„Ich kann nicht atmen“
Journal zur Übersetzung des Romans von Ivana Sajko Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod
1.
Die Handlung ist schnell erzählt: Ein Mann berichtet in der ersten Person von seiner Reise, die von einem kleinen Küstenort irgendwo im Süden Europas nach Berlin führt. Die Autorin wählt bewusst die männliche Erzählperspektive, was im Kroatischen durch die Eigenschaft der Verben, das Geschlecht im Partizip bzw. in der Konjugation des Perfekts abzubilden, von Anfang an erkennbar ist. Die betont männliche Erzählperspektive stellte die erste Herausforderung für mich da, denn ich befürchtete, dass die Leser·innen aufgrund des Namens der Autorin von Anfang an glauben könnten, dass es sich um eine weibliche Ich-Erzählerin handelt. Doch an dieser Stelle wird die Bedeutung der Paratexte deutlich, wie sie Gérard Genette beschrieben hat – als Texte, die einen literarischen Text begleiten und ergänzen, darunter auch Klappentexte. Auf der Rückseite der deutschen Ausgabe des Romans1 ist ein Zitat aufgeführt, in dem das Unheil der vererbten Männlichkeit beschrieben wird: „mein Vater war verflucht, so wie auch wir verflucht waren, nur weil wir Jungen waren, und aus all dem konnte nie etwas Gutes werden“. Weiter heißt es: „Ein Mann sitzt im Zug, auf der Reise von einem kleinen Ort irgendwo an der südlichen Küste Europas nach Berlin.“
Jedes Kapitel besteht aus einem einzigen langen Satz, der sich über die Buchseiten schlängelt, so wie sich der Zug durch Bergtunnel und Täler bewegt; in jedem Kapitel bewegt sich das Bewusstsein des Erzählers nicht nur durch die Landschaft, sondern auch durch ganz verschiedene Zeitebenen. Dieser neue Roman von Ivana Sajko ist ein Roman über die Unmöglichkeit eines erfüllten Lebens unter schwierigen sozialen Bedingungen, über verschiedene Erscheinungsformen der Gewalt, über das Ende der Liebe, sowie über die Suche nach einem Zufluchtsort, an dem vielleicht ein Neubeginn möglich sein wird. Die Zeichen dafür stehen nicht besonders gut, denn Europa befindet sich in einer Krise, und dennoch wird der Reisende von der schwachen, aber hartnäckigen Hoffnung beflügelt, die seine Reise überhaupt möglich macht. Auch wenn der Genderaspekt in diesem Roman sehr viel mit der Gesellschaft auf dem Balkan zu tun hat, erkennen wir in der dargestellten „toxischen Männlichkeit“ die Grundzüge einer jeden patriarchalischen Gesellschaft:
„und der Rücken meiner Mutter war unzerstörbar, unser Vater zum Beispiel zögerte nie, wenn es darum ging, auf den Tisch, auf die Anrichte oder auf ihren Rücken einzudreschen, die Anrichte hat einmal nachgegeben, aber der Rücken meiner Mutter nie, er duldete und liebte den Vater, ihr Rücken und der Rest ihres Körpers liebten ihn, ich weiß nicht, warum, ich habe mich nicht getraut zu fragen, warum, und ich kann mir auch keinen Grund dafür vorstellen, doch bestimmt hat es sich um Liebe gehandelt, um eine monströse Liebe, die er nicht mit Faustschlägen zu erschlagen vermochte, sie beendete diese Liebe mit ihrer eigenen, besonnenen Entscheidung“ (S. 52 f.).
Eine Reise ist immer eine Bewegung nach vorne, aber durch das Erzählen – eigentlich das Aufschreiben von Gedanken in ein Notizbuch – verwandelt der Ich-Erzähler die Fahrt nach vorne in eine rückwärtsgewandte Bewegung, da er sich mit jedem Kilometer, der ihn im Raum nach vorne bringt, tiefer in seine eigene Vergangenheit begibt. Auch wenn moderne Züge gar nicht mehr das Geräusch des Hämmerns und des Klopfens produzieren, glaubte ich das leise Rattern der fahrenden Komposition zu hören. Dieses beruhigende Rattern steht im Kontrast zu den drastischen Szenen der Gewalt, zu den Darstellungen von Armut, zu den Erlebnissen aus einer unglücklichen Kindheit und zu den turbulenten gesellschaftlichen und politischen Ereignissen. Das Rattern beruhigt auch die Atemlosigkeit dieses Erzählens, es dämpft ein wenig das hastige Gefühl der Flucht. Vor der Leser·in entsteht ein intimes, schmerzhaft ehrliches Porträt eines Menschen, der tief in unsere Epoche eingetaucht ist, in der die Grenzen und Grenzerfahrungen zum Alltag gehören, in der die großen Erzählungen der Vergangenheit zusammengebrochen sind, in der sich die humanistischen Ideale als Betrug erwiesen haben.
