschaft hört es schon lange, es ist ihr einfach scheißegal // und dann noch „l’agression“, naja, eigentlich ist es eine Vergewaltigung und kein Angriff // hab `nen schönen Tag und wir hören uns bald.“
Zitate und Links:
Titelmusik des Podcast Affaires Sensibles, eine Radiosendung von und mit Fabrice Drouelle auf France Inter
Interview mit Josée Kamoun, Le Monde, 6/06/2018
Verband der Literatur-Übersetzenden Frankreichs, ATLF
Sur les bouts de la langue / traduire en féministe/s, Noémie Grunenwald, La Contre Allée, Paris, 2021, S.38-42
« Les mots du viol, Le langage révélateur de la légitimation des violences sexuelles », Marie-Victoire Louis, 2004
Die Webseite des Verlags Le Nouvel Attila
La révolution féministe, Aurore Koechlin, Éditions Amsterdam, Paris, 2019, S.136
Das Kollektiv « éditer en féministe » setzt sich aus den Verlagen Blast, Daronnes, Du commun, Hystériques & associées, Premiers matins de novembre, Le passager clandestin, Des lisières und dem Kollektiv mémoire minoritaire zusammen.
Maud Leroy ist Verlegerin bei Éditions des Lisières
Mit Dank an:
Solveig Bostelmann
Agnès Guipont
Maud Leroy
Stéphanie Lux
Paula Rauhut
Jayrôme C. Robinet
Benoît Virot
Bettina Wilpert
Ela zum Winkel
Marco Woldt