Journale Prosa Leere Straßen, rasende Herzen

Leere Straßen, rasende Herzen

Journal zur Übersetzung von Connemara von Nicolas Mathieu

I. Die Suche nach dem gemeinsamen Ton
II. Connemara – irisches Idyll und französisches Freiheitsversprechen
III. Neoliberalismus und Machtsprache
IV. Ein Roman der Provinz

Foto: Leo Weyreter

Im Zentrum von Nicolas Mathieus viertem Roman1 steht die fast vierzigjährige Hélène. Sie hat Karriere gemacht, zwei Töchter, und lebt mit ihrer Familie in einem luxuriösen Haus in der Nähe von Nancy. Sie hat sich den Traum ihrer Jugend erfüllt: abhauen, das Milieu wechseln, erfolgreich sein. Christophe hingegen hat die Kleinstadt, in der er und Hélène aufgewachsen sind, nie verlassen. Er macht Gelegenheitsjobs, kümmert sich um seinen dementen Vater und jede zweite Woche um seinen Sohn. Als die beiden sich nach Jahren wieder begegnen, treffen Welten aufeinander. André Hansen und Lena Müller waren übersetzerisch in diesen Welten unterwegs, hier sprechen sie darüber.

I. Die Suche nach dem gemeinsamen Ton

André
Wir haben diesen umfangreichen Roman im Zeitraum weniger Monate zusammen übersetzt. Wie ging es dir dabei?

Lena
Gut. Am Anfang war ich neugierig und voller Tatendrang, jedes neue Buch hat ja auch etwas von einem neuen Abenteuer. Am Ende war ich ein wenig erschöpft. Wenn wir über mehrere Monate gemeinsam an einer Übersetzung arbeiten, gibt es auch Phasen, in denen es noch nicht unbedingt einen gemeinsamen Ton gibt, einfach weil wir noch nicht so durchdrungen sind von dem Text. Was immer schön ist, ist die Annäherung zum Ende hin, wenn wir uns gegenseitig mikroskopische Beobachtungen zum Text erzählen können, die für Außenstehende sicher relativ nerdig wirken. Und du, hattest du Spaß?

André
Ich fand es wie immer sehr schön, mit dir zusammenzuarbeiten. Oft hat es auch Spaß gemacht, aber es ist eine Mischung aus harter Arbeit und dem guten Gefühl, wenn eine Formulierung glückt. Wenn der Text dann am Ende richtig gut klingt, ist das unbeschreiblich. Ich weiß nicht: Ist das Spaß?

An diesem Roman hätten wir sicher auch ein ganzes Jahr arbeiten können und hätten uns nicht gelangweilt. Streckenweise war der Zeitdruck recht groß. Mir ist auch das Phänomen aufgefallen, dass die Textarbeit selbst ganz schön zäh war und mir der Text beim Übersetzen unendlich lang und ausschweifend vorgekommen ist. Wenn ich das Ergebnis dann aber am Stück lese, ist es mit einem Mal kurzweilig und funktioniert. Im Nachhinein habe ich Spaß gehabt, obwohl ich währenddessen oft geflucht habe.

Lena
Unsere Zusammenarbeit ist ja immer ähnlich aufgebaut: Wir lesen und tauschen uns etwas über unsere Leseeindrücke aus, dann teilen wir den Text auf, übersetzen unseren Teil und lesen uns gegenseitig. Das unterscheidet sich aber deutlich vom Lektorat einer abgeschlossenen Übersetzung, schließlich ist der Text, der gemeinsame Text, noch im Werden – und manchmal macht eine·r von uns eine leicht abweichende Lesart geltend. Bisweilen habe ich den Eindruck, dass ich mir bei dieser Überarbeitung recht viel erlaube, jenseits eventueller Korrekturen schlage ich alternative Formulierungen vor, stelle um etc. Was denkst du, wenn du solcherart lektorierte Texte von mir bekommst?

André
Als wir vor Jahren das erste Mal zusammengearbeitet haben, ist es mir noch schwer gefallen, einen Text aus meiner Kontrolle zu lassen. Inzwischen fühle ich mich wohl damit. Ich weiß, wenn ich dir etwas schicke, dass die Übersetzung noch nicht final ist. Ich empfinde es als Luxus, dir einen zwar durchdachten, aber noch nicht abgabereifen Text geben zu können. Das ist ein Vorteil der Arbeit im Team. Wir können etwas ausprobieren, und vielleicht wird der Versuch dann wieder zurückgenommen, oder aber verschärft, abgemildert, in eine andere Richtung gelenkt.