Der Roman ist außerdem ein Roman über die Grenzen des Sagbaren und des Schreibbaren. Die Autorin referiert viel mehr auf Zeitungsberichte, Filme, Fotos und Bilder als auf andere literarische Werke, als hätte die Wirklichkeit nicht nur bei ihrem Protagonisten, sondern auch bei ihr das Vertrauen in die Möglichkeiten des literarischen Ausdrucks zerstört. Autopoetisch lässt Sajko ihren Erzähler sagen:
„ich halte meine Rede vor circa dreißig Menschen mit Kopfhörern, ich verwende Referenzen aus Filmen und aus der Kunst, ich beschreibe Fotografien und zufällig gefundene Bilder, in diesem Fall projiziere ich eine Zeichnung an die Wand mit der Absicht, diese mit einer gängigen Metapher zu interpretieren: ‚auf der weißen Oberfläche erahnen wir Flecken, die geographischen Topoi ähneln, sie sind schwarz, und sie schweben im Raum, ihnen entgegen bewegt sich eine Gruppe von Menschen, sie tragen rote Kleidung, wir sehen nicht ihre ganzen Körper, sondern nur ihre Oberkörper, als wären ihre Beine abgetrennt, oder als würden sie durch Wasser laufen‘, ich halte inne, ich lasse genug Zeit verstreichen, damit die Metapher zu wirken beginnt, ‚einer von ihnen befindet sich ganz nah an einem Fleck, doch wird er es schaffen, sich an ihm festzuhalten?‘“2 (S. 35 f.).
Am Ziel seiner Reise angekommen, wird der Erzähler verstehen, dass nicht der Ort, sondern sein eigenes Tun für sein Wohlbefinden entscheidend ist. Da dieses Tun in seinem Fall das Schreiben ist, wird dieser vielschichtige und facettenreiche Roman auch zu einem Schriftstellerroman, der von einer Schriftstellerin verfasst ist. Die Travestie – nicht im Sinne einer literarischen Gattung, sondern eher als einer Kunstform, die aus der Theatererfahrung der Autorin stammt – führt zur Erweiterung der Grenzen des Erzählbaren. Die Grenzen der Übersetzbarkeit dieser Travestie auszuloten, habe ich als inspirierende Herausforderung empfunden.
2.
Das Leitmotiv der fehlenden Luft begleitet den Ich-Erzähler auf verschiedene, bisweilen sehr subtile Arten: Mal ist da das Gefühl des Ertrinkens, mal des Erstickens, mal kann jemand einfach nicht gut atmen. Bisweilen empfindet der Erzähler nicht nur die Welt als ein sinkendes Schiff, sondern auch sich selbst. Da das Schwimmen im sauberen Meerwasser einst seine Lieblingsbeschäftigung war, setzt der Erzähler diesem seligen Zustand aus seinen glücklichen Jahren das Ertrinken im Meer entgegen. Die Autorin schildert eindringlich eine historische Schiffskatastrophe aus dem Ersten Weltkrieg, die auf einer der seltenen Dokumentaraufnahmen aus jener Zeit zu sehen ist:
„vor Augen schwebte mir das Bild der Seemänner, die von der Szent István ins Meer springen, einem Schlachtschiff der Tegetthof-Klasse, das unweit der Stadt unterging, jener Stadt, die auch ich endlich verlassen würde, es war das größte und modernste Schiff der österreichisch-ungarischen Flotte gewesen, hundertvierundfünfzig Meter lang, seine Besatzung bestand aus tausend Männern, bei der Ausfahrt zu seinem letzten Einsatz begleiteten es sechs Torpedoboote, der Zerstörer Velebit und ein weiteres Schlachtschiff, auf dem sich die Kamera befand, die das Sprengen der Seeblockade filmen sollte (…) der Befehl des Kapitäns lautete, das Schiff nicht zu verlassen, die Kanonen wurden auf die rechte Seite verschoben, um den Rumpf wieder ins Gleichgewicht zu bringen, die Kessel wurden auf höchster Stufe betrieben, sie arbeiteten unter vollem Dampf, damit das Wasser aus dem Schiffsinneren abgepumpt werden konnte, doch nach drei Stunden erfolgloser Versuche, ließ der Kapitän zu, dass die Mannschaft das Schiff verließ, die Szent István kippte dann plötzlich zur Seite, im Wasser tat sich ein Loch von achtundsechzig Metern Durchmesser auf, in das sie sank, mit dem Deck zuerst, das sich nach unten gedreht hatte, die Kamera, die die machtvolle Sprengung der Seeblockade filmen sollte, dokumentierte nun die Matrosen, die ins Wasser sprangen und panisch mit den Armen fuchtelten, bei dem Versuch, aus dem Abgrund heraus zu gelangen, der das Schiff verschluckte, das Meer schloss sich ruhig über dem eisernen Körper, den ein Wirbel nach unten zog, Ende der Aufnahme“ (S. 68 f.).
Rijetka snimka potonuća bojnog broda SMS Szent István
3.
Der Aufbruch
Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeutete. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: „Wohin reitet der Herr?“ „Ich weiß es nicht“, sagte ich, „nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.“ „Du kennst also dein Ziel“, fragte er. „Ja“, antwortete ich, „ich sagte es doch: ‚Weg-von-hier‘ – das ist mein Ziel.“ „Du hast keinen Essvorrat mit“, sagte er. „Ich brauche keinen“, sagte ich, „die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.“
(Franz Kafka
Erzählungen aus dem Nachlass 1904-1924, aus: Sämtliche Erzählungen, hg. von Paul Raabe, Fischer Taschenbuch 1078, Frankfurt/M. 1970, S. 320 f.)
Der Titel des kroatischen Originals von Ivana Sajkos Roman lautet „Male smrti“ – „Kleine Tode“. Sogar wenn diese Wortgruppe im Deutschen besser klingen würde, als sie es tut, wäre der Titel immer noch irreführend. Zum Begriff „der kleine Tod“ heißt es etwa in der Wikipedia:
„Der kleine Tod steht für:
– eine Bezeichnung für den Orgasmus, siehe Orgasmus #Parallelen zwischen Orgasmuserleben und Todesvorstellungen
– Der kleine Tod (La Petite mort), französischer Kurzfilm von François Ozon (1995)
– Der kleine Tod. Eine Komödie über Sex (The Little Death), australischer Film von Josh Lawson (2014)“
Die Titel „Der kleine Tod“, „Die kleinen Tode“, „Kleine Tode“ – all diese Titel kamen also nicht in Frage. Mein erster Titelvorschlag „Abschiedsroman“ bezog sich auf den ganzen Roman bzw. auf den Satzteil, in dem der Begriff „der kleine Tod“ vorkommt. Der Satzteil lautet im Original: „svaki je odlazak jedna mala smrt“ = „jeder Abschied ist ein kleiner Tod“. Unter den vielen weisen und emotionalen Satzteilen, die diese langen Sätze (die Romankapitel) ausmachen, ist dieser einer der wichtigsten, nicht nur für den Protagonisten, sondern auch für mich persönlich. Auch ich bin einmal in ein Leben in einem anderen Land und in einer anderen Sprache aufgebrochen, auch ich bin damals diesen kleinen Tod des Abschieds und des Aufbruchs gestorben, auch ich erlebe ihn immer aufs Neue, wenn ich am Ende jedes Sommers meine adriatische Geburtsstadt verlassen muss und zurück nach Deutschland fahre. Auch wenn meine kleinen Tode heute in einer privilegierten Position geschehen, ist der Schmerz des Abschieds noch immer intensiv.
„Abschiedsroman“? Doch mit dem Wort „Abschied“ für „odlazak“ war ich nicht zufrieden, auch wenn es nicht falsch ist. Außerdem klang der Titel „Abschiedsroman“ irgendwie banal und allzu interpretierend, vorweggreifend. Auf jeden Fall nicht dem Roman gerecht werdend, dem ein besonderer poetischer Sog immanent ist, der typische Sajko-Sound, der sich manchmal gar nicht beschreiben lässt, den man einfach spüren muss. Und ich dachte, der muss bereits im Titel anklingen.
Anstelle von „Jeder Abschied ist ein kleiner Tod“ hätte ich auch „Jede Abfahrt / Jeder Fortgang / Jedes Weggehen / Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod“ übersetzen können. Im kroatischen Wort odlazak werden alle diese Begriffe mitgedacht. Da an dieser Stelle im Text zwar der Abschied und die Abfahrt gemeint sind, der Roman jedoch auch die Erforschung der Möglichkeit eines Neubeginns beinhaltet, dachte ich schließlich, dass „der Aufbruch“ ein besseres Wort für „odlazak“ wäre, auch wenn „der Aufbruch“ etwas weniger vom Abschied und etwas mehr vom Neubeginn in sich birgt. Mit dem „Aufbruch“ würde ich mich zwar im Vergleich zu den anderen Begriffen am weitesten vom „odlazak“ entfernen, aber dennoch dem Roman gerecht werden, dachte ich, und plötzlich war ich überzeugt, dass genau dieses Wort einen guten Titel geben könnte: „Der Aufbruch“.
Dann begann ich zu googeln, da ich befürchtete, dass es bereits Romane mit diesem Titel gibt. Nebenbei fand ich heraus, dass im Englischen das Wort departure ein ähnliches Bedeutungsfeld abdeckt wie das kroatische odlazak, während im Deutschen dafür mehrere verschiedene Begriffe gebraucht werden, sowie dass Kafka eine kurze Parabel namens Der Aufbruch geschrieben hat, die sich als kompatibel mit dem Roman von Ivana Sajko herausstellte. Diese Parabel wurde als The Departure ins Englische übersetzt.
Nicht nur, dass der Ich-Erzähler in Kafkas Parabel genauso wie der Ich-Erzähler in Sajkos Roman „nur weg von hier“ will, nein, dazu kommt noch, dass die Kafka-Kenner·innen diese Parabel auch als eine Metapher für das literarische Schreiben deuten, und das wiederum ist eine Bedeutung, die auch für Ivanas Roman wesentlich ist. Es war eindeutig, dass ich hier erneut auf eine geistige Verwandtschaft zwischen Sajko und Kafka gestoßen war, die ich schon bei der Übersetzung ihres Stücks Das Lied der Stadt (nicht für dich) bemerkt hatte, dort geht es um einen Performance-Künstler, der sich mit einem Messer ein Herz auf die Brust ritzt und der mich an den Hungerkünstler von Kafka erinnerte. Die Autorin hatte die beiden Texte Kafkas zuvor nicht gelesen, sie tat es erst, als ich sie auf diese geistige Verwandtschaft hinwies, man kann also nicht von Einfluss, sondern von einer ähnlichen inneren Welt sprechen, von einer ähnlichen Sensibilität: ein verdichtetes, rätselhaftes Geschehen; in ihrer existentiellen Not von der Welt isolierte Protagonisten, die an der Welt verzweifeln; ein nachdrückliches Beharren auf das eigene Tun, ungeachtet aller, auch der widrigsten Umstände.
Sajkos Protagonist begibt sich auf eine Reise, um zu sich selbst zu finden, und um zum Schreiben zu finden. Das Schreiben ist existentiell für ihn, und es wird metaphorisch mit dem Atmen verbunden, doch um wieder frei atmen zu können, muss der Erzähler verreisen. Zu atmen, zu reisen und zu schreiben bedeutet für ihn zu leben; für den Protagonisten in Kafkas Parabel ist das Reiten mit dem Schreiben verbunden; der Aufbruch ins Neue die einzige Möglichkeit zu einer wahren, sinnerfüllten Existenz. Mit Hilfe von Kafka entschied ich mich endgültig, odlazak nicht als Abschied, sondern als Aufbruch zu übersetzen.
Auf meinen Vorschlag nahm die Autorin die Parabel von Kafka als Motto in die deutschsprachige Ausgabe ihres Romans auf. Ich entschied mich schließlich – in Absprache mit der Autorin und mit dem Verlag – als Titel das Zitat aus dem Roman „Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod“ zu verwenden. Der Bezug zu Kafka war also a posteriori hergestellt. Im kroatischen Original gibt es dieses Motto nicht; es ist zum Bestandteil der deutschen Übersetzung geworden, ein weiterer Paratext, der hoffentlich zum Verständnis der Komplexität dieses Textes beiträgt.
Die Trompete, die Kafkas Erzähler hört, ist der Ruf, den auch Sajkos Protagonist hört, als er die Ausmaße der Flüchtlingstragödie an den europäischen Grenzen begreift. Er ist zunächst niedergeschlagen und verfällt in eine Depression, da ihm klar geworden ist, dass alle gutgemeinten Reden, die er bis dahin als Referent und politischer Aktivist geschwungen hat, angesichts der Realität an Bedeutung verlieren. Er glaubt nicht mehr an Worte, er glaubt nicht an das Schreiben. Erst als seine Beziehung zerbricht, entscheidet er sich für ein Heraustreten aus der Depression und zur Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, für einen Aufbruch. Inmitten des tragischen Gefühls der Welt erkennt er doch einen Sinn in der Literatur.
Ivana Sajko hat mir einige Fotos zur Verfügung gestellt, die sie im Roman beschrieben hat:
„ich vergrößere die Fotos, soweit es geht, und betrachte die Ausdrücke in ihren Gesichtern und die Richtungen ihrer Blicke, ein Mann lehnt an der Schulter eines anderen Mannes und hebt seinen linken Arm hoch über die Köpfe der anderen Menschen, in seiner Hand hält er einen Säugling wie einen Brotlaib, in ein weißes Tuch gewickelt, jenseits dieses Bildausschnitts und jenseits der Grenze wartet eine Hand mit weitgespreizten Fingern auf das Baby, der Blick des ersten Mannes ist auf diese Hand gerichtet“ (S. 45).
4.
Für die Annäherung an die Originaltexte von Ivana Sajko habe ich inzwischen eine Methode entwickelt: Nach dem Ende der ersten flüchtigen Lektüre, bevor das wahre Lesen beginnt, das vertiefte Lesen, in dem der Text auf die Möglichkeit der Übertragung ins Deutsche abgetastet wird, suche ich jedes Mal nach dem Ton, nach der Melodie, nach dem Rhythmus. Ich übersetze ihre Texte seit achtzehn Jahren, und ich weiß, dass Form und Inhalt stets um die führende Position auf der Bedeutungsskala wetteifern, wobei sie sich unzertrennlich verflechten. Der Sound ist das tragende künstlerische Element in Sajkos Werken, die Klangsäule, um die sich das Erzählte windet.
Die Form bestimmt den Inhalt, die Form wird zum Inhalt, der Inhalt verkörpert sich in der Form. Ivana Sajko, die vor allem in der Theaterwelt als politische Autorin rezipiert wurde, hat immer betont, dass ihre poetologischen Entscheidungen, die häufig ein Wagnis bedeuten, eigentlich politisch seien. Politisch sei es, eine derart radikal eigenartige Stimme zu gestalten, und das sei mitunter politischer als der Inhalt des Textes selbst, so eine ihrer Thesen. Denn das Risiko einer solchen Stimme, die jenseits des Mainstreams und jenseits aller literarischen Moden ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, besteht in der Gefahr, als kompliziert und unverständlich abgetan zu werden. Um diese Stimme zu finden, lese ich jedes Mal zuerst den Originaltext laut, ich brauche das, um mich in eine Art Trance zu versetzen, die Methode mag befremdlich anmuten, aber nachdem ich den Roman einmal laut vorgelesen habe, ist der Rhythmus in meinem Ohr und in meinem Bewusstsein eingeschrieben. Und in jedem ihrer Werke – in den Dramen wie auch den Romanen – ist der Rhythmus anders, der Ton wechselt. Auch wenn es immer ihr eigner, erkennbarer Stil bleibt, ist jedes ihrer Werke in einer anderen Tonalität, in einem anderen Tempo geschrieben.
Dieses Mal hat sich die Autorin für Atemlosigkeit entschieden: „Ich kann nicht atmen“, dieser Satz, der unsere Epoche wie kein anderer belastet, der zum Ausdruck tiefster existentieller Not geworden ist, wird hier zum stilistischen Merkmal, zum Erzähltempo, zum bedrohlichen Beat.
Unser Zeitalter, das gekennzeichnet ist von verschiedenen Phänomenen, die einem buchstäblich die Luft nehmen – die Pandemie, die rassistische polizeiliche Gewalt, das Leiden der Flüchtlinge, die in überfüllten Lastwagen und Zügen Europa zu erreichen versuchen oder die im Mittelmehr ertrinken, ist zum Zeitalter der Atemlosigkeit, des Erstickens und des Ertrinkens geworden. Um uns in das Gefühl des Gehetztseins und in dieses Japsen nach Sauerstoff zu versetzen, setzt die Autorin alle Register ihrer Kunst ein. Das beinahe physische Gefühl des Hetzens genauso wie des Ringens nach Luft begleiteten auch mich bei meiner Arbeit. Da ich einleitend die Europa-Trilogie von Lars von Trier sehen wollte – und ich musste sie sehen, da sie zu der Reihe der Filme gehört, die den Referenzrahmen des Romans darstellen –, begleitete mich das Gefühl der fehlenden Luft nachhaltig.
Ich habe vor vierzehn Jahren ein Theaterstück von Ivana Sajko namens „Europa“ übersetzt, es ist 2008 als ein Teil der Trilogie Archetyp: Medea, Bombenfrau, Europa beim Verlag der Autoren erschienen. Sajkos „Europa“ ist eine geniale (und feministische) Abrechnung mit dem warmen Bad der Sprüche über Menschenrechte, Demokratie und Gleichberechtigung, in dem die alte Dame Europa sich zu waschen versucht hat, um so rein und fein alle anderen um sich herum belehren zu können; damals wurde Kroatien nicht in die EU aufgenommen, dem Land haftete noch der letzte Krieg an. Es sah so aus, als rümpfe die Dame Europa die Nase, wenn sie etwas vom Balkan hörte, da sie selbst angeblich keinen Krieg mehr kannte; dabei ist sie in dem Stück mit einem pensionierten General namens Krieg verheiratet. Damals war ich zwar verbittert über unser verlogenes Europa, aber auch belustigt über diese humorvolle Art, mit der Sajko in diesem Stück die lange und fruchtbare Ehe zwischen Europa und dem Krieg dargestellt hat (ihre „Kinder“ bilden einen Chor, der ähnlich wie in den alten griechischen Dramen, das Geschehen kommentiert). Vierzehn Jahre später staunte ich über die Wucht, mit der Ivana Sajko uns erneut mit der Verlogenheit Europas konfrontiert, wobei sie u. a. der bedrückenden Aktualität der Trilogie von Lars von Trier (The Element of Crime (1984), Epidemic (1987) und Europa (1991)) einen neuen Sinn verlieh. Dieses Mal war es für mich schwer, belustigt zu sein, obwohl Ivana Sajko eine durch und durch humorvolle Autorin ist. Allerdings kann einem manchmal das Lachen im Halse stecken bleiben. Ich konnte nur staunen, wie treffend Sajko ausgerechnet diese Filme des dänischen Regisseurs als Referenz gewählt hat; sie zitiert den Prolog:
EUROPA de Lars Von Trier - Prologue
„Ich werde jetzt von eins bis zehn zählen, bei der Zahl zehn wirst du in Europa sein, ich sage eins, und während du deine Aufmerksamkeit vollständig auf meine Stimme fokussierst, beginnst du dich langsam zu entspannen, zwei, deine Hände und Finger werden warm und schwer, drei, die Wärme breitet sich durch deine Arme bis zu deinen Schultern und zu deinem Hals aus, vier …“ (Lars von Trier, Europa, 1991) (S. 22)
Und sie zitiert auch das dramatische Ende des Films und verbindet es mit einer der Schlüsselszenen der Atemlosigkeit in ihrem Roman:
„und während ich so dastehe, sehe ich, wie auf den beschlagenen Fenstern eines der Waggons eine zitternde Hand eine Botschaft auf das Glas zu schreiben beginnt, „SOS AIR, SOS, AIR, SOS AIR“, die Fenster des Waggons lassen sich nicht öffnen, in dem überfüllten Zug, der in die Tiefen Europas eindringen wird, gibt es keine Luft mehr, so endet auch der Film von Lars von Trier, der eiserne Körper der Dampfmaschine stürzt von der Brücke in den Fluss, der Hauptheld Leopold Kessler versucht, den Riegel an der Tür zu öffnen und aus dem sinkenden Waggon heraus zuschwimmen, er schlägt an die Türen, er schwimmt zum vergitterten Fenster, er holt Luft und taucht wieder zur Tür, er zerrt an ihr und schlägt auf sie ein, er kehrt zurück zum Fenster, um erneut einzuatmen, doch das Gitter liegt jetzt unter Wasser, auf dem Gesicht des Mannes, der ertrinkt, sehen wir den Ausdruck unaussprechbaren Leidens, die Stimme des Erzählers zählt die Sekunden bis zum Tod, bei der Zahl Zehn schwebt der leblose Körper Leopolds durch den versunkenen Waggon, „the force of the stream has opened the door“, erzählt Max von Sydow am Ende des Films, „and is leading you on, above your body people are still alive, follow the river as days go by, head for the ocean that mirrors the sky. You want to wake up to free yourself of the image of Europe, but it is not possible.“ / „Die Kraft der Strömung öffnete die Tür und trug dich weiter, über deinem Körper sind Menschen immer noch am Leben, während die Tage vergehen, folge dem Fluss, begib dich zum Ozean, in dem sich der Himmel widerspiegelt. Ich würde gerne aufwachen und mich vom Bild Europas befreien, aber das ist unmöglich.“ (S. 28)
5.
Der Ich-Erzähler hat einen Tief- und Wendepunkt erlebt, als er über die Flüchtlinge an dem vom westlichen Europa imaginierten europäischen Rand – an der serbisch-kroatischen Grenze – berichten wollte und als er in einem Zug voller verzweifelter Menschen eine Frau mit einem Baby erblickte, sie waren an ein Fenster gedrückt, das man nicht öffnen konnte. Diese modernen Waggons sind für klimatisierte Reisen von Touristen und Geschäftsleuten vorgesehen und nicht für den Transport von zusammengepferchten Menschenmassen: „SOS AIR, SOS, AIR, SOS AIR“. Da der Protagonist im Zug sitzt, während er in Rückblenden sein bisheriges Leben reflektiert, bilden die Satzteile, die sich pausenlos aneinanderreihen, einen eigenartigen Sog. Das Cover der kroatischen Ausgabe greift dieses Motiv auf: Vor weißem Hintergrund reihen sich in regelmäßigen Abständen schwarze Kommata:
Mit einem Aufenthaltsstipendium des kroatischen Übersetzerverbands fuhr ich für zwei Wochen nach Zagreb, jene Stadt, die Ivana Sajko vor einige Jahren verlassen hat, um heute in Berlin zu leben. Von hier war auch die Mutter ihres Ich-Erzählers nach Deutschland aufgebrochen, von hier war er zunächst in die kleine Stadt am Meer umgesiedelt, um dann von dort nach Berlin aufzubrechen. Deshalb ging ich am ersten Tag von der Residenzwohnung im Stadtzentrum zu Fuß zum Hauptbahnhof. Hier konnte ich über all diese Abschiede und Tränen nachdenken, die dieser Bahnhof gesehen hat, über all die Hoffnungen, mit welchen hier die schweren Koffer und Taschen getragen wurden, in einer Zeit, als es noch keine praktischen Rollkoffer gab. Auf einer alten Tafel begegnete ich meinem Wort: odlazak, übersetzt als departure und Abfahrt:
Hier war der Ort, an dem in einem architektonisch eindeutig habsburgischen Bau, im Hauptbahnhof von Zagreb, der Rand Europas immer wieder neu nachempfunden wurde:
Von hier aus fuhren auch die „Gastarbeiter“ aus einem weiteren Film, der für Ivanas Roman eine Rolle spielt: Specijalni vlakovi von Krsto Papić (1972):
Specijalni vlakovi (1972)
In diesem kurzen Film ist die ganze Melancholie und der Schmerz der Abschiede und der Aufbrüche dokumentiert worden; Ivana Sajko erkennt das erschwerte Atmen auch hier:
„als ich versuchte, mir ihren Aufbruch vorzustellen, fand ich einen kurzen Dokumentarfilm aus dem Jahr 1972, der in jenem Zug nach München aufgenommen worden ist, der jeden Dienstag Zagreb verließ, in einer Großaufnahme versucht eine junge Frau, ihre Tränen zu unterdrücken, mit leicht geöffneten Lippen schnappt sie nach Luft, und jeder Atemzug erschüttert ihren Körper, ‚ich bin sehr glücklich, dass ich fortgehe‘, sagt sie und hält inne, sie atmet ein und atmet ein und atmet ein, als entzöge ihr der Satz, den sie auszusprechen beabsichtigt, den ganzen Sauerstoff, ‚auf dass ich all das vergesse, was ich mit meinen achtzehn Jahren bisher erlebt habe‘“3 (S. 51 f.)
Ivana Sajko hat eine Tante, die in den Achtzigern nach Deutschland zum Arbeiten ging, obwohl es bereits einen Anwerbestopp für Arbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien gab (ab Mitte 1973), weshalb diese Tante nicht zu den legal angeworbenen Arbeiter·innen wie jene aus dem Film von Krsto Papić gehörte, sondern sich vermutlich illegal oder als Saisonarbeiterin in Deutschland aufhielt. Die Vorstellungen, die die sogenannten Gastarbeiter·innen in ihren Heimatländern über Deutschland verbreiteten, sind m. E. noch immer nicht ausreichend soziologisch und literarisch erforscht worden – an dieser Stelle schreibt die Autorin mit einer gewissen Verbitterung über die kräftigen Hände, die das deutsche Wirtschaftswunder brauchte. Jene Kinder, die bei ihren Großmüttern zurückgelassen wurden, wie der Ich-Erzähler und sein Bruder, hassten das sagenumwobene Land des Wohlstands:
„meine Mutter trennte zwischen unserer Welt und ihrer Welt, sie verwandelte sich in einen Mediator, der zwischen diesen Gegensätzen hin und her oszillierte, bei ihnen achtete man auf Ordnung, bei uns herrschte Chaos, sie waren sparsam, wir gaben ständig Geld aus, sie waren aus der Asche aufgestiegen, wir waren im Schlamm stecken geblieben, sie waren fleißige Arbeiter, wir waren Drückeberger, bei ihnen glänzte alles, bei uns zerfiel alles, das, was uns daran allerdings verwirrte, war die Tatsache, dass es unsere Mutter war, die Ordnung in ihre Unordnung brachte, sie war die, die sparte, während sie in Ausschweifungen lebten, unsere Mutter arbeitete, damit sie sich erholen konnten, und sie verbreitete überall Düfte und eine Hochglanzatmosphäre, die sie doch ihnen zuschrieb, von ihrer eigenen und unserer Minderwertigkeit überzeugt, die sie fügsam akzeptierte“ (S. 98).
6.
Der Himmel über Berlin von Wim Wenders ist ein weiterer Film, der zum Referenzhintergrund des Textes gehört:
„am Abend gingen wir ins Lichtblick-Kino, um zum wer-weiß-wievielten Mal Der Himmel über Berlin zu sehen, wir setzten uns in die letzte Reihe des winzigen Saals, ohne unsere Mäntel auszuziehen, auf der Leinwand reihten sich die bekannten schwarz-weißen Bilder aneinander: Bruno Ganz als Engel Damiel sitzt auf der Schulter der riesengroßen Skulptur auf der Siegessäule und beobachtet die halbierte Stadt“ (S. 49).
Bei der Rückkehr vom Zagreber Hauptbahnhof ging ich an der Stadtbibliothek vorbei, die in einem imposanten Gebäude namens Starčevićev dom untergebracht ist. Auf der riesengroßen Kuppel auf dem Dach glänzte eine goldfarbene, beflügelte Statue, die Freiheit und Bildung symbolisiert, sie ist die Schwester jener Berliner Statue auf der Siegessäule, allerdings ist ihre allegorische Bedeutung subtiler und edler. Ich schaute in die Höhe, aber kein Engel saß auf ihren Schultern. Sie stand da oben, als ob sie den Aufbrechenden auf dem gegenüberliegenden Bahnhof zuwinken wollte:
7.
Wie ein Leitmotiv zieht sich das Ziel „Deutschland“ durch den Roman: Dorthin fährt der Ich-Erzähler, dort war er mit seiner Freundin glücklich, von der er jetzt getrennt ist, dorthin ging seine Mutter, als sie den gewalttätigen Ehemann verlassen hatte, um etwas Geld zu verdienen, in Deutschland hat der Ich-Erzähler seine Vorträge für bescheidene Honorare und Tagesgelder gehalten, denn in Deutschland führte man Diskussionen über Demokratie, Menschenrechte und ein besseres Leben für alle, an denen er sich beteiligte, Deutschland ist schließlich der Ort, an dem es bereits Fotos von Szenen der Zerstörung und der Gewalt gab, bevor sie über ganz Europa schwappten. So wird an einer Stelle im Roman das berühmte Foto einer toten Frau am Halleschen Ufer des Fotografen Jefgenij Chaldej beschrieben:
„ich bin gerade an dem Ufer entlanggefahren, an dem im Frühling 1945 eine Dame mit Hut fotografiert wurde, sie liegt auf dem Boden, einen Handschuh ausgezogen, auf der Bank und auf dem Boden um sie herum liegen einige Gegenstände verstreut, während im Vordergrund deutlich ein Zettel zu sehen ist, darauf ein handgeschriebener Text, die Bildunterschrift erklärt, dass es sich um eine Selbstmörderin handelt“ (S. 101 f.).
Ein weiteres Foto von Jewgenij Chaldej wird in der Folge beschrieben:
„auf einem anderen Foto ist eine Gruppe älterer Frauen zu sehen, die einen russischen Panzer beobachten, sie drängen auf den Zwischenraum zwischen zwei Fahrbahnen, eine hält ein Reservepaar Schuhe in der Hand, eine andere drückt ein Fuchsfell fest an sich, dieses ist zur Hälfte in ein Tuch eingeschlagen“ (S. 102).
Doch bevor die Stadt in einer einzigen selbstmörderischen Ruine unterging, hatte es in ihr sorgloses Leben gegeben, dokumentiert im Film Menschen am Sonntag, den uns der Ich-Erzähler, der in seinen Monologen historische Bögen in Zeit und Raum schlägt, so beschreibt:
„Ich fahre mit meinem Fahrrad am Halleschen Ufer entlang, ich erinnere mich gut an meine gewöhnliche Route von Kreuzberg in Richtung Westen, ich fahre zur Kurfürstenstraße, dann über den Nollendorfplatz und fahre weiter vorbei an der Urania und dem Wittenbergplatz zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, in der Nähe liegt der Bahnhof Zoo, dort drehten im Sommer 1929 die Gebrüder Siodmak einige Szenen für ihren Debütfilm, der Untertitel lautete „Ein Film ohne Schauspieler“, da nur Laien darin auftraten, der Film Menschen am Sonntag beginnt am Bahnhof Zoo, mitten im dichten Verkehr an der Hardenbergstraße steht Christl, sie schaut sich um, als versuche sie, jemanden zu erblicken, der nicht auftaucht, Wolfgang kommt auf sie zu und lädt sie zu einem Eis ein, schon am nächsten Morgen treffen sie sich wieder beim Picknick mit Freunden, im Film gibt es keine Anzeichen für den Nationalsozialismus, im Vordergrund stehen kleine menschliche Geschichten, Christl, Wolfgang, Erwin und Brigitte verbringen den Sonntag am Wannsee, sie hören Schallplatten von einem tragbaren Grammophon, sie schwimmen und flirten, sie spielen sich selbst, so wie auch die Stadt im Film sich selbst spielt, geräumig, monumental, in einem Stück, mit ihren Bussen, Straßenbahnen und Zügen, die sich im Verlauf der kommenden fünfzehn Jahre langsam leeren werden, um schließlich unter den Bombenangriffen der Alliierten auszubrennen“ (S. 99 f.).
final sequence of Lars Von Trier's Europa: follow the river
Aus seinem früheren Leben hat der Ich-Erzähler aus dem Roman von Ivana Sajko nur ein Buch gerettet, Baudelaires Der Spleen von Paris, das „sich auf unbekannten Wegen auf Mutters Glasregal verirrt“ hatte:
„der Abdruck meines blutigen Fingers ist auf dem Buchdeckel zurückgeblieben, dort wo auf dem Cover ein Mann mit einem halblangen Pelzmantel abgebildet ist, mit einem Zylinderhut auf dem Kopf, er raucht eine dünne lange Zigarre und blickt argwöhnisch über seine linke Schulter, im Hintergrund taucht Colonne de Julliet aus dem Dunkel auf, und unter den Strahlen der aufgehenden Sonne verwandeln sich die dunklen Umrisse in die Stadt, die Zeichnung ist von Baudelaire, und ich träumte davon, die Szene zu meinem eigenen Schicksal zu machen, ich wollte diese Morgendämmerung, diese Zigarre, diesen Zylinderhut, diese Wolken für mich vereinnahmen, diese Wolken, die Reisebegleiter jenes Fremdlings aus dem Gedicht waren, ich wollte auch selbst ein Fremdling sein, ein Reisender, den nichts bindet, vielleicht interessierte ich mich deshalb für Literatur, versteckte mich in meinen Notizbüchern, damit ich mich loslösen und befreien konnte, damit ich in jedem Augenblick die Landschaft, die Sprache, das Schicksal, das Geschlecht ändern konnte, damit ich ein wildes Tier, ein Schlachtschiff und ein Transistorradio werden konnte, damit ich sterben und dann später erzählen konnte, wie es war, als es mich nicht mehr gab, damit ich mir vorstellen konnte, wie die Welt in zehn Jahren aussehen würde, damit ich aufbrechen konnte in diese Welt, mit einem Zug, der nach Berlin fährt, dass ich sie dann wie einen hässlichen Traum fortwischen konnte, um mich in jedem Augenblick durch Flucht in eine übertragene Bedeutung retten zu können, bis ich tatsächlich zu einem Fremdling wurde“ (S. 129 f.).
Die Menschheit, so ahnen wir, nachdem wir das schwarze Buch zugeklappt haben (der Ich-Erzähler hat seinen Text in einem schwarzen Notizbuch aufgeschrieben), ist seit jenem sorglosen Berliner Sonntag nicht klüger, nicht besser und nicht weniger gewalttätig geworden. Und dennoch vertrauen wir dem Ich-Erzähler, der am Ende des Romans genau diese Normalität aus jenem alten Film der Gebrüder Siodmak und die Sorglosigkeit des Fremden aus Baudelaires Gedicht herbeisehnt:
„ich werde Zeit brauchen, bis ich ein Messer und einen Teller finde, in dieser Küche, in der ich nie zuvor eine Schublade geöffnet habe, noch tagelang werde ich das Schneidebrett nicht finden, ich werde mir ein Sandwich machen und es im Stehen vor dem Fenster essen, ich werde eine Flasche Bier öffnen und immerfort nach draußen schauen, alles, was ich sehen werde, werde ich das erste Mal sehen, so werde ich endlich in Berlin ankommen, das Notizbuch verlassen, die Botschaft meines Freundes im Handy öffnen, ‚das Gute an den ständigen Aufbrüchen ist, dass dich das Herumirren irgendwann zu den Menschen zurückbringen wird, die du liebst‘, ich werde ihm nicht uneingeschränkt glauben, aber diese Worte werden mich vielleicht ein wenig heiterer stimmen“ (S. 152).
Buch- und TOLEDO-Journalpremiere:
Am 01.10.2022 fand im Collegicum Hungaricum Berlin im Rahmen der translationale berlin
die Premiere von Buch und TOLEDO-Journal statt:
Schreiben und Übersetzen in Zeiten der Aufbrüche: Zur Übersetzung des Romans Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod von Ivana SajkoMit: Alida Bremer (Münster) und Ivana Sajko (Berlin); Moderation: Katy Derbyshire (Berlin)
Das Video der Veranstaltung findet sich hier.