Transmitterzwitter
Zur Übertragung von Lina Atfah: Grabtuch aus Schmetterlingen aus dem Arabischen
Ich übersetze einen Gesang aus Dantes Göttlicher Komödie.
Ich kann kein Italienisch.
Für sich genommen ist jeder dieser beiden Sätze ok. Zusammen sind sie absurd.1
Anja Utler
Meine Beziehung zum Belarussischen summt wie ein Bienenstock. Meine Beziehung zum Belarussischen ist ausgeflogen. Meine Beziehung zum Belarussischen trägt die Namen von Lyrikerinnen, die ich übersetzt habe [...] Meine Beziehung zum Belarussischen ist, dass ich kein Belarussisch kann.2
Uljana Wolf
[Blut | nicht Reue]
Ein Übersetzungsunfall. Blut, nicht Reue. Da waren im Gedichttext die beiden Perspektiven auf eine nicht näher eingegrenzte Schlacht im Angebot – in welcher Landschaft, in welchem Jahrhundert? –: ein immersives Miterleben am Boden oder der panoptische Blick von oben, und am Ende schien der Tod einen abwägenden Blick auf den Kriegsschauplatz zu werfen, mit Reue in den Augen. Das glaubte ich verstanden zu haben. Nur dass in der arabischen Fassung nicht Reue stand, sondern Blut. Mittlerweile waren wir bei der vierten Fassung dieses einen Gedichts, die wir hin- und herschickten, mal mit meinen Nachfragen, mal mit Osmans Kommentaren, und allmählich wäre ich mit der Übertragung gern fertiggewesen. Sah doch schon ganz gut aus, oder? Aus den Interlinear-Zeilen
Der Tod wiegt den Krieg
und der Krieg ist Augen, die die Reue herrscht
hatte ich als Strophenende entworfen:
Der Tod wägt
den Krieg,
in seinen Augen
steht Reue.
Bloß hatte im Original der Krieg Blut in den Augen statt Reue, war Osman inzwischen aufgefallen. Ein winziges Versehen auf seiner Seite, und dann hatte ich die erste Richtigstellung einfach überlesen. Überdies versuchte wohl der Tod in dieser Strophe den Krieg ganz buchstäblich in den Schlaf zu wiegen, was meine Interpretation vom abwägenden Blick, wiegen vs. wägen, klar ins Aus beförderte, gleichzeitig aber die neue Frage aufwarf, wie Blut in den Augen mit der Schlafverweigerung zusammenhing. Mich packte kurz wieder diese typische Interlinear-Verzweiflung: Auf was lasse ich mich hier überhaupt ein?
[Hitzesommer]
Inzwischen sollte ich es wissen. Der zweite Gedichtband von Lina Atfah: Grabtuch aus Schmetterlingen, ist im Druck und erscheint Anfang Oktober 2022 in einer zweisprachigen Ausgabe im Pendragon Verlag. Für die deutsche Zweitstimme bin diesmal ich verantwortlich, in Zusammenarbeit mit der Autorin und ihrem Mann, Osman Yousufi, von dem die Interlinearübersetzung aus dem Arabischen stammt. Hier schreibe ich jetzt am TOLEDO-Journal, und zwar aus der Perspektive der Nachdichterin, mit Zwischenrufen von einer Eule und einem Kleiderschrank.
Draußen ist aber noch Sommer, ein nächster Hitzesommer aus Waldbränden und Gewitterfronten, wir reden zur Zeit weniger über Corona, mehr über den russischen Überfall auf die Ukraine, überall bebt es unter den eingespielten politischen Routinen. Globale Großwetterlagen, Geopolitik, Gewaltkalküle. Im einen Moment erscheinen sie nur wie Dunstschleier am Horizont, im nächsten sind sie real und nah, Einschläge im eigenen Alltag. Die Gedichte von Atfah sind ohne den Hintergrund des blutigen Bürgerkriegs in Syrien nicht zu denken. Die Flucht mit ihrer Familie nach Deutschland. Die neue Existenz in Nordrhein-Westfalen. Aus Lina Atfah, geboren in Salamiyya, wird eine Dichterin im Exil. Osman Yousufi, geboren in Aleppo, unterrichtet nun im Ruhrgebiet Physik. Irgendwo sehe ich in diesem Sommer ein Pressefoto, auf dem die Familie von Baschar al-Assad durch Aleppos zerbombte Altstadt schlendert. Hochgeschossene Teenager mit dem Gesicht ihres Vaters, Ruinen im Hintergrund, Nachkriegstourismus. Die bodenlose Harmlosigkeit dieses Bildes. Kurz stelle ich mir vor, wie Atfah darüber ein nächstes Gedicht schriebe.