Das ist ein Aushandlungsprozess, oft auf der Ebene der Sprache und des Klangs. Oder des Satzbaus. Nehmen wir diesen Absatz aus dem ersten Kapitel von Connemara zum Beispiel:

Hélène avait dû faire un effort pour sourire. Une génération à peine la séparait de Lison et, déjà, elle ne comprenait plus rien aux usages amoureux qui avaient cours. En l’écoutant, elle avait ainsi découvert que les possibilités de rencontres, la durée des relations, l’intérêt qu’on se portait ensuite, l’enchaînement des histoires, la tolérance pour les affaires simultanées, le tuilage ou la synchronicité des amours, les règles, en somme, de la baise et du sentiment, avaient subi des mutations d’envergure. [Frz. S. 18]

Wenn ich alleine vor solchen Sätzen sitze, brauche ich nach meiner ersten Fassung einige Ruhezeiten und Neuanfänge, bis etwas Brauchbares herauskommt. Meine erste Variante, die ich dir geschickt hatte, lautete noch:

Hélène lächelte angestrengt. Gerade einmal eine Generation trennte sie von Lison, und schon verstand sie nichts mehr von den gängigen Liebesbräuchen. Die heutigen Möglichkeiten des Datings, die Dauer von Beziehungen, das gegenseitige Interesse nach dem Schlussmachen, das Aneinanderreihen von Liebschaften, die Toleranz für parallele Affären, die Probezeit, die Aufgleisungsphase für die Liebe: Beim Zuhören erfuhr sie von all diesen neuen Regeln des Fickens und Fühlens.

Das war noch nicht ganz rund. Es war zu lang, und die Metapher des Aufgleisens ist vermutlich außerhalb bestimmter Projektmanagementkreise nicht verständlich. Wichtig war mir an der Stelle der Gedanke, dass neoliberales Denken alle Lebensbereiche durchdringt.

Dank deiner beherzten Änderungen und einigem Feinjustieren kam schließlich das heraus:

Hélène lächelte angestrengt. Gerade einmal eine Generation trennte sie von Lison, und schon verstand sie nichts mehr von den gängigen Liebesgebräuchen. Dating-Praktiken, Beziehungsdauer, Freundschaft Plus, serielle Monogamie, polyamoröse Verbindungen, Probezeiten, Schnupperpraktika für die Liebe: Beim Zuhören erfuhr sie von den neuen Regeln des Fickens und Fühlens. [Dt. S. 17]

Ich finde aber, dass wir grundsätzlich ein ähnliches Gefühl für gute Texte haben. So erkläre ich mir zumindest, dass ich kein Problem mit dem Kontrollverlust über den Text habe. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann.

Lena
Apropos Vertrauen. Bei unserer ersten Zusammenarbeit vor einigen Jahren bei Wie später ihre Kinder kannten wir uns erst kurz und hatten nie zusammen übersetzt. Da gab es einfach diesen Vertrauensvorschuss, sich gemeinsam an das Unterfangen zu wagen. Was denkst du, wie viel Vertrauen braucht es für das gemeinsame Übersetzen? Und was stärkt oder erschüttert dein Vertrauen mitunter?

André
Es war wahrscheinlich Glück, dass es gleich so gut geklappt hat. Der Text darf am Ende nicht so klingen, als wäre er aufgeteilt worden. Man sollte also schon der anderen Person vertrauen können, dass der gleiche Stil gefunden und aufrechterhalten werden kann. Die Fähigkeit, in ganz verschiedenen Stilen schreiben zu können, gehört zum Literaturübersetzen dazu. Bei der Teamarbeit nehme ich das noch viel stärker wahr. Wenn ich alleine arbeite, darf ich mir ein paar Gewohnheiten, meine eigenen kleinen Automatismen erlauben, die zwar funktionieren, aber den Blick für Alternativen verstellen. Bei der Teamarbeit geht das nicht. Da muss der Stil, der sich im Verlauf der Arbeit herausbildet, immer wieder getroffen werden, auch wenn er meinen Gewohnheiten widerspricht. Das ist eine gute Übung.

Das Gute an Mathieu ist, dass sein Stil Wiedererkennungswert hat. Wir mussten den Ton also eigentlich nur wiederfinden und haben nicht ganz von vorn angefangen. Aber natürlich kommen wir aus unterschiedlichen Projekten und haben in der Zwischenzeit neue Erfahrungen gemacht, sind andere Menschen und so weiter. Wir haben uns diesmal kapitelweise abgewechselt und uns nebenbei immer gegenseitig gelesen. So haben wir einen ähnlichen Ton gefunden, uns immer mehr angenähert. Ich weiß nicht, ob es gar keine Unterschiede mehr gibt. Aber manche Eigenheiten sind vermutlich nur noch für Insider zu erkennen. Vielleicht auch für Bärbel Brands, unsere Lektorin, aber sie hat sich nichts anmerken lassen.

Die ersten Kapitel mussten wir, nachdem wir den Roman einmal durchgearbeitet hatten, noch intensiver bearbeiten. Das unterscheidet sich aber gar nicht so sehr von der Arbeit im Alleingang. Der Text ist ja immer erst mal fremd und muss vertraut gemacht werden. Persönlich kann ich sagen, dass ich viel zu oberflächlich lese, als dass ich einen Text nach dem einmaligen Lesen schon umfassend begreife. Beim Übersetzen komme ich viel näher ran. Ich brauche immer mehrere Durchgänge.

II. Connemara – irisches Idyll und französisches Freiheitsversprechen

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André
Kannst du dich noch an deine erste Assoziation mit dem Titel Connemara erinnern?

Lena
Ehrlich gesagt habe ich nicht gleich an das Chanson Les lacs du Connemara von Michel Sardou gedacht. Ich dachte zuerst an die Gegend in Irland und dann an die gleichnamigen Ponys, die als belastbar und arbeitsam gelten – auch interessant für einen Roman, der sich den Arbeitswelten des Neoliberalismus widmet. Obwohl ich einige Jahre in Frankreich gelebt habe, war das Chanson keine Referenz für mich, sicher hatte ich es schon einmal gehört, aber nicht bewusst wahrgenommen. Das sagt wahrscheinlich mehr über mich aus als über den Stellenwert von Sardous Musik in Frankreich. In meinen Ohren klingt der Song eher sonderbar: die pompöse Instrumentierung, der schmetternde Gesang, der treibende Rhythmus, der an ein kriegerisches Heer zu Pferd denken lässt. Auch innerhalb der Chansontradition scheint es mir eigentlich eher sperrig. Aber eben sehr beliebt.

André
Der Titel könnte also als eine falsche Fährte verstanden werden, die Mathieu bewusst setzt. Für ein deutsches Publikum ist es vielleicht noch überraschender. Ich kann mich erinnern, dass das Lied auch schon in Wie später ihre Kinder gespielt wurde. Aber da war es nicht so sehr mit Bedeutung aufgeladen.

Lena
Es handelt ja vordergründig von der kargen Landschaft und dem irischen Freiheitskampf, ist aber in Irland so gut wie unbekannt und trifft in Frankreich scheinbar einen Nerv, löst ein Gefühl aus, mit dem sich viele Menschen identifizieren können. Das ist ein interessantes popkulturelles Phänomen.

[…] da waren die ersten Takte, und alle erkannten sie wieder. Das langsame Ansteigen, das Sausen des Windes. Die Klavierklänge und dann die Streicher, die etwas von Gershwin hatten. Dann kam die Stimme von Sardou, Worte, die von einem fernen Ort zu sprechen schienen, aber alle hier kannten ihre Bedeutung. Denn die Erde, die Seen, die Flüsse, das waren nicht bloß Bilder, nicht bloß Folklore. Dieses Lied hatte nichts mit Irland zu tun. Es sprach von etwas anderem, von einem durchschnittlichen Leben, dem ihren, das sich nicht in fernen Gefilden abspielte, sondern hier, auf dem Land und in den Einfamilienhäusern, wo man keine großen Sprünge machte, wo man immergleiche Tage in der Fabrik, im Büro, jetzt vor allem in Warenlagern und Lieferketten abarbeitete, in Krankenhäusern und beim Arschabwischen in Altersheimen, dieses Leben in seiner prekären Balance, den nicht enden wollenden Montagen und manchmal einem Urlaub am Strand, dieses ständige Buckeln für eine Gehaltserhöhung, wenn überhaupt, vierzig Jahre und mehr schuften, um dann seinen Kleingarten zu bewirtschaften, sich im Frühjahr über einen blühenden Kirschbaum zu freuen, sich zu Hause zu wissen, und dann die erwachsene Tochter, die sonntags im Megane vorbeikam, den Kindersitz auf der Rückbank, ein Kind, das ihnen versichert: Es hat sich gelohnt. Das alles wusste man instinktiv mit den ersten Tönen, weil man dieses Lied tausendmal gehört hatte, im Radio, Auto, Fernsehen, hochtrabend und handfest, und es einem unter die Haut ging und stolz machte. [Dt. S. 414]

Wie im Roman dargestellt, ist es in Frankreich beliebt als Abschlusslied oder Rausschmeißer in Bars oder Diskos, auf Dorffesten, Feuerwehrbällen, Hochzeiten und ähnlichen Ereignissen. Es bleibt aber nicht auf den ländlichen Raum und die sogenannten einfachen Leute beschränkt. Traditionellerweise wird es auch jedes Jahr auf der Abschlussfeier der HEC, der großen Pariser Elitehochschule für Wirtschaftswissenschaften gespielt, also dort, wo eine Menge wohlhabende Menschen, Macht und Einfluss zusammenkommen. Das Chanson scheint also in seiner Beliebtheit soziale Grenzen zu überwinden. Insofern ist es ein spannendes Leitmotiv für den Roman, denn Nicolas Mathieu widmet sich in all seinen Romanen den Wirkungsweisen von Klassenzugehörigkeit, von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht oder einem Milieu. Ich würde vermuten, Sardous Evergreen ist so klassenübergreifend bei Kollektivereignissen beliebt, weil es musikalisch das Gefühl von Größe und Gemeinschaft transportiert. Obwohl von Irland die Rede ist, scheint es für französische Hörer·innen einen patriotischen Elan anzusprechen: für die gemeinsame Sache Großes vollbringen. So wirken auf mich die Absolvent·innen der HEC beim Schunkeln zu Les lacs du Connemara, ein wenig selbstironisch, aber vor allem ernst und entschlossen.

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André
Abgesehen von Sardou tauchen noch andere Anspielungen auf Chansons auf. So hat sich eine Bar Jacques Brels Ivrogne, den Trinker, zum Maskottchen gemacht. Dieser musikalische Kulturtransfer war für uns eine Herausforderung. Eine Nebenfigur wird eingeführt als ein gewisser Gainz, „qu’on surnomme ainsi à cause de sa tête de chou“, also als jemand, der so heißt, weil er einen „Kohlkopf“ hat. Die Anspielung auf das Gainsbourg-Chanson L'Homme à tête de chou werden unsere deutschsprachigen Leser·innen vermutlich nicht so leicht abrufen können wie französische. Wie gehen wir mit solchen Stellen um?

Lena
Gainsbourg hat ausgehend von einer Skulptur der Künstlerin Claude Lalanne mit seinem L'Homme à tête de chou gewissermaßen einen Begriff geprägt, er beschreibt einen Mann, dem das Leben und die Liebe übel mitspielen und der keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Diese Anspielung entgeht wahrscheinlich Leser·innen, die das Chanson nicht kennen. Das ist die Freude des Spiels mit Verweisen und Anspielungen in Texten: Manche erkenne ich als Leser·in, manche entgehen mir. Beim Übersetzen müssen wir diesen Prozess ein wenig moderieren und darauf achten, dass es auch in einem anderen Kontext verständlich bleibt – ohne zu viel zu erklären, denn Anspielungen sollen ja Anspielungen bleiben. Also auch keine Fußnoten, außer das ist in der Ästhetik des Originals schon angelegt, Fußnoten sind ja ein sehr eigenes Stilmittel. Manchmal haben mir Leser·innen gesagt, dass sie sich bei anspielungsreichen Texten ein Nachwort der Übersetzerin wünschen würden, was ich verstehen kann. Vielleicht haben Übersetzungsjournale, die online erscheinen, eine ähnliche Funktion. Oft gibt es einen Rest, der unübersetzt bleibt. Zum Beispiel bei dem Chanson Les lacs du Connemara. Eine mögliche Frage wäre ja: Was wäre die Übertragung in den deutschen Kontext, die Übersetzung dieser Gefühlslage? Westernhagen mit Freiheit? Grönemeyer mit Bochum? Sicherlich hinken die Vergleiche, sowohl musikalisch, inhaltlich als auch von den kollektiven Emotionen her, die an die Songs geknüpft werden. Und es ist ja auch nicht die Aufgabe der Übersetzung, eine Entsprechung für das titelgebende Chanson aus dem deutschen Kontext zu finden. Der Roman thematisiert eben den provinzfranzösischen Kontext mit seinen kollektiven Referenzen, Ritualen und Gewissheiten. Für französische Leser·innen ist der Roman mit diesem Chanson verknüpft, das sie vielleicht lieben oder hassen, das sie an selbst Erlebtes erinnert – während es bei den meisten deutschsprachigen Leser·innen kaum eigene Emotionen auslöst. Da gibt es eine Fremdheit, die der Text behält.

Ein anderes Beispiel: Auch das französische Schul- und Hochschulwesen, das ein eigenes komplexes System aus Hierarchien bildet und in diesem Roman eine tragende Rolle spielt, ist gewissermaßen nicht übersetzbar in den deutschsprachigen Kontext. Vor allem das landesweite Ranking, das damit zusammenhängt, ist außerhalb Frankreichs schwer zu fassen. Aber das, worum es geht, nämlich soziale Hierarchien, Bildungsunterschiede und die Schwierigkeit, das Herkunftsmilieu zu wechseln, knüpft auch für deutschsprachige Leser·innen an eigene Erfahrungen an und ist sicher für viele nachvollziehbar.

III. Neoliberalismus und Machtsprache

Lena
Ich erinnere mich noch, dass du am Anfang unserer Arbeit an diesem Text sagtest, dass du dich freust, dich sprachlich mit dem Vokabular der Consulting-Branche zu beschäftigen. Wie sah diese Auseinandersetzung aus?

André
Ich finde diese Business-Welt spannend. Ich kenne das Milieu zwar nur von außen, finde es aber faszinierend. Generell interessiere ich mich für die Sprache der Macht und der Mächtigen. Ein Beispiel dafür ist das harte, strenge Juristische, etwa der unpersönliche Aufforderungston eines Finanzamtschriftstücks. Am anderen Ende des Spektrums befindet sich die fast schon ulkige Sprache der Wirtschaftsmacht. In diesen Kreisen wird unironisch von Fulda nach Frankfurt getravelt, um mal woanders remote zu worken. Das hat etwas Bemühtes und gleichzeitig Oberflächliches. Und man braucht nicht viel Distanz, um sich darüber lustig zu machen. Wir mussten deshalb eine Balance finden: die Figuren nicht der Lächerlichkeit preisgeben, sie aber auch nicht ganz als unaufrichtig darstellen. Wenn das klappt, hat der Argot der immer nach dem nächsten Sidehustle schielenden Selbstoptimiererin oder des Kompetenz simulierenden Bullshitjobverrichters eine Tragikomik.

Ich bin früher vier Jahre lang jede Woche zwischen Berlin und Frankfurt gependelt. Da habe ich viele von diesen Businessleuten beobachten, teilweise kennenlernen können. Ich finde es spannend, mit diesem Soziolekt zu arbeiten. Zu Recherche- und Inspirationszwecken bietet sich natürlich auch LinkedIn an.

Ganz offensichtlich hat sich Mathieu auch von dieser Schicht inspirieren lassen und die Sprache so eindrücklich nachgebildet, dass es mir wichtig war, dass wir uns an einigen Stellen richtig tief hineinbegeben.

Les zélotes, pour leur part, se reconnaissent à une sorte d’acharnement, de conviction catégorique. Le management parle par leur bouche du soir au matin , et ils impactent et priorisent même en famille, le dimanche encore, et servent à leurs gosses la même sagesse qu’à leurs clients avec des phrases recuites du type “Mon job c’est de t’aider à te poser les bonnes questions” ou “L’information, c’est le pouvoir”. Ceux-là ne distinguent plus le monde du travail du monde réel. Le jargon les a pris. La performance est dans leur âme. On les reconnaît à cette sorte de regard planant, cette conviction profonde qui leur donne l’air impliqué des hommes qui savent que les choses doivent être prises au sérieux, mais sans crainte. [Frz. S. 260]

Die Eiferer sind hingegen an einer Art Verbissenheit, einer absoluten Überzeugung zu erkennen. Von morgens bis abends sprechen sie die Sprache des Managements, sie machen einen Impact und setzen ihre Priorities sogar in der Family, auch am Weekend, und überschwemmen ihre Kinder mit abgedroschenen Phrasen wie: »Mein Job ist, dir dabei zu helfen, dass du die richtigen Fragen stellst« oder »In der Information liegt die Macht«. Sie unterscheiden nicht mehr zwischen Arbeitswelt und Realität. Der Jargon hat sie durchdrungen. Die Performance ist ihre Seele. Sie sind an ihrem rastlosen Blick zu erkennen, an ihrer tiefen Überzeugung, die ihnen eine Aura verleiht, als wüssten sie, dass die Dinge mit Ernst anzugehen sind, aber ohne Furcht. [Dt. S. 281]

Anglizismen haben zum Beispiel auf Deutsch eine andere Wirkung im Französischen. Uns fällt es kaum noch auf, wenn random irgendwelche Amerikanismen gedroppt werden. Um eine ähnlich starke Wirkung wie bei Mathieu zu erreichen, können wir deshalb nicht einfach nur hier und da mal ein Meeting abhalten oder ein paar Learnings gewinnen, sondern müssen etwas übertreiben. Natürlich nicht durchgängig im ganzen Text, aber es gibt ja eine Dramaturgie und einen Rhythmus, der auf die passenden Stellen hinweist. Mathieu erzählt in Connemara davon, wie dieses Vokabular, wie Consulting und Écoles de commerce auch mit der politischen Ausrichtung des Landes, mit Macron zusammenhängen. Ein politisches Ereignis, von dem berichtet wird, ist die Präsidentschaftswahl von 2017. Wir haben ja in einer Zeit an dem Text gearbeitet, als die beschriebene Situation der Wahl zwischen Macron und Le Pen sich wiederholt hat. Wie hat sich dieses Déjà-vu angefühlt?

Lena
Hm, recht desillusionierend. In der Regierungspolitik stehen sich im Großen und Ganzen Wirtschaftsliberale, die soziale Sicherheiten abbauen, aber vielleicht ein paar progressive Positionen zu gesellschaftlichen Fragen vertreten, und reaktionäre Rechte gegenüber, die alle vermeintlichen Minderheiten bedrohen und den erwirtschafteten Reichtum ausschließlich irgendwelchen „echten Franzosen“ zugutekommen lassen wollen. Entweder das eine oder das andere, das scheinen die Alternativen oder besser die Alternativlosigkeit zu sein, die Mathieus Roman durchzieht. Ich finde es gelungen, wie Mathieu hier die Zusammenlegung der Regionen in Frankreich als gigantisches neoliberales Unterfangen thematisiert, an dem vor allem die Consultingfirmen verdienen, und den Aufstieg Macrons als Wechsel des politischen Stils beschreibt: Die unhinterfragte Übertragung von Consultingmethoden, dem Vokabular und den Prämissen des Unternehmensmanagements auf die Bereiche des öffentlichen Lebens, Parteienorganisation, Verwaltung, Hochschulen, Ministerien etc.

André
Darin zeigt sich auch, dass die Linke in Frankreich nicht mehr das Gewicht hat wie früher. Wie äußert sich das im Text?

Lena
Naja, ich würde sagen, dass keine der Figuren sich in irgendeiner Weise für eine solidarischere Gesellschaft einsetzt. Sicher, sie ringen darum, auf persönlicher Ebene integer zu bleiben, und haben eine Ahnung davon, ein irgendwie falsches Leben im Falschen zu leben. Der Roman hat ja eine eher resignierte, vielleicht melancholische Stimmung, die vordergründig vom Gefühl des Alterns und des Scheiterns an den eigenen Träumen herrührt, aber ich denke, sie beschreibt auch einen Schmerz, eine spezifische Traurigkeit im Kapitalismus, wo alle zueinander in Konkurrenz stehen müssen. Hélène ist da sicher die ambivalenteste Figur, die vieles durchschaut und aus Gründen der persönlichen Weiterentwicklung beruflich einiges mitverantwortet, hinter dem sie politisch nicht steht.

André
Mich stellen Mathieus Personenbeschreibungen immer wieder vor Probleme. Da gibt es eine Mischung aus Vagheit, unterschwelliger Erotik, fast Vulgarität, die ich schwer zu greifen kriege. Was findest du besonders schwierig an der Mathieuʼschen Sprache?

Lena
Mathieus Romane sind in übersetzerischer Sicht eher ein Langstreckenlauf, sie sind detail- und wortreich, umfassen viele lange Sätze voller Einschübe und Präzisierungen, die sich aber trotzdem flüssig lesen lassen müssen und nicht sperrig sein dürfen. Es gibt hin und wieder auffällige Wendungen und Metaphern, die nicht leicht zu übertragen sind, aber das ist nicht die größte Schwierigkeit. Mein Eindruck ist, dass wir bei jedem Roman von Mathieu erst „Strecke“ machen müssen, um den Ton wirklich zu treffen. Das heißt, wir müssen erstmal hundert Seiten übersetzen, um eine gewisse Steifheit oder Vagheit zu verlieren und mit den einzelnen Figuren vertraut zu werden, mit der Nähe oder Distanz, mit der sie behandelt werden. Der Zoom ändert sich, je nachdem um wen es geht, die Temperatur des Textes ändert sich. Um ein Beispiel zu nennen: Wir hatten uns gerade übersetzerisch mit Consulting-Vokabular beschäftigt, mit Großraumbüros und Beschreibungen der Arbeitswelt, die eher analytisch und soziologisch waren. Im Anschluss habe ich ein Kapitel überarbeitet, in dem es um das Gefühlsleben von Hélène als Teenagerin geht, und es schien mir in der deutschen Fassung ziemlich unterkühlt geraten. Die Sätze waren nicht an sich falsch übersetzt, aber die Wortwahl war stark von analytischer und emotionaler Distanz geprägt und nicht von Intimität und Einfühlung wie im Originaltext. Da haben wir dann bei der Überarbeitung am Temperaturregler gedreht. Insgesamt würde ich Mathieus Stil als eine Art filmischen Realismus beschreiben, das Erzählauge als Kamera, die unterschiedlich nah heranzoomt. Manchmal ist die Kamera vor allem an den weiblichen Hauptfiguren nah dran, sehr intim, fast schon voyeuristisch, was aber auch die Identifikation mit ihnen ermöglicht. Was Mathieus Romane für mich ausmacht, ist dieses Nebeneinander von Makro- und Mikro-Ebene, die Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse einerseits und das Beleuchten persönlicher, öffentlich nicht sichtbarer Spannungen in den Leben der Einzelnen.

IV. Ein Roman der Provinz

Foto: Leo Weyreter

Lena
Auch Connemara spielt wie die Vorgängerromane in der ostfranzösischen Provinz – und das ist relevant für die Figuren und die Handlung. Es ist wichtig, dass es diese ländliche, als etwas abgehängt geltende Gegend ist, wo die Menschen lange Arbeitswege (im Auto) haben und es wenig gut bezahlte Jobs gibt. Stets wird deutlich: Die politischen und kulturellen Zentren sind weit weg. Mir scheint, die Provinz, hier vor allem die Vogesen, bilden im Text aber auch einen (vermeintlichen) Rückzugsort vor der Zentralmacht in Paris und den Zumutungen des Neoliberalismus. Welche Rolle spielt für dich diese Verortung, die Gegend, die Region und die Landschaft?

André
Mathieu gelingt es, eine universelle Provinz zu erschaffen. Einen Ort, der früher vielleicht etwas mehr gewesen war, aber nie außergewöhnlich, nie das Zentrum, nie Paris. Das findet sicher bei vielen Menschen in Deutschland Anklang, wo alles Provinz ist. Es gibt eine Sehnsucht nach Orten, die aus dem Fernsehen bekannt sind, aber die Wirklichkeit, das echte Leben, das Erfahrbare und Normale, das ist ganz anders. Wie du schon sagtest, herrscht im Buch eine etwas resignierte Stimmung.

Hélène versucht, aus dem Erwartungshorizont des Landlebens auszubrechen, ein Star zu werden, auf ihre Weise, und ein Leben zu führen, das sich von dem ihrer Eltern abhebt. Als Jugendliche lässt sie sich vom Vater einer Schulfreundin ideologisch verführen, weil ihre eigenen Eltern einem solchen selbstbewussten, besserwisserischen Auftreten nur veraltete Weisheiten entgegenzusetzen haben. Da sie sich ohnehin schon intellektuell überlegen fühlt, will sie erst recht an die Spitze. In ihren Consulting-Jobs setzt sie Sparmaßnahmen und Entlassungen durch, in Paris und in der Provinz.

Besonders stark finde ich die Verquickung von Provinz und Klasse. Die Elite lebt in Paris, der Rest ist unbedeutend. Hélène wird sich mit der Rückkehr in die Provinz ihrer Bedeutungslosigkeit bewusst. Und ähnlich ergeht es auch Christophe, der noch mit vierzig davon träumt, ein professioneller Eishockeyspieler zu werden. Immer ist da dieser Wunsch, auszubrechen, und das Scheitern, das schon beim Wünschen selbst beginnt. Es ist frustrierend, weil es keinen Ausweg aus dem enormen Konformitätsdruck des universellen Dorfs zu geben scheint, aus der Enge der Normalität, der Küchenweisheiten von Hélènes Mutter. Es ist fast so, als sollte man sich zufrieden geben mit dem scheinbar einfachen Landleben und dem üblichen Gang der Dinge.

Also könnte man sich stoisch dem eigenen Schicksal fügen. Das ist aber auch nicht besser. Die Machtverhältnisse wirken unmittelbar. Die Sparpolitik trifft die Provinz besonders hart, nicht zuletzt durch die Zusammenlegung der Regionen. Die Verwaltung wird schlanker, der Staat tritt den Rückzug an, und die Leute sind mit immer schwächeren sozialen Sicherungssystemen immer aggressiveren Arbeitsbedingungen ausgeliefert.

Und darunter leiden letztlich alle: einerseits der selbstmitleidige Mann, der mit dem Älterwerden nicht klar kommt, andererseits eine toughe Frau, die an Burnout gelitten hat und bei Beförderungen übergangen wird.

Lena
Die Dynamik zwischen diesen beiden Hauptfiguren ist spannend, eben weil sie aus einem ähnlichen Herkunftsmilieu kommen und unterschiedliche Wege genommen haben. Christophe ist in seiner Jugend als Eishockeyspieler ein lokaler Star, hat eine Freundin und seine beiden besten Freunde – und bewegt sich nicht weg aus diesem Leben, in dem er als junger, gutaussehender Typ einige Privilegien genießt. Hélène hingegen fühlt sich in ihrer Jugend oft einsam, zweifelt an sich und ihrem Aussehen und bekommt sozial wenig Anerkennung, außer durch schulische Leistung. Also sucht sie ein besseres Leben für sich im sozialen Aufstieg durch Bildung und Karriere. In der Wiederbegegnung der beiden lassen sich auch geschlechtsspezifische Aspekte von Klassenflucht und Milieuzugehörigkeit erzählen, das habe ich in Romanen noch nicht oft so gelesen. In manche Aspekte des Textes konnte ich mich beim Übersetzen gut einfühlen, beispielsweise den Wunsch, die Provinz und das Herkunftsmilieu hinter sich zu lassen und den Schmerz, sich von nahen Menschen auf diese Weise abzugrenzen. Gab es Aspekte, in die du dich beim Übersetzen gut hineinfühlen konntest – und spielt das für die Textarbeit überhaupt eine Rolle?

André
Bei Connemara konnte ich mich in den Aspekt des Aufwachsens auf dem Land weniger einfühlen als bei Wie später ihre Kinder. Ich frage mich, ob das mit dem zeitlichen Aufbau des Romans zu tun hat. Die Jugend auf dem Land kommt hier als eine Rückblende daher. Wir wissen schon, wie es ausgeht. Dadurch verändert sich die Jugendlandschaft, das Dorf, von dem man weg will. Ich merke, dass die dörfliche Landschaft bei mir emotional mit einer Offenheit zusammenhängt, die gleichzeitig Ungewissheit und Freiheit ist. Ich konnte mich mehr mit dem Frust der Angestellten Hélène identifizieren und die Gespräche mit unaufmerksamen Chefs, die geringe Wertschätzung in bestimmten Arbeitsverhältnissen nachvollziehen.

Ich finde die Frage nach dem Einfühlen aber generell interessant, weil sich gerade bei diesem Text immer die Frage aufdrängt, wie Mathieu als Mann diese Frauenfigur Hélène schreiben konnte und inwieweit es ihm überzeugend gelungen ist. Vielleicht ist Literatur meist Konstruktion und Authentizität eine Illusion. Normalerweise stellt sich die Frage des echten Nachfühlens beim Übersetzen nicht, weil Übersetzen nicht als unmittelbarer Ausfluss aus dem Gefühlsleben der Übersetzerin verstanden wird. Wir konstruieren auch immer, müssen aber dabei im Hinterkopf behalten, dass uns unsere Erfahrungen, Emotionen und subjektiven Eindrücke prägen. Nicht weil sonst der Vorwurf der Verfälschung im Raum stünde. Was ist in der Literatur denn schon richtig und falsch? Wir sollten uns nur nicht zu sehr von unserer eigenen Biografie einschränken lassen.

Es heißt immer, die Wirkung einer Übersetzung auf zielsprachliche Publika soll der Wirkung auf ausgangssprachliche Publika entsprechen. In dieser scheinbaren Gleichung gibt es mir aber zu viele unbekannte Größen. Wir sind erst einmal nur zwei Einzelpersonen, auf die der Text wirkt, und müssen entscheiden, was wir damit machen. Wir müssen uns überlegen, für wen wir schreiben, und das sind natürlich nicht die Leser·innen des Originals. Die brauchen keine Übersetzung. Welchen Maßstab setzen wir also an? Welche Aspekte gewichten wir und welche lassen wir unter den Tisch fallen? Was erfinden wir hinzu? Das geht natürlich nicht ohne Einfühlung, aber je länger ich diesen Beruf mache, desto häufiger frage ich mich, für wen wir die Arbeit eigentlich machen. Die Vielleserin, die ihren Ruhestand mit Büchern verbringt? Jugendliche, die sich für Literatur begeistern sollen? Autor·innen, die aus unserer Arbeit inhaltlich, aber vielleicht auch sprachlich Inspiration gewinnen könnten?

Lena
Gute Frage, über die ich erstaunlicher Weise noch gar nicht viel nachgedacht habe: Für wen übersetzen wir eigentlich? Zumindest sind es, was die Verkaufszahlen angeht, ja bisher recht viele Leser·innen, die Mathieus Romane auf Deutsch lesen wollen. Gibt es denn Aspekte, in denen dich dieser Roman enttäuscht hat? Etwas, was du vermisst hast?

André
Ja, definitiv. Das gehört aber zu Mathieus Strategie. Bei Wie später ihre Kinder gibt es diese eine Sexszene, in der dreimal betont wird, dass sie das Kondom vergessen haben. Da werden Plots von Teenagerschwangerschaften, möglicherweise Abtreibung, jedenfalls ganz großen Dramen aufgerufen. Was passiert bei Mathieu? Nichts. Es wird nicht mehr erwähnt. Vielleicht geschieht hinter den Kulissen irgendetwas, aber es ist für den Roman nicht von Belang.

Die gleiche Strategie verfolgt Mathieu auch in Connemara. Immer wieder wird das scheinbar Banale betont, der vierzigjährige Familienvater, der merkt, dass er keine zwanzig mehr ist. Es scheint kein Entrinnen und keine Alternativen zu geben. Dabei ist das Romanuniversum voller solcher Alternativen, und die Einschränkung der Perspektive verweist darauf, dass zumindest ein Element des Unglücklichseins dieser gewöhnlichen, einfachen, normalen Menschen auch darin begründet liegt, dass sie einen bestimmten Horizont nicht überschreiten.

Dabei ist gar nicht bekannt, ob die Alternativen so toll sind. Es gibt den rebellischen Bruder von Christophe, über den nur in einer Rückblende erzählt wird. Ihm gelingt der Ausbruch aus dem Dorf und der Familie. Er schafft es im Gegensatz zu Christophe, sich vom Vater zu emanzipieren. Es scheint ein Leben da draußen zu geben. Aber die Geschichten der Außenseiter, der Abtrünnigen und Paradiesvögel interessieren in diesem Roman nicht. Es bleibt deprimierend normal, das Leben der „normalen Leute“.

Vielleicht interessiert sich Mathieu eher für repräsentative Figuren, an denen sich gesellschaftliche Phänomen exemplifizieren lassen, die über die Einzelnen hinausgehen. Das hätte er mit den Gesellschaftsromanen des 19. Jahrhunderts gemein. Teilweise wird er ja auch als der nächste Balzac oder Zola bezeichnet. Zu Recht?

Lena
In gewisser Weise sind die Vergleiche naheliegend, weil beide dem literarischen Realismus verpflichtet waren und es anstrebten, durch ihre Figuren ein Gesamtbild der französischen Gesellschaft ihrer Zeit zu zeichnen. Vielleicht ist ein naheliegender Vergleich Flauberts Madame Bovary: die Darstellung der Mühen und Fallstricke des Lebens einer weiblichen Heldin, ohne dass sie ein tragischer Ausnahmecharakter sein muss, und das Verschwimmen der Grenzen zwischen Erzählerstimme und Figurenstimme.

André
Wie wirkt sich dieser Vergleich mit großen Klassikern der Literatur auf unsere Übersetzungspraxis aus?

Lena
Ich würde sagen: kaum. Ich habe nie Balzac oder Zola oder Flaubert übersetzt, deshalb kann ich nicht sagen, ob es im Detail tatsächlich Ähnlichkeiten gibt. Übersetzen ist erst einmal die Arbeit am einzelnen Text, die Arbeit mit dem, was da steht. Wenn eine Szene in einem Buch besonders gut gelungen ist – und es gibt in Connemara einige davon –, verbinden sich die Beschreibungen, die gewählten Formulierungen, der Rhythmus der Sätze, die Emotionen der Figuren und die Zeitdiagnose zu einem Ganzen, es entsteht beim Lesen ein Sog und vielleicht so etwas wie eine Erkenntnis, die mich auf intellektueller und emotionaler Ebene fesselt. Richtig gute literarische Momente eben. Aber wer weiß: Werden die Romane von Nicolas Mathieu in hundert Jahren zu einem wie auch immer erzeugten Kanon gehören und eine Fundgrube für Sozialhistoriker·innen fürs Leben, Arbeiten und Lieben im neoliberalen Zeitalter sein? Dann hoffentlich als Blick zurück aus der Perspektive einer Gesellschaft mit anderen, gelingenderen Beziehungs-, Arbeits- und Wirtschaftsweisen…

 

 

Fußnoten
1
Leseprobe PDF

©privat

Lena Müller, geboren 1982 in Berlin, studierte Literarisches Schreiben und Kulturwissenschaften in Hildesheim und Paris. Sie übersetzt literarische Texte aus dem Französischen, u.a. von Shumona Sinha, Nicolas Mathieu und Fiston Mwanza Mujila, und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Sie war Mitherausgeberin der französischsprachigen feministischen Zeitschrift timult. Sie schrieb mehrere Hörspiele u.a. für RBB, NDR und SWR. Im März 2021 erschien ihr erster Roman Restlöcher bei der Edition Nautilus.
 

André Hansen, geboren 1985 in Rostock, studierte Komparatistik und Französisch in Mainz, Dijon und Bologna. Er übersetzt Belletristik und Sachtexte, u.a. von Mahir Guven, Nicolas Mathieu und Thomas Piketty. Er nahm mit einem eigenen Romanprojekt an der Berliner Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums teil und erhielt für dieses Projekt ein Berliner Senatsstipendium Literatur. 2020 wurde er mit dem Förderpreis des Straelener Übersetzerpreises der Kunststiftung NRW ausgezeichnet.

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