Journale Lyrik Rasant rhythmisierte Stürze

Rasant rhythmisierte Stürze

Journal zur Übersetzung von Stefano Massinis Die Lehman Brothers

I. FORM UND SPRACHE, RHYTHMUS UND MUSIKALISCHE STRUKTUR
  1. Musikalisch-literarische Tempi
Accelerando, Prestissimo:
Largo, molto lento:
  2. Literarische Gestaltung von Fakten und Figuren
  3. Abstürze
Die McCarthy-Ära
  4. Der schwarze Donnerstag
II. RECHERCHE
  1. Die Lehmans sind Juden
  2. Die Lehmans sind eine große Familie  
  3. Die Lehmans sind Zwischenhändler und Investoren
  4. Die Lehmans sind eine Investmentbank und ein börsennotiertes Unternehmen
  5. Die Lehmans sind Amerikaner
III. DIE RECHERCHEFALLE
  1. Drei Seiten aus Filmzitaten
  2. Ketzerische Gedanken

„Romanzo/ballata“, eine Romanballade nennt der Autor sein in reimlosen, freien Versen geschriebenes Epos vom Aufstieg und Fall der Familie Lehman, deren Bank Lehman-Brothers 2008 mit ihrer Insolvenz eine weltweite Wirtschaftskrise auslöste. Eine gut 800 Seiten starke Familiensaga über vier Generationen und 160 Jahre amerikanische Geschichte, eine Reise durch die industrielle Revolution, die in den Finanzkapitalismus mündet.1 Alles beginnt 1844 mit der Ankunft in New York des jungen Heyum Lehmann (in Amerika sofort Henry Lehmann), Sohn des bayrischen Viehhändlers Abraham Löw Lehmann. Der rasante Aufstieg der ersten drei Lehman-Brüder von Tuchwarenverkäufern zu Baumwollgroßhändlern in Alabama, ihrer Söhne zu Industriemagnaten in New York und ihrer Enkel zu Bankern und schließlich zu Global Playern der Finanzwirtschaft endet mit dem Zusammenbruch der Lehman-Bank.

Diese Romanballade hat nicht nur musikalische Strukturen mit Leitmotiven und wechselnden Tempi, sie experimentiert auch mit unterschiedlichen Genres. Es gibt Kapitel in Form von Filmskripts und Comic-Strips, Sportreportagen und Fernsehquizshows. Dazu Passagen aus algebraischen Formeln, seitenlange Notierungen von Börsenkursen und Dialoge, die nur aus Filmzitaten bestehen. Eingestreut sind hohe jüdische Festtage, biblische Texte, hebräische Gebetsformeln, Rituale in der Synagoge, Vorschriften aus dem Talmud und der Mischna. Denn die Lehmans blieben lange Zeit fromme Juden und waren geschäftlich wie privat eng mit anderen jüdischen Bankiersdynastien wie Goldman, Sachs, Rothschild, Altschul und Lewisohn verbunden. Die allen gemeinsame Amerikanisierung wird auch anhand der Kapitelüberschriften aus jiddischen oder hebräischen Wendungen illustriert, die schließlich in amerikanische Titel übergehen. Das Glossar hebräischer und jiddischer Wendungen umfasst zehn Seiten.

Lehman Trilogy, war ursprünglich ein Theaterstück. Es wurde 2013 in französischer Übersetzung uraufgeführt, kam 2015 unter der Regie von Luca Ronconi an das Piccolo Teatro in Mailand, dann auf viele Bühnen Europas und nach Amerika. 2021 wurde es am Broadway neu inszeniert, hier ein Ausschnitt:

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The Lehman Trilogy on Broadway | Show Clips

Das Stück wurde in 24 Sprachen übersetzt. Der Roman behält die Dreiteilung des Theaterstücks bei, die Titel der drei Bücher lauten: Drei Brüder, Väter und Söhne, Der Unsterbliche.

Diese Übersetzungsarbeit mit ihren ganz besonderen Herausforderungen hat mir viel Spaß gemacht und mich durch das Jahr 2020 gerettet. In diesem Jahr gab es ja kaum Ablenkungen und andere Verpflichtungen, ich hatte genug Zeit, in den zahllosen Quellen zu Lehman Brothers zu recherchieren und meine Übersetzung immer wieder zu lesen, um am Rhythmus zu feilen.

Damit hätte ich endlos weitermachen können, und auch jetzt noch, da ich für dieses Journal zu rekapitulieren versuche, wie die Übersetzung entstanden ist und nach Beispielen suche, juckt es mich in den Fingern, die Verszeilen wieder umzustellen, noch mehr zu kürzen, andere klangliche Elemente einzubauen.

I. FORM UND SPRACHE, RHYTHMUS UND MUSIKALISCHE STRUKTUR

„Die Lehman Brothers“ beabsichtigt keine historisch exakte Darstellung vom Aufstieg und Fall der Lehman-Dynastie. Es ist ein literarischer Text, der mit formalen und sprachlichen Stilmitteln arbeitet und historische Fakten wie reale Figuren literarisch gestaltet. Genau das kann allerdings zur Falle für die allzu skrupulöse Übersetzerin werden, wie man weiter unten sehen wird.

Ein Roman in Versen, das bedeutet für die Übersetzung: Die Form ist hier vom Inhalt nicht zu trennen, sie ist ebenfalls Inhalt. Denn der Zeilenfall ist semantisch, er erzeugt Bedeutung, die sich, ebenso wie beim Enjambement, auf die umliegenden Zeilen überträgt. In diesem Versepos entsteht durch den Zeilenfall ein Rhythmus, und da wir es mit einer Ballade zu tun haben, liegt der Gedanke an musikalische Tempi für die unterschiedlichen Rhythmen nahe. Dazu weiter unten ein paar Beispiele. Der Anfang liest sich so:

1. Kapitel

Luftmensch

Sohn eines Viehhändlers
beschnittener Jude
nur einen Koffer neben sich
steht er reglos
wie ein Telegrafenmast
auf dem Pier number four im Hafen von New York.
Wir sind angekommen, Gott sei’s gedankt:
Baruch HaSchem!
Wir sind aufgebrochen, Gott sei’s gedankt:
Baruch HaSchem!
Wir sind endlich da, Gott sei’s gedankt
hier in Amerika.
Baruch HaSchem!
Baruch HaSchem!
Baruch HaSchem!

Schreiende Kinder
Träger mit schwerem Gepäck
Kreischen von Eisen und Knarren von Karren
mittendrin                 
er
reglos
soeben vom Schiff gegangen
an den Füßen die besten Schuhe
nie getragen
aufbewahrt für den Moment »wenn ich in Amerika bin«.

(…)

Acht Kilo abgenommen
in anderthalb Monaten Überfahrt.
Ein dichter Bart
dichter als beim Rabbiner
nie rasiert
in diesen 45 Tagen rauf und runter
       zwischen Hängematte Koje Deck
       Deck Koje Hängematte.
Abstinenzler bei der Abfahrt in Le Havre
geübter Trinker bei der Ankunft in New York
kann beim ersten Schluck unterscheiden
Brandy von Rum
Gin von Cognac
italienischen Wein und irisches Bier.
Laie im Kartenspiel bei der Abfahrt.
Meister im Wetten und Würfeln bei der Ankunft.
Schüchtern, schweigsam, grüblerisch abgefahren
angekommen und glaubt die Welt zu kennen:
die Ironie der Franzosen
die spanische Fiesta
den flackernden Stolz italienischer Schiffsjungen.
Abgefahren, Amerika als fixe Idee im Kopf
angekommen, hat er Amerika vor sich
doch nicht mehr in Gedanken – vor den Augen.
Baruch HaSchem!

Den Rhythmus möglichst zu erhalten, auch im Deutschen einen Rhythmus entstehen zu lassen, das war mir beim Übersetzen besonders wichtig. Ein Metrum ist im Original nicht vorgegeben. Meine Richtschnur war das rhythmische Sprechen. Immer wieder habe ich die übersetzten Verse laut gelesen, auf betonte und unbetonte Silben geachtet. Um den Rhythmus vor allem in fließenden, schnellen Passagen nicht stocken zu lassen, habe ich fast immer auf die Interpunktion in den Versen und am Zeilenende verzichtet und sie nur dort stehenlassen, wo eine kurze Sprechpause für das Verständnis nötig ist. Wegen der unterschiedlichen Syntax des Deutschen und Italienischen musste ich die Verszeilen oft umstellen, also den Zeilenfall ändern, ohne dass die Lesbarkeit litt, die das Original deutlich beabsichtigt. Kürze, Knappheit war mein wichtiges Kriterium. Jeder Vers sollte möglichst kurz sein. Denn das Original ist meist in dem rasenden Tempo gehalten, in dem die Lehmans unglaublich reich wurden, sich als unantastbare Herrscher über die weltweite Finanzwirtschaft fühlten und ebenso rasant wieder von ihrem hohen Thron stürzten. Darum habe ich das italienische Perfekt oft ins Imperfekt oder Präsens verwandelt. Hier ein Beispiel für Kürzung und eins für Umstellung:

 

Tarda mattina di Rosh ha-Shanà.          
Il secchio di vernice appoggiato per strada
davanti all’ingresso del negozio
davanti a quella porta                            
che ancora la maniglia s’incastra.

Zunächst habe ich immer eng am Original übersetzt:

Später Vormittag an Rosch Haschana.
Der Eimer mit Farbe auf die Straße gestellt
vor dem Eingang des Ladens
vor dieser Tür
wo die Klinke noch immer klemmt.

Der erste elliptische Vers gibt schon den Rhythmus vor, auch in den folgenden Versen fehlen Satzteile. Im Deutschen geht es dank der Komposita kürzer, und dass der Farbeimer auf der Straße abgestellt wurde, erschließt sich aus seiner Position vor der Ladentür. Das „che“ im letzten Vers könnte auch „weil“ bedeuten. Ich wollte „Klinke“ und „klemmt“ aber wegen der Alliteration zusammenrücken. Das mit dürren Worten gezeichnete Bild entspricht der Atmosphäre in diesem Kapitel: Vor kurzem sind Henrys jüngere Brüder Emanuel und Mayer in Alabama angekommen. Nun malen sie ein neues Ladenschild – „LEHMAN BROTHERS“ – doch die Stimmung zwischen den drei Brüdern ist angespannt, noch sind die Aufgaben und Rollen nicht verteilt. Es herrscht ein verbissenes Schweigen. Darum sieht dieser Passus bei mir so aus:  

Später Vormittag an Rosch Haschana.
Farbeimer auf der Straße
vor dem Laden
vor der Tür
die Klinke klemmt noch immer.

Bei diesem Beispiel konnte ich durch Umstellung der Zeilen die Wirkung des Verses „und hatte sich das Genick gebrochen“ verstärken.

un bambino irlandese che le si era ardentemente dichiarato 
chiedendole – a sei anni – di sposarla   
si era rotto l’osso del collo, scivolando sulla scala d’ingresso,            
un attimo dopo che Sissy
consultata la sua bambola       
gli aveva chiesto il tempo di pensarci.  

Ein irischer Junge, der ihr inbrünstig seine Liebe erklärt
und ihr – mit sechs – einen Heiratsantrag gemacht hatte
war unmittelbar nachdem Sissy
– sie musste noch schnell ihre Puppe befragen –
sich Zeit zum Nachdenken erbeten hatte
auf der Treppe ausgerutscht
und hatte sich das Genick gebrochen.

  1. Musikalisch-literarische Tempi

Einige Kapitel der Ballade sind in einem prägnanten Rhythmus gehalten. Hier passen musikalische Tempi als Vortragsbezeichnung:

Accelerando, Prestissimo:

Die Lehmans feiern Chanukka, da platzt der Vorarbeiter einer der Baumwollplantagen ins Haus und ruft „Feuer auf den Plantagen! Es brennt!“

Sie laufen auf die Straße
Henry Emanuel und Mayer
im Dunkel der Nacht
nicht dunkel, nein, taghell
sie laufen auf die Straße
Henry, Emanuel und Mayer
in der Luft, im Wind
überall Rauch
der in den Augen brennt
und Karren rasen wie verrückt
durch die Straßen, wie verrückt
Menschen mit Eimern, Männer, Kinder
Rauch in der Luft
in der Kehle in der Nase
– Henry, Emanuel und Mayer –
»Alles brennt drüben auf den Feldern!«


Die Schlafplätze der Sklaven
die Lager, die Hütten
ganz Montgomery ist auf der Straße
ganz Montgomery rennt
– Henry, Emanuel und Mayer –
»Vier, fünf Plantagen brennen! Alles in Flammen!«
Rauchsäulen 40 Meter hoch
wie die Kirchtürme drüben in Bayern
dichter Rauch, undurchdringlich, kompakt
wie der Rauch auf den Schiffen von Europa nach Baltimore
die Mayer Bulbe noch immer im Traum sieht.
Sogar die Nacht hat sich rot gefärbt
angemalt wie das Ladenschild
die Hauswände, die Straße
Lichtreflexe
Blitze
ohrenbetäubende Explosionen dort hinten
wohin sie laufen um zu helfen
andere fliehen
retten sich
Kinder im Arm
halbnackt
Männer und Frauen
Weiße Schwarze auf der Flucht
stürzen zu Boden
ohnmächtig
man kriegt keine Luft
Rauch in der Kehle
in der Nase
den Augen
»Alles verbrennt, alles, die Baumwolle ist verloren!«
Die Pferde scheuen
im Rauch
stürzende Kutschen
schlingernde Karren
splitternde Räder
»Lauft zum Fluss! Den Kanälen – Wasser!«
Der Lärm ringsum
ist ein Donnergrollen
entsetzlich laut
hallt es wider
dröhnt
zwischen den Wänden
den Fenstern
»Alles verbrennt, alles, die Baumwolle ist verloren!«
Staub Asche
wie Regen von oben
grau rot schwarz weiß
Flammen wie Schwerter am Himmel
– Henry Emanuel und Mayer –
Verletzte, auf dem Rücken getragen
durchweichte Verbände
verbrannte Beine Arme Köpfe
heiße Luft, Hitze
»Wind kommt auf – er facht die Flammen an!«
»Zum Fluss! Zum Fluss! Bringt Wasser!«

Largo, molto lento:

Es ist der Festtag Jom Kippur, unmittelbar nach dem Sezessionskrieg. Henry, der älteste Bruder, ist früh gestorben. Emanuel lebt bereits in New York, er hat die Armee der Nordstaaten unterstützt, Mayer, der noch in Alabama wohnt, die Konföderation der Südstaaten.

Alles steht still.
Nichts bewegt sich.
Ist das Ende der Welt gekommen?

Die Pendeluhr
wirft
tickend
einen gelben Lichthof
auf die Tapete.

Die Stille ist verheerend.
Nicht mal die Vögel
dort draußen
geben noch Laute von sich
sie haben ihre Stimme verloren
sahen zu viele Feuer und Flammen
bis zum Horizont
überall.

Die Vorhänge
aus erlesener Baumwolle
von Tante Rose genäht
sind zurückgezogen
vor den weit geöffneten Fenstern
aber unbewegt
kein Lüftchen regt sich.

Alles steht still.
Nichts bewegt sich.
Ist das Ende der Welt gekommen?
Diese unwirkliche Ruhe
klebt wie Leim
an den Möbeln
an den Teppichen
an den Stuckaturen
des großen Hauses in der Hauptstraße von Montgomery
das belagert war
erst von den Soldaten
jetzt von der Stille

Alles schweigt
an diesem Nachmittag
von Jom Kippur
an dem man seine Sünden gesteht
und im Tempel der Schofar erklingt.
Heute nicht.
Heute bleibt er stumm.
Die Stille ist an der Macht
und wehe, sie wird besudelt.

Emanuel Lehman
steht
neben dem Klavier.
Dunkler Anzug.
Seit der Krieg begann
ward er hier in Alabama
nicht mehr gesehen.
Er füllt Tabak in seine Pfeife.
Drückt ihn mit dem Daumen fest.
Zündet ihn an.
Bläst. Inhaliert.
Stößt aus der Nase
eine Rauchspirale
die sich hinauf
zum Kronleuchter windet.

Mayer Lehman
sitzt auf dem Sofa
mehrere Meter entfernt
zählt die Bohlen des Parketts
unter den Stühlen
unter dem Tisch
entlang der Wände
aufmerksam
konzentriert
ohne sich zu verzählen
ohne sich ablenken zu lassen.

Früher oder später
wird einer der beiden
wohl anfangen müssen
an diesem Nachmittag
von Jom Kippur
an dem man seine Sünden gesteht
und wenn der Ewige will
wird dir verziehen.

Klangliche Elemente wie Binnenreime, Assonanzen und Alliterationen sollten die musikalische Anmutung verstärken:

Kreischen von Eisen und Knarren von Karren
wo aus Baumwolle Banknoten werden
zwischen Schwaden von Braten und Strömen von Likör
die Klinke klemmt
Intuition einer Knolle - Ambition einer Knolle - Passion einer Knolle
zischt zwischen den Zähnen
bärtige Berserker
pikiert/amüsiert/indigniert/interessiert
was sich zumeist als Unheil erweist

Massini arbeitet oft mit wortwörtlichen Wiederholungen. Musikalisch ausgedrückt sind sie Leitmotive, die die Figuren charakterisieren und wiederkehrende Situationen kennzeichnen:

Für Henry, den ersten Lehman in Amerika, ist eine bestimme Position charakteristisch:

Seduto sul davanzale della finestra aperta,            
con le gambe rannicchiate      
e un braccio sollevato a reggersi la nuca. 

Am offenen Fenster auf dem Fensterbrett sitzend
die Beine angezogen
den Arm als Stütze im Nacken.

Nach seinem frühen Tod erinnert diese Haltung an ihn. Fünfmal suchen Emanuel und Mayer ihren Bruder vergeblich am Fenster:

e nell’aria un vago sentore     
che ci sia anche qualcun altro                               
sul davanzale della finestra aperta,        
con le gambe rannicchiate      
e un braccio sollevato a reggersi la nuca.

und in der Luft das vage Gefühl
dass jemand dabei war
am offenen Fenster auf dem Fensterbrett sitzend
die Beine angezogen
den Arm als Stütze im Nacken.

Bis der stumme Dreidel, Henrys Sohn, dieselbe Stellung einnimmt und sich damit als Nachfolger seines Vaters qualifiziert:

Sta fermo seduto                                  
sul davanzale della finestra aperta,        
con le gambe rannicchiate      
e un braccio sollevato a reggersi la nuca.

Er sitzt reglos
am offenen Fenster auf dem Fensterbrett
die Beine angezogen,
den Arm als Stütze im Nacken.

Herbert Lehman, Mayers Sohn, der 1950 als Demokrat in den Senat gewählt wurde, erweist sich schon früh als politisch denkender Mensch. Den kleinen Jungen ärgert jede Ungerechtigkeit, zum Beispiel, dass sein Cousin Philip in der Synagoge in der ersten Reihe neben dem Rabbi sitzen darf:

Herbert                   
ha detto senza mezze parole   
che decisamente non è d’accordo          
su questo fatto che Philip, lui solo,                       
stia seduto venti file avanti.    
Per Herbert insomma             
il problema è di fondo,           
e dunque una questione politica

Herbert
hat geradeheraus erklärt
er sei absolut nicht einverstanden
damit, dass Philip, nur er allein
zwanzig Reihen weiter vorn sitzt.
Für Herbert
ist das ein grundsätzliches Problem
also eine politische Frage

Fortan wird für ihn alles zu einem grundsätzlichen Problem, also zu einer politischen Frage. Das wiederholt sich sehr oft, auch in der jüdischen Schule hat Herbert theologisch-politische Einwände:

Non sono d’accordo con nessuna delle piaghe, ecco.
A dire il vero non sono d’accordo proprio            
Con la posizione di HaShem. 
Il problema è di fondo, rabbino,            
e diventa una questione politica:            
perché massacrare il popolo d’Egitto     
che non aveva colpa?

Eigentlich bin ich mit keiner der Plagen einverstanden.
Um die Wahrheit zu sagen, bin ich nicht einverstanden
mit der Haltung von HaSchem.
Das Problem ist grundsätzlicher Art
und wird so zu einer politischen Frage:
Warum das Volk der Ägypter quälen
das gar keine Schuld trägt?

Der eloquente Philip, Emanuels Sohn, hält endlose Reden und brüskiert sein Gegenüber am Schluss stets mit einer bestimmten Wendung. Im ersten Beispiel geht es darum, den Rabbi davon zu überzeugen, dass die Lehmans aufgrund ihrer finanziellen Unterstützung der jüdischen Gemeinde einen Platz weiter vorn in der Synagoge verdient haben:

und ich bin, wie Ihr, verehrter Rabbi, so fest davon überzeugt
dass ich, Eure Zustimmung selbstverständlich voraussetzend
dem Schammes sagen werde, er soll uns Lehmans
von der dreiundzwanzigsten Reihe
mindestens in die fünfzehnte vorrücken lassen.
Womit ich mich empfehle, wenn Ihr erlaubt, verehrter Rabbi
und mich verabschiede
da ich erwartet werde.
Auf Wiedersehen.

Später kommt noch eine bissige, rhetorische Volte dazu:

Wenn Ihr aber lieber Kaffeebohnen zählt statt Millionen
erspare ich Euch die Verlegenheit, es zugeben zu müssen
womit ich mich empfehle, verehrter Herr Vater
und mich von Euch verabschiede
da ich erwartet werde.

Auch, als er seinen Schwiegervater in spe überredet, in die Hochzeit mit seiner Tochter einzuwilligen:

Wenn Sie mit mir übereinstimmen
können wir uns einer würdigen Hochzeitsfeier widmen.
Ziehen Sie hingegen vor auf was weiß ich zu warten
erspare ich Ihnen die Verlegenheit es mir sagen zu müssen
womit ich mich empfehle
wenn Sie erlauben
verehrter Mister Lauer
und mich von Ihnen verabschiede
da ich erwartet werde.

Die leitmotivischen Wiederholungen mussten identisch sein – was eine langwierige, von Vermutungen geleitete Suche im über 800 Seiten starken Original erforderte. Aber es gibt auch charakteristische Variationen: Ein wiederkehrendes Handlungselement sind die Todesfälle in der Familie. Hier zeigen die Variationen, dass die Lehmans sich zunehmend von den jüdischen Traditionen entfernen.

Sehr früh, noch in Alabama, stirbt Henry, der älteste Lehman, am Gelbfieber:

Sie befolgen alle Vorschriften, sie waren sich einig:
Schiwa und Schloschim
wie drüben in Deutschland
alle Vorschriften als wären wir in Rimpar, Bayern.
Eine Woche lang nicht aus dem Haus gehen.
Kein Essen kochen, die Nachbarn drum bitten
es annehmen, mehr nicht.
Sie haben einen Anzug zerrissen, wie vorgeschrieben
haben ihn in Fetzen zerrissen als sie zurückkamen
von der Bestattung
auf dem alten Friedhof.

Emanuel, sein Bruder, stirbt viel später, als die Familie schon lange in New York lebt:

Denn die Familie Lehman
wird alle Vorschriften befolgen
so haben sie beschlossen:
Schiwa und Schloschim
wie sie es drüben in Europa hielten
alle Vorschriften
als wären wir Juden in Bayern.
Eine Woche lang nicht aus dem Haus gehen.
Kein Essen kochen, die Nachbarn drum bitten
es annehmen, mehr nicht.
Sie haben einen Anzug zerrissen, wie vorgeschrieben
haben ihn in Fetzen gerissen als sie zurückkamen
von der Bestattung
auf dem alten Friedhof.


(…)
Alles, wie das Gesetz es vorschreibt
alles wie in Rimpar bei den Bayern
obwohl sich heute
nur noch einer
wirklich daran erinnert
wie es war.

Beim Tod von Philip Lehman 1947 ist alles anders:

Nicht mal den Bart
haben sie sich wachsen lassen
den berühmten Trauerbart
von Schiwa und Schloschim
den ungepflegten Bart
wie es Brauch war drüben in Deutschland
vor einem Jahrhundert
bevor diese drei Brüder abreisten
die jetzt gerahmt an der Wand hängen
und wer weiß, ob Rimpar
nach Hitlers Ende
noch steht
oder dem Erdboden gleichgemacht wurde.
Der Ritus schreibt vor, eine Woche im Haus zu bleiben.
Nicht auszudenken!
Als könnte die Wirtschaft stillhalten und warten.
Wir müssen die halbe Welt wieder auf die Beine bringen
und das alles besorgt Amerika.
Lehman Brothers unterschreibt jetzt
Verträge auf der ganzen Welt
denn der Krieg war ein business
aber ein größeres wird der Wiederaufbau sein.


(…)
Der Ritus schreibt vor, einen Anzug zu zerreißen
ihn in Fetzen zu reißen, wenn man heimkommt
von der Beerdigung
auf dem alten Friedhof.
Nicht auszudenken!
Das ist Folklore
(…)
Die Lehmans sind jetzt amerikanisches Blut
wer kennt sie denn noch, die Rituale von Europa?
Reformjuden sind sie, wie sie gerne betonen.
Als wollten sie sagen: »Wir haben eigene Bräuche.
Bei unseren Bräuchen zerreißt man keine Kleider.

Natürlich verändert sich auch die Ausdrucksweise des Lehman-Personals im Lauf der Geschichte. Die Enkelgeneration, die im 20. Jahrhundert in New York geboren wird, spricht anders als ihre Großväter Henry, Mayer und Emanuel um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Im „turbulenten“ Dawid zum Beispiel brennt ein Feuer, das hektische Knappheit des Ausdrucks erfordert:

Ehilà! Zio! Salve!                  
Ehilà! Che ne dite? Pioverà?  
Uscite? No? Eh?                    
Restate? Sì? Io? Mah!                           
La cena? Mia madre? Ehilà?                 
Il cavallo? Dov’è?  
Io parto! A stasera!                
Ehilà! State bene! Bye bye!”

»Heda! Onkel! Hallo!
Heda! Was sagt Ihr? Wird’s regnen?
Ihr geht aus? Nicht? Was?
Ihr bleibt? Ja? Ich? Naja!
Abendessen? Meine Mutter? Heda!
Das Pferd? Wo?
Bin weg! Bis heut Abend!
Heda! Macht’s gut! Bye bye!«

  2. Literarische Gestaltung von Fakten und Figuren

Meist ergaben meine Recherchen, dass die von Massini erzählten Fakten zuverlässig sind, sie zeigten aber auch seinen freien Umgang mit den Charakteren, z.B. mit Robert (Bobbie) Lehman, dem Sohn des überaus ehrgeizigen und erfolgreichen Philip Lehman, „the golden Philip“. Bobbie reist nach seinem Abschluss in Yale durch Europa und kauft Kunstwerke. Tatsächlich wurde Robert Lehmans Kunstsammlung mehrmals ausgestellt.2 Massinis literarische Anverwandlung der Figur aber macht aus Bobbies Kunstbegeisterung ein Trauma für seinen Vater (s. u.). Umgekehrt werden die Bilder der biblischen Patriarchen, die Philip in Bobbies Kinderzimmer aufgehängt hatte, für Bobbie zur „Patriarchen-Psychose“ (s. u.).

Die fiktionalen Passagen prägt oft ein ironischer Grundton, den ich an diesem Autor schon kennen und schätzen gelernt hatte. Es ist eine liebevolle Ironie, mit der Massini sich vor allem den schwächeren Familienmitgliedern widmet. Er erzählt von ihren Ängsten, ihrer Exzentrik und davon, wie sie entweder wegen unmoralischen Verhaltens aus der Familie ausgeschlossen werden oder man ihnen den sanftmütigen Charakter mittels Psychoterror austreibt, damit sie Nachfolger ihrer skrupellosen Väter werden können. Diese Kapitel sind völlig fiktiv, aber so gestaltet, dass die „Versager“ einem besonders ans Herz wachsen.

  3. Abstürze

Die Gier der Lehmans, ihre Maßlosigkeit3 grundiert schon den zweiten, vor allem aber den dritten Teil. Nicht zufällig sind die Träume der Lehmans durchweg Alpträume. Sie sind mit jüdischen Festtagen und biblischen Geschichten verbunden, und immer stürzen hier kühne Konstruktionen zusammen: Emanuel träumt, dass er und sein Bruder Mayer als Kinder einen Turm aus Münzen bauen, Emanuel klettert hinauf, und als der Himmel aufreißt wie an Schawuot, kommt ein Zug auf ihn zu, überfährt ihn, und er stürzt in die Tiefe. Philip träumt, er baut an Sukkot eine Laubhütte, die einstürzt, weil sein Sohn Bobbie alle in Europa erworbenen Kunstwerke auf dem Dach der Hütte aufhäuft. Im Kapitel mit der hebräischen Überschrift „Migdol Bavel“, Turm zu Babel, sieht Bobbie, der in der erfolgreichsten Zeit der Lehman Brothers „die Welt und die Bank in der Hand hält“ im Traum eine Menge Investoren aus aller Welt mit Aktenkoffern am Eingang zum Firmensitz Schlange stehen. Bobbie befiehlt ihnen, auf dem Dach aus ihren Aktenkoffern („prallvoll mit Wertpapieren und Verträgen“) einen Turm zu bauen. Aber der Turm stürzt ein, weil sie verschiedene Sprachen sprechen. Daraufhin sucht Bobbie nach einer „einzigen“ Sprache für die weltweiten Finanzmärkte und stellt zwei junge Männer ein, die ihm „eine Computersprache für die ganze Welt“ versprechen – und später für den Absturz der Bank verantwortlich sind.

Ein anderes Sinnbild für Abstürze und für das Schicksal der Lehmans ist die Figur des Seiltänzers Solomon Paprinskij, der fünfzig Jahre lang jeden Tag direkt vor der Börse an der Wall Street sein Seil aufspannt und darüber balanciert, ohne je zu fallen. „The Fall“ heißt das Kapitel, in dem er vom Seil stürzt, und das geschieht am Donnerstag, dem 24. Oktober 1929.

Die McCarthy-Ära

Literarisch besonders originell gestaltet ist die McCarthy-Ära: Für seine Darstellung der hysterischen Suche McCarthys nach vermeintlichen Kommunisten, der Hexenjagd, der denunziatorischen Stimmung im Land benutzt Massini zwei unterschiedliche Stilmittel:

Harold und Allan, die ehrgeizigen, kaltherzigen Söhne des sanften Sigmund, bitten die Angestellten der Bank zum Gespräch und erkennen in den unschuldigen Antworten der Sekretärinnen verdächtige Wörter, die oft nur aus der Kombination mehrerer Wörter herauszulesen sind. Hier wird eine Sekretärin ins Kreuzverhör genommen und „verrät“ sich durch ihre Wortwahl. Im Original sind diese Wörter passenderweise rot hervorgehoben, in der deutschen Ausgabe werden sie wahrscheinlich nur fett gedruckt sein. Ein Ausschnitt:

„spero non sia un grosso problema“
com’un istante di buio, arrossisco e poi casCo realmente“
I colleghi non mi hanno viSta l’indomani“
„con questa mediCina, mi hanno garanTito

(rosso, comunista, rossi, Corea, Stalin, Cina, Tito).

Eine kniffelige Aufgabe für die Übersetzerin. Zunächst habe ich mir eine Liste solcher nach Kommunismus, Agententätigkeit, Revolution, Konspiration usw. riechender Wörter angelegt: Agent, Spion, Osten, Rebell, China, Sowjet, rot, sozial, Staat, Russe, Kapital, Moskau, Partei, Trotzki, Spitzel, Sozialist, Attentat usw. Leider waren viele nicht zu gebrauchen, mit ihnen ließen sich partout keine Sätze bauen. Hier ein Beispiel aus meiner Übersetzung:

»Ich bin in Ohnmacht gefallen, Mister Lehman.
An manchen Tagen taumele ich
mir wird schwarz vor Augen, mein Gesicht läuft rot an
dann folgt der Sturz.
Das passiert immer schlagartig
besonders jetzt, wo ich guter Hoffnung bin.
Aber so geht es ja vielen in meiner Lage.
Und ich will trotz Kind weiterarbeiten.
Darum war ich heute Morgen beim Arzt.
Er hat mir zwei Mittel verschrieben.
Mit dieser doppelten Behandlung
wird mein Magen täglich robuster.«
(…)         
»Niemals! Ich bin kein giftiges Lästermaul.
Ich weiß, wie nervtötend das Personal sein kann
die Hausmädchen, die durchs Schlüsselloch spionieren
und zu viel hinterlistige Umtriebe in der Küche
sozial ist das nicht!
Ja, der Mensch schlägt um sich, hat spitze Ellenbogen.

(Macht, Agent, schwarz, rot, Sturz, Schlag, Lenin, Trotzki, Doppelagent, Gift, töten, Spion, List, Sozialist, Spitzel)4

Das andere literarische Stilmittel für die Darstellung der McCarthy-Ära ist die Metapher vom Walfisch, in dessen erstickender Enge ganz Amerika hockt: Der arme Bobbie, eigentlich Kunst- und Pferdeliebhaber, inzwischen ungewollt Nachfolger seines genialen, erfolgreichen Vaters, glaubt, wieder einmal als biblischer Held oder Patriarch die Bank und Amerika retten zu müssen. Wie bereits während der Wirtschaftskrise nach dem „Schwarzen Donnerstag“ 1929, als er Noah war, der eine Arche baute, oder im Zweiten Weltkrieg, als er David war, der Goliath (im Roman eine Mischung aus Hitler und Hirohito) mit der Atombombe bezwang, bringt er jetzt als Jonah, den Walfisch dazu, ihn und Amerika endlich auszuspucken.

  4. Der schwarze Donnerstag

Ein weiteres Beispiel für literarische Stilisierung ist der das Kapitel, das vom „schwarzen Donnerstag“, dem 24. Oktober 1929, handelt (in Europa als „schwarzer Freitag“ bekannt). Die Selbstmorde der Börsenmakler an der Wall-Street werden hier als Countdown erzählt und filmisch montiert mit ebenfalls in Zahlen ausgedrückten Erfolgen der Lehmans.5

Überhaupt Zahlen: Sie werden nie ausgeschrieben, sondern erscheinen immer als Ziffern, weil das Zählen und Rechnen von Anfang an eine große Rolle spielt, lange bevor Lehmans an die Börse gehen. Zahlen sind die fixe Idee und das Trauma zweier Familienmitglieder, die nicht fürs Bankgeschäft taugen: Mayer, „Dreidel“ genannt, verstummt schon als Kind, zählt aber heimlich die Wörter, die in der Familie gesprochen werden. Bevor er für immer verschwindet, legt er den Verwandten die Summe seines jahrzehntelangen Zählens vor:

21 546 Mal habt ihr ERTRÄGE gesagt.
19 765 Mal habe ich RENDITE gehört.
17 983 Mal das Wort EINNAHMEN
(…)
INTERESSE gewann mit 25 744 Mal den ersten Platz
gefolgt von AKTIVA, ihr sagtet es 23 320 Mal.

Dreidels Cousin, der sanfte Sigmund, in der Familie „das Häschen“ genannt, wird an seinem ersten Tag in der Börse von Zahlen verfolgt.

Zahlen klebten an ihm wie Leim
er wischte sich eine 13,18 von der Schulter
2 Paare der 99 hefteten sich ihm an die Knie
ein Arm fiel den Vielfachen von 7 zum Opfer
die Finger seiner Hand einer 11 111
die 8en riss er nicht schnell genug von den Augen
als sein Brustkorb
schon kochte
und er unter dem Hemd
eine 48 795 672,452
explodieren fühlte.

Dieser Irrsinn aus Zahlen weist schon auf den dreiseitigen Passus kurz vor Schluss hin, in dem die chaotische Atmosphäre in der neuen Trading-Abteilung der Lehman Bank geschildert wird (siehe unten: Die Lehmans sind eine Investmentbank und ein börsennotiertes Unternehmen). Die von Lew Glucksman und von Dick Fuld geführte Abteilung, wo der Wertpapierhandel bereits vollständig digitalisiert war, bedeutete den Anfang vom Ende der Lehman Brothers Bank. Zentrale Figuren des Niedergangs sind Pete Peterson und die beiden „Totengräber“ der Bank Lewis Glucksman und Dick Fuld. Peterson und Glucksman werden im Roman lange vorher eingeführt, als sie noch Kinder sind. Peterson, Sohn eines griechischen Gastwirts in Nebraska, und Glucksman, das Kind eines ungarischen Lampenbauers in Manhattan, begegnen den Lehmans in der fiktiven Romanhandlung zufällig, und diese Begegnungen legen dann den Grundstein für ihren Lebensweg. Tatsächlich studierten beide Wirtschaftswissenschaften und machten Karriere, Peterson war Berater Richard Nixons, bevor er Vorstandsvorsitzender und CEO von Lehman Brother wurde, während Glucksman nach Erfolgen an der Wall Street schon 1963 zu Lehman Brothers stieß und an der Seite des zwielichtigen Dick Fuld CEO wurde.

Diese Fakten waren mir beim Übersetzen lange nicht bewusst, weil Peterson bis kurz vor Schluss als Sohn des Lampenbauers und Glucksman als „der Ungar“ beschrieben werden. Erst durch die Faktenrecherche bekamen die beiden historische Konturen, und siehe da, bis auf die erfundene Begegnung mit den Lehmans in früher Kindheit stimmten die biographischen Daten!

II. RECHERCHE

Was wusste ich über die Lehman Brothers? Fast nichts, dieser Name war für mich nur mit der weltweiten Banken-, Finanz- und letztlich auch Eurokrise 2008/2009 verbunden. Also fing ich an zu recherchieren, erst auf der deutschen Wikipedia-Seite, die sich aber vor allem mit den Folgen der am 15. September 2008 erklärten Insolvenz der Lehman Bank für deutsche Banken und Spareinlagen beschäftigt. Sehr viel ausführlicher war die englische Fassung, die die historischen Phasen des Aufstiegs der Lehmans behandelt und auch Informationen über die Lehman Family bringt. Sie führte mich auf die Seite „Lehman family“, die für mich zunächst wichtiger war.

Zu „Lehman Brothers“ gibt es natürlich unzählige Seiten im Internet. Auf der amerikanischen Lehman-Wikipedia-Seite stieß ich unter „Weblinks“ auf die „Lehman Brothers Collection“ der Harvard Business School. Hier findet man Fotos der Familienmitglieder und Partner der Bank, außerdem Dokumente über Lehmans Investitionen von 1850 bis 2008.

Meine Recherchen galten den folgenden Eigenschaften der Lehmans:

  1. Die Lehmans sind Juden

Hier ging es vor allem um die Schreibweise der jiddischen Wendungen und hebräischen Gebete, der jüdischen Festtage, Rituale in der Synagoge, der Vorschriften aus dem Talmud und der Mischna. Bekanntlich ist die Schreibweise des Jiddischen je nach Sprache  sehr unterschiedlich. Teilweise habe ich das amerikanisierte Jiddisch gewählt, das die Amerikanisierung der Lehmans widerspiegelt. Generell habe ich mich an jüdische Quellen gehalten (z.B. „Jüdische Allgemeine“), die zum Teil auch Glossare haben. Ein Beispiel, das Chanukka-Gebet:

Im italienischen Original:

Baruch atah adonai
eloheinu melech ha’olam
asherkid’shanu b’mitzvotav
v’tzivanu l’hadlik neir                           
shel Hanukkah.

Von mir gewählte Version:

Baruch atah Adonaj
Elohejnu Melech HaOlam
ascher kideschanu bemitzwotaw
we’tziwanu lehadlik ner6

Schwieriger war die Suche nach Äquivalenten zu Massinis Zitaten aus Yehuda ben Tema (in englischsprachigen jüdischen Quellen Judah ben Teima). Ben Tema war ein Mischnalehrer im 2. Jahrhundert, von ihm stammt das Werk „Sprüche der Väter“ (hebräisch פרקי אבות Pirqe Avot), ein Traktat der Mischna. Im fünften Kapitel (V, 21) nennt Yehuda ben Tema die Aufgaben für bestimmte Lebensalter. Massini zitiert diese Vorschriften oft und leitet acht Kapitel damit ein, z.B. so:

Yehuda Ben Tema
schreibt
in den Sprüchen der Väter:
du hast vierzig Jahre, um listig zu werden.
du hast fünfzig, um klug zu werden.

Yehuda Ben Tema
schreibt
in den Sprüchen der Väter:
siebzig Jahre, um Bilanz zu ziehen
achtzig, um die Natur zu genießen.

Nicht nur verlief meine Suche nach Massinis italienischer Quelle ergebnislos, bei der Recherche vorhandener deutscher Übersetzungen zeigten sich auch große Unterschiede. Auf Talmud.de lautet sie so:

Derselbe sagte: Zu 5 Jahren soll man Bibel lernen, zu 10 Mischna, zu 13 religiöse Gebote üben, zu 15 Gemara (Talmud) lernen, zu 18 sich verheiraten, zu 20 muss man vorwärtstreiben (weiter zu streben suchen), zu 30 kommt die Kraft (die eigentliche Manneskraft), zu 40 kommt die Vernunft (die Überlegung im Handeln), zu 50 der Rat (der weise, die Abgeklärtheit im Denken), zu 60 das Alter, zu 70 das Greisenalter, mit 80 kommt das sehr hohe Alter (w. das Kraftalter), mit 90 geht man gebückt, mit 100 Jahren gleicht der Mensch, als ob er gestorben und bereits von der Welt fort wäre.

Bei Wikisource:

Derselbe sagte:
Mit fünf Jahren soll man die Heilige Schrift lesen,
mit zehn die Mischna,
mit dreizehn die Gebote erfüllen,
mit fünfzehn den Talmud studieren,
mit achtzehn heiraten.
Mit zwanzig Jahren ist man verantwortlich;
mit dreißig erhält man die Vollkraft,
mit vierzig den Verstand,
mit fünfzig die Gabe des Rates;
mit sechzig beginnt das Alter;
mit siebzig wird man ein Greis;
mit achtzig erreicht man das hohe Alter;
mit neunzig ist man abgelebt.
Der Hundertjährige ist gleichsam tot,
schon hinübergegangen und der Welt entflohen.

Ohne herausgefunden zu haben, ob Massini den Text von Yehuda ben Tema frei paraphrasiert oder eine recht freie italienische Übersetzung zitiert, habe ich mich beim Übersetzen schließlich doch ans italienische Original gehalten, und zwar aufgrund von Überlegungen, die auch bei einem anderen, weit größeren Rechercheproblem eine Rolle spielten (siehe unten: Die Lehmans sind Amerikaner).

  2. Die Lehmans sind eine große Familie  

Der Stammbaum bei Massini bildet die „literarische“ Familie ab, also nur die Personen, die als Romanfiguren auftauchen (leider ohne die Frauen, obwohl auch sie wichtige Figuren im Roman sind). Wie groß die reale Familie Lehman war, zeigt auf den ersten Blick der Stammbaum.  Es ist ein exakter Familienstammbaum mit 85 Quellenangaben aus Zeitungsartikeln und Büchern über die Lehmans.

Fotos der hier bereits erwähnten Familienmitglieder findet man in der Abteilung „Exhibition“ der Webseite der Harvard-Business-School, außerdem unter Google „Bilder“, wenn man Namen wie Emanuel Lehman, Mayer Lehman, Robert Lehman, Herbert Lehman usw. eingibt.

Mayer Lehman, 1866

Für mich war es eigenartig, diese sepiafarbenen altehrwürdig-steifen Herren auf den Fotos zu betrachten, die bei Massini so lebendig werden, dass man sich eine sehr konkrete und teilweise nicht gerade ehrwürdige Vorstellung von ihnen macht. Erzählt er doch von ihren Marotten und Ängsten, gibt ihnen sehr prägnante Charakterzüge, setzt sie peinlichen Situationen aus, lässt sie erbittert streiten, beschreibt die einen als ehrgeizig und skrupellos, die anderen als kleinmütig und schwach. Den Höhepunkt von Massinis ironischer Fiktionalisierung der Lehman-Persönlichkeiten bildet das Filmskript zu „King Kong“ (auch dies ein Traum von Bobbie). In diesem Film spielt jeder Lehman eine Rolle, die seinem Charakter entspricht – jedenfalls so, wie Massini ihn sich vorstellt: Der mathematikbesessene, cholerische Arthur (auch er ein Sohn von Mayer) ist der Regisseur, Philip der Kapitän des Schiffs, Herbert der politisierende Schiffskoch, Bobbie spielt den gutmütigen Riesenaffen King Kong, die Bewohner von Kongs Insel sind „der blutrünstige Stamm der Wall-Street, bekannt für seine Menschenopfer“, und als Produzenten von Kongs katastrophaler Vorführung in New York treten die zynischen Zwillinge Harold und Allan auf. Diese beiden ebenso intelligenten wie gnadenlosen Typen sind sehr prägnante Figuren im Buch, und auch die Leiden ihres Vaters, des sanften Sigmund, werden ausführlich erzählt. Doch seltsamerweise konnte ich weder zu Sigmund noch zu seinen Söhnen spezielle Quellen im Netz finden. Eine Information über Sigmunds Tod entdeckte ich eher zufällig hier. Die Seite der „Jewish Telegraphic Agency hat übrigens auch ein historisches Archiv mit Dokumenten ab 1923. Nur hier wurde ich auch bei Harold Lehman fündig. Nüchterne Fakten zu Sigmund bringt dieser Artikel über Sigmunds Rolle in der Bank – auf die er im Roman mit einer brutalen Gehirnwäsche vorbereitet werden muss. 

Besonders viel Material gibt es natürlich zu Herbert H. Lehman, dem Gouverneur von New York, demokratischen Senator und Freund von Roosevelt. Er heiratete Edith Altschul, die aus einer anderen jüdischen Bankiersfamilie stammte. Von seiner Werbung um Edith erzählt Massini herrlich ironisch. Zu Herbert fand ich einen interessanten Artikel aus der „Jüdischen Allgemeine“. Als Gouverneur von New York setzte er sich aktiv für die Rettung deutscher Juden ein.

Im Gegensatz zu den offiziellen Quellen, wo die Frauen der Familie kaum eine Rolle spielen, kommen sie bei Massini besser weg als die Männer, sind vorausschauender, klüger, entscheidungsfreudiger. Besonders Henrys Witwe Rose Lehman ist eine starke Figur.

Meine Recherche zu den Mitgliedern der Familie, von denen Massini erzählt, ergab, dass die Fakten meist stimmen. Aber Massini gestaltet die Figuren und die historischen Ereignisse nach seinem Gutdünken und verkehrt dabei auch mitunter die Rollen der Akteure bei Lehman Brothers ins Gegenteil.

  3. Die Lehmans sind Zwischenhändler und Investoren

Hier musste ich die Fachterminologie der Märkte und neu entstehenden Industrien recherchieren, in die Lehman Brothers investierte: Baumwolle, Zucker, Kaffee, Kohle, Öl, Eisenbahn, Maschinenbau, Autoindustrie. Die Montage des T-Models von Ford am Fließband wird als Countdown in 93 Minuten erzählt:

Pronti?                    
Attenti?                   
Via!          
Motore 4 cilindri      
93-92-91-90            
trazione posteriore   
89-88-87-86-85       
motore ad albero con cuscinetti              
84-83-82-81-80       
valvole laterali         
79-78-77-76-75       
cambio a due velocità              
74-73-72-71-70       
funzione retromarcia                               
69-68-67-66-65       
sistema di raffreddamento       
64-63-62-61-60       
radiatore a termosifone            
59-58-57-56-55       
telaio d’acciaio        
54-53-52-51-50       
balestra singola        
49-48-47-46-45       
amperometro in dotazione       
44-43-42-41-40       
avviamento a manovella          
39-38-37-36-35
freni a tamburo

Achtung!
Fertig!
Los!
Vierzylinder-Motor
93–92–91–90
Hinterradantrieb
89–88–87–86–85
Motor mit Nockenwelle
84–83–82–81–80
seitliche Ventile
79–78–77–76–75
Zwei-Gang-Getriebe
74–73–72–71–70
Rückwärtsgang
69–68–67–66–65
Kühlsystem
64–63–62–61–60
Thermosiphonkühler
59–58–57–56–55
Chassis aus Stahl
54–53–52–51–50
Einzelblattfeder
49–48–47–46–45
Amperemeter serienmäßig
44–43–42–41–40
Starten mit Handkurbel
39–38–37–36–35
Trommelbremsen

Trommelbremsen, Schwungradmagnet, Einzelblattfeder … Die deutschen Bezeichnungen der Komponenten musste ich nachschlagen. Aber dann kamen mir Zweifel: vielleicht haben die Teile eines Autos heute andere Bezeichnungen? Zum Glück gibt es eine Wikipedia-Seite zum Model T wo die Komponenten aufgezählt werden.

  4. Die Lehmans sind eine Investmentbank und ein börsennotiertes Unternehmen

Bobbie Lehman hat den ehrgeizigen jungen Ungarn Lewis Glucksman zum Leiter der neuen, bereits weitgehend computerisierten Trading Abteilung von Lehman Brothers in der Water Street 55 gemacht:

Gut gemacht, Bobbie!
Morgan Stanley ist eine Bank aus Greisen.
Goldman Sachs ein Altersheim unter freiem Himmel.
Lehman Brothers nicht.
Lehman Brothers wird eine Trading-Abteilung haben
getrennte Büros in der Water Street.

Hierhin führt Bobbie einen alten Senior Partner der Bank, Paul Mazur, und nun folgt über mehr als drei Seiten ein Wust aus Zahlen, Buchstaben, Dollar- und Pfundzeichen, unterbrochen nur durch Mazurs Lamento über diesen „Höllenpfuhl“:

Wo liegt der Unterschied zwischen dem, was ich sehe, und einer Irrenanstalt? 465372.6578.44.9 $040. 675.4%38.2489053.2876.4783.254$3.543245.5687.98.654.2132235465₤6y.89.895.46.5.42.55897.98.8753% 899.Sh%.76 Angenommen, es gibt hier Gewinne, dann frage ich mich, ob all das, was es uns einbringt, automatisch akzeptabel ist Bobbie. 34.5.76580.5.87.6998’.03.7.49.83.3.₤. 8.69.898.4$3.5.43.1.2.544786.
70.4.83.20957.906. N34.57.09.3.457093.476.j093.47.609 4375.73. 4.9.05634 In der heutigen Finanzwirtschaft gibt es ein aggressives Element, und ich habe nicht die Absicht, dem Vorschub zu leisten. 8654.89.35.67 8.43.5.78.3.24532458.73.2$ 69.578.05468 459 658.73. 24.3651. 23562.4763.4.56.4355.76f85. 49.657.32.
645.6.3.72153.1247.65 Haben die Menschen, die ich hier sehe, einen Studienabschluss oder wurden sie von der Straße weg engagiert? 7845.67.8.9874.3.7654.8643.3245.76490.$6.8642.6.7.875.G53. &5 %5648.5 6.78.47.

Aus diesen Zahlen wurde ich nicht schlau. Nirgendwo im Netz fand ich Entsprechungen zu dieser Schreibweise. Auch die englische und französische Übersetzung des Romans geben die Zahlen auf diesen drei Seiten genauso wieder wie im Original. Wahrscheinlich soll die chaotische Aufzählung den Eindruck widerspiegeln, den die ahnungslosen Besucher Bobbie und der alte Paul Mazur vom „Höllenpfuhl“ aus flimmernden Computern und blinkenden Anzeigetafeln haben.

Anders beim Börsenjargon in der Wall Street. Hier konnte ich mir Begriffe wie „Parketthandel“ und die Schreibweise der Kursnotierungen aus Internetquellen holen, es gibt viele Börsenglossare und -lexika. An seinem ersten Tag in der Wall Street hörte der sanfte Sigmund dieses Gespräch:

La prima conversazione che egli percepì
fra due energumeni barbuti     
fu infatti:  
“Salve, Charles.”     
“Buongiorno Goldfaden.”       
“Applichi il 12 e 70?”             
“14 e 10!”                
“Netto?”   
“Con il 3 e mezzo di spese”    
“11 e 10 moltiplicato quanto?“               
“91 o tutt’al più 94.”
“Hai fatto un rialzo del 2%”   
“Dopo che avevo ribassato del 4.”
“Io però ti applico il 12,45.”   
“Se ci rientri.”
„Con te non si può parlare.“ 

Das erste Gespräch, das er auffing
zwei bärtige Berserker sprachen
klang dann auch so:
»Hallo, Charles.«
»Guten Tag, Goldfaden.«
»Bietest du 12,70?«
»14,10!«
»Netto?«
»Mit 3 ½ Unkosten.«
»11,10 multipliziert mit?«
»91, höchstens 94.«
»Du hast um 2 % erhöht.«
»Nachdem ich um 4 gesenkt habe.«
»Ich biete dir 12,45.«
»Wenn du damit was rausholst.«
»Mit dir kann man nicht reden.«

  5. Die Lehmans sind Amerikaner

Arthur, Mayers Sohn, wurde 1873 als erster Lehman der Enkelgeneration in New York geboren.

In seinem Blut
fließt kein einziger Tropfen
weder aus Deutschland
noch aus Alabama.

Arthur ist neu.
Arthur ist absolut neu.
Arthur ist ein Sohn New Yorks.

Zur Lehman-Familiensaga gehört natürlich viel amerikanische Geschichte. Der Sezessionskrieg, die beiden Weltkriege, die Gründung der Börse, der Beginn des Aktienhandels, die Prohibition, die Wirtschaftskrise, der New Deal, Radio, Kino und Fernsehen, die Globalisierung der Wirtschaft – unmöglich, alle historischen Verweise hier aufzuzählen. Mit einem literarischen Trick bringt Massini auch die Konsumgüterindustrie und die Werbung in die Romanhandlung. Er stellt Irving Lehman als perfekten Durchschnittsamerikaner dar:

In seinen Gesprächen, seiner Garderobe
banalsten Entscheidungen, politischen Positionen
entsprach er genau
dem absehbarsten Profil
des amerikanischen Mittelschichtbürgers.


(…)
Barbecue im Garten.
Ein Hund mit weißem Fell.
Ein Hausmädchen namens Trudy.
Geblümte Tapeten.
Blumenvase auf dem Klavier.
Fußmatte in der Veranda,
bestickte Gardinen vor dem Wohnzimmerfenster.
An der Haustür ein Schild: »Sissy & Irvy«.
Doch vor allem
immer ein aufmerksames Ohr
für alles, was ein modernes Heim ausmacht.
Und genau das
war eine große Hilfe
für die expansive Politik von Lehman Brothers:
»Im Grunde ist unsere einzige Aufgabe …« dachte Philip
Sissy & Irvy aufmerksam musternd
»auf einen Wunsch einzugehen
noch bevor die Nachfrage entsteht.
Wir erfüllen Amerikas Träume
Sekunden bevor es wieder die Augen öffnet.«

Die manipulativen Techniken der Werbung werden vom gerissenen Bruderpaar Harold und Allan später perfektioniert. Nach der Großen Depression infolge des Börsencrashs verordnen sie Amerika das Lächeln:

Ihr erstes Projekt
sollte ein humoraler Umschwung sein:
Amerika hatte seinen Biss verloren?
Sie würden ihn der Nation zurückgeben.
Amerika hatte aufgehört, zu lächeln?
Sie würden es zum Lächeln zwingen.

Später bekommen die Partner der Bank einen Kurs in aggressivem Marketing:

»Wenn wir die ganze Welt
überzeugen können
dass kaufen siegen bedeutet
wird kaufen leben bedeuten.
Denn der Mensch, Gentlemen
lebt nicht, um zu verlieren.
Instinktiv will er siegen.
Siegen heißt existieren.
Wenn wir die ganze Welt
überzeugen können
dass kaufen existieren ist
dann reißen wir
die letzte alte Barriere ein
die Bedürfnis heißt.
Unser Ziel
ist ein Erdball
wo man nichts kauft, weil man es braucht
sondern weil man es unbewusst wünscht.
Oder, wenn Sie wollen – damit schließe ich –
weil man wie alle sein will.
Erst dann werden die Banken
und mit ihnen Lehman Brothers
unsterblich werden.«

III. DIE RECHERCHEFALLE

  1. Drei Seiten aus Filmzitaten

Eine wichtige Rolle spielt das amerikanische Kino der 30er und 40er Jahre – auch dies ist natürlich eine Lehman-Investition. Die Recherche, die das Kapitel „Technicolor“ erforderte, war die schwierigste des ganzen Übersetzungsprojekts. Auf drei Seiten führen Peter Lehman und seine kinobegeisterte Angebetete Peggy Rosenbaum, allseits bekannt als „The double G“, aber nicht, weil ihr Vater General Gas leitet, sondern wegen ihrer Ähnlichkeit mit Greta Garbo, einen Dialog, der nur aus Zitaten besteht. Sie bedienen sich bei amerikanischen Screwball-Comedies und Western dieser Zeit. Anfangs werden die Filme, aus denen sie zitieren, noch genannt, und natürlich benutzt das Original die italienischen Verleihtitel, die nicht immer auf die amerikanischen Titel führen – die Italiener sind ähnlich phantasievoll wie die Deutschen, was das Anpassen fremdsprachiger Titel an den vermeintlich heimischen Geschmack betrifft. Also habe ich mir die amerikanische Ausgabe des Buches besorgt, The Lehman Trilogy, in der Hoffnung, der Übersetzer Richard Dixon hätte weniger Probleme gehabt, aus dem italienischen Titel auf Anhieb auf das amerikanische Original zu schließen. Tatsächlich führte der amerikanische Originaltitel fast immer auf den deutschen Verleihtitel – fast. Doch die Titel waren das kleinere Problem. Woher die korrekten Zitate aus den Filmen nehmen? Die größte Datenbank mit Filmen ist Internet Movie Database IMDb. Hier gibt es unter „Zitate“ mitunter sogar Auszüge aus den Drehbüchern, wo ich aber nie fündig wurde. Auch eine Kollegin, die Filmwissenschaft studiert hat und sich bestens mit dem amerikanischen Kino dieser Zeit auskennt, konnte mir nicht helfen. Der härteste Brocken war die Passage, in der keine Filmtitel mehr angegeben werden – wie sollte ich da korrekt zitieren? Die Datenbank QuoDB verspricht: „Find any quotes in millions of movie lines!“ Aber nachdem ich ein Dutzend Zitate aus der englischen Übersetzung eingegeben hatte und nie ein Ergebnis bekam, habe ich kapituliert. Irrwege des Internets: Fast immer führten die Zitate, die ich mal auf Englisch, mal auf Deutsch bei Google eingab, zu Unmengen von Bildern und Sprüchen, bei denen das eine oder andere Wort aus dem Zitat auftauchte.

Bei dieser tagelangen vergeblichen Recherche ging mir immer öfter das typische Übersetzungsparadox, das viele von uns kennen, durch den Kopf: Im Original liefern sich zwei amerikanische Kinofans auf Italienisch einen Schlagabtausch mit Zitaten aus amerikanischen Filmen, und die erwähnten Filme haben italienische Titel. In der deutschen Übersetzung tauschen Amerikaner deutsche Zitate aus Filmen mit deutschen Titeln aus – wäre es da nicht weniger fiktiv oder abwegig, ihren nur aus Filmzitaten bestehenden Dialog einfach englisch zu lassen? Doch woher hätte ich die korrekten englischen Zitate nehmen sollen, hatten die Zitate in der englischen Übersetzung mich doch nie auf die dazugehörigen Filme geführt.

  2. Ketzerische Gedanken

In dieser offenbar ausweglosen Situation tauchte die ketzerische Frage auf, ob unser Ideal philologischer Exaktheit uns deutsche Übersetzer·innen nicht vielleicht zu skrupulös werden lässt. Ich vermute, dass man beim Übersetzen eines Originals mit klaren historischen Bezügen und realen Menschen als Vorbilder für die dramatis personae zu besonderer Vorsicht neigt. Je mehr Übereinstimmungen zwischen den Figuren, der Handlung und dem historischen Kontext unsere Recherchen zutage fördern, desto genauer werden wir beim Übersetzen. Und genau das ist mir passiert. Kann man also womöglich zu viel, zu gründlich recherchieren? Was beim Übersetzen eines Sachbuchs unerlässlich ist, scheint beim Übersetzen einer literarischen Behandlung historischer Ereignisse und Personen zu einer Art Faktizitätsfalle zu werden. Doch immerhin hatte ich gerade durch meine Recherchen entdeckt, wie kreativ, sogar ketzerisch Massini mit seinem Lehman-Personal umgeht. Also waren sie zwar nützlich gewesen, aber vielleicht nur als Leiter, auf der ich mir Zugang zur Tatsachenwahrheit verschafft hatte, die ich dann aber wieder umwerfen musste, um, ungehindert von philologischen Skrupeln, den ästhetischen Qualitäten meiner Vorlage gerecht zu werden. Ich hatte es mit einer, in Bezug auf die Fakten, unzuverlässigen, weil schöpferischen Vorlage zu tun, also habe auch ich diese Filmzitate frei aus dem Italienischen übersetzt. Frei, aber doch an die Sprache jener alten Filme angepasst.7

Nun bin ich sehr gespannt auf das fertige Buch. Bis jetzt habe ich nur einen Rohumbruch durchgesehen, der bezüglich des Layouts noch viele offene Fragen enthält. Denn das Original ist mehrmals zweispaltig, einmal sogar dreispaltig gesetzt. So wird ein heftiges Streitgespräch zwischen Herbert und Arthur rechtsbündig mit dem Text eines Songs von Ella Fitzgerald kontrastiert, und bei einem Fernsehquiz (auch das eine amerikanische Tradition: die samstagabendliche Quizshow) stehen links die Fragen des Quizmasters, mittig läuft der Countdown der Minuten für die Antwort und rechts liest man die Gedanken des Kandidaten.

Gespannt bin ich auch auf das bereits in Arbeit befindliche Hörbuch. Es wird die Probe auf mein Bemühen sein, den Rhythmus so zu gestalten, dass die Verse sich gut sprechen lassen. 

04.10.2022
Fußnoten
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4
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6
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PDF

©Ebba D. Drolshagen

Annette Kopetzki, geboren in Hamburg, übersetzt italienische Belletristik und Lyrik, u.a. von Pier Paolo Pasolini, Andrea Camilleri, Erri de Luca, Antonella Anedda, Alessandro Baricco und Roberto Saviano. In Workshops, Vorträgen, Veröffentlichungen und als Gastdozentin des DÜF hat sie sich mit der Theorie der Literaturübersetzung beschäftigt. Sie ist Gründungsmitglied der Weltlesebühne e.V., für die sie Übersetzungslesungen organisiert und moderiert. Für den VdÜ organisiert sie seit 2010 Veranstaltungen zur Übersetzung auf der Frankfurter Buchmesse. 2019 erhielt sie den Paul-Celan-Preis für Literaturübersetzung.

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