[Zweitstimme]
Und ich die Übertragung? Übertragungen sind schwieriger als eigene Gedichte und zugleich einfacher. Sie versetzen das Hirn in einen Zwittermodus. Zum einen ist da die Freude an der Zusammenarbeit unter dem Zauber arabischer Herzlichkeit. Aber auch eine Irritation, die sich eine Spur selbstsüchtig anfühlt. Ich erlebe, wie ich an Gedichten mitschreibe, die ich selbst so nicht geschrieben hätte, und doch verwandeln sie sich unter der Hand in eine gemeinsame Angelegenheit. Zwar ist das Gemeinsame der Versuch, ihnen im Deutschen eine adäquate Stimme zu geben, eine Zweitstimme, den Originalen weder zu nah noch zu fern. Doch wie „transparent“ soll darin die Nachdichterin sein? Durchscheinend? Unsichtbar?
In jedem Fall teilen wir, auch in der Poesie, einen von harten Kontroversen durchsetzten politischen Raum, in dem eine Vielzahl von scheinbar unstrittigen Begriffen längst vergiftet erscheint. Klima? Frieden? Menschenrechte? Poesie lebt von ihrem Mut zur Vieldeutigkeit, dem schillernden Möglichkeitssinn von Sprache, Metaphern, Denkfiguren. Doch wie überlebt poetische Vieldeutigkeit in den Info Wars realer Gewaltverhältnisse? Gegenüber, die nicht bluten3, habe ich Gedichte früher genannt, zuversichtlich, dass es eine haarfeine, aber unüberschreitbare Grenze dazwischen gibt, wie ein Gedicht wahr ist und wie ein Messer real ist. Oder ein Bombenangriff, eine Flutwelle, ein Hassverbrechen. Inzwischen bin ich mir weniger sicher, dass Denkfiguren nicht töten. Das Reale blutet, wenn Sprache es antreibt. Zwischen Kampfansagen und Kriegsgründen bewegen sich weder das Gedicht noch seine Übersetzung in neutralem Gelände. Wie schreibt Atfah darüber? Wie verstehe ich sie? Die Spuren nachwirkender Traumata. Die Beben unter dem Freilichtmuseum Ruhrgebiet. Die Schlacht als alt-neue Inszenierung von technisiertem Menschenverschleiß. Für die Übertragungen übernehme ich zum Beispiel von ihr Bezeichnungen, die mir so gewichtig wie unscharf vorkommen, etwa Massaker, Tyrann, Opfer, Feind, und ich versuche, die von ihr intendierte Deutlichkeit zu erhalten.
Aber die Irritation reicht über die politische Semantik hinaus. Nachdichtung ist anteilige Kunst, doch sie ist auch Dienstleistung und Handwerk. Das kommt einander manchmal in die Quere. Als erwiese sich das, was uns am stärksten verbindet – das Schreiben von Gedichten –, auch als das, was uns unversehens voneinander trennt. In meiner Funktion als Nachdichterin schreibe ich schräg versetzt gegen meinen eigenen Tonfall. Als zöge ich fremden Kindern die Sachen aus meinem Kleiderschrank an. Passen sie ihnen überhaupt? Gefallen sie ihnen? Würde man uns auf Fotos verwechseln?
[Transitzone]
Ein TOLEDO-Journal, so wie ich es verstehe, befasst sich mit den Kontexten von Übersetzen, Übertragen, Nachdichten in einem konkreten Fall. Es geht um Beispiele von Übersetzungsentscheidungen, aber ebenso um die Bedingungen, unter denen sie stattfinden. Nichts davon ersetzt natürlich die Lektüre des Gedichtbands, das eigene Nachlesen. Die Beispiele handhabe ich hier eher anekdotisch als akademisch. Noch mehr interessiert mich die spezifische Transitzone zwischen einer Exilstimme und den sich verändernden Rezeptionsbedingungen, in der wir uns mit diesem Projekt bewegen. Manche Umstände beschreibe ich auch schon in meinem Vorspann zu Grabtuch aus Schmetterlingen. Davon gibt es hier ein PDF. Osman Yousufi hat diesen Text ins Arabische übersetzt, ebenso wie das Vorwort von Jan Wagner. Damit ermöglicht der Pendragon Verlag eine komplett zweisprachige Ausgabe für eine deutsch- wie eine arabischsprachige Leserschaft, denn einen arabischen Verlag hat Lina Atfah derzeit nicht. Ihre Gedichte leben ebenso im Exil wie sie.
Dass Atfah jedoch hierzulande als arabischschreibende Autorin angekommen ist, in dem Sinne, dass sie einen so engagierten deutschen Verlag hat finden können, zu Festivals und Lesungen eingeladen wird, Arbeitsmöglichkeiten und Stipendien erhält, verdankt sich nicht nur der offensichtlichen Qualität ihrer Gedichte. Es hat ebenso mit der schieren Energie zu tun, die sie als Person ausstrahlt, und mit der Entschlossenheit, mit der sie sich von Anfang an in einer fremden Umgebung als Dichterin ihrer Sprache präsentiert. Darin unterstützt sie ihr Mann nach Kräften.
Das ist eine besondere Konstellation. Als sie 2014 in Deutschland landete, war Atfah noch keine dreißig und keineswegs eine etablierte Autorin. Sie hatte einen Debütband auf Arabisch veröffentlicht, hatte ihr Literaturstudium in Damaskus nicht beenden können. Nun saß sie in Wanne-Eickel im Sprachkurs Deutsch für Geflüchtete, A1-A2. Wo also kann sie hier überhaupt literarischen Anschluss finden? Seit dem vielbeschworenen Performative Turn4 in den einschlägigen lyrischen Formaten hat zwar im Literaturbetrieb die Aufmerksamkeit für anderssprachige Stimmen zugenommen, doch die klangvolle arabische Performance von Atfah trifft nicht überall auf dieselbe Aufnahmefähigkeit. Es war ein Glücksfall, dass sie 2017 als Autorin von der Schreib- und Übersetzungsinitiative Weiterschreiben.jetzt5 um Annika Reich eingeladen wurde. Die Idee hinter dem kulturellen Netzwerk WIR MACHEN DAS ist so einfach wie konkret: Schriftsteller·innen im Exil müssen weiterschreiben können, übersetzt werden, in der literarischen Öffentlichkeit präsent sein. Sie sind im Hauptberuf nicht Geflüchtete, sondern Künstler·innen. In individuellen Tandems mit deutschsprachigen Autor·innen entstehen gemeinsam erste Übersetzungen, Veröffentlichungen, Auftritte. Auch Atfahs Teilnahme an der Übersetzungswerkstatt Poesie der Nachbarn in Edenkoben im Sommer 2017 hat sich daraus ergeben.
[Edenkoben | Poet to Poet]
In Edenkoben begann meine erste Zusammenarbeit mit Lina und Osman. Aus dem gemeinsamen sommerlichen Übersetzen in einer größeren Gruppe ging der erste Gedichtband von Lina Atfah im Bielefelder Pendragon Verlag hervor, nämlich Das Buch von der fehlenden Ankunft, an dem ein Dutzend namhafter Nachdichter·innen beteiligt waren. Entsprechend unterschiedlich fielen die deutschen Fassungen aus.6 Das war durchaus gewollt. Seit den 1980er Jahren steht dahinter das Konzept einer europäischen Poesie der Nachbarn: Dichter·innen übersetzen Dichter·innen. Das Verfahren nennen wir inzwischen Poet to Poet, es liefert im globalisierten Poesiebetrieb viele der Gedichtübertragungen für Festivals und mehrsprachige Veröffentlichungen. Den Kern der Methode bilden Interlinearübersetzungen und der bilingual vermittelte Dialog zwischen Dichter·innen, wo eine gemeinsame Drittsprache fehlt oder das International Artists' Pidgin zur poetischen Feinabstimmung nicht ausreicht.
Bis heute beschreibt Poesie der Nachbarn das übersetzerische Anliegen dieses Konzepts als den „im Gegenüber zweier Sprachen, zweier Töne, zweier Sprachgebärden“ unternommenen Versuch zu einem „[...] dem Original in adäquater Weise begegnende[n] neue[n] deutschsprachige[n] Text“.7 Anfangs ging es um die europäische Sprachenvielfalt, dann über die Jahre hin auch um die in Europa von überallher einwandernde Mehrsprachigkeit. Schon zu Beginn der Übersetzungswerkstätten gab es die poetische Lizenz, die Vielfalt auch in das literarische Deutsch hineinzutragen, zumindest in Ansätzen: „Wie bei den vorangegangenen Bänden […] hat der Spielraum 'Dichter übersetzen Dichter' auch diesmal, die schöne Spannung zwischen Nachdichtung und mehr wortgetreuer Übertragung voll ausmessend, des öfteren in eine deutsche Mehrsprachigkeit desselben Original-Gedichts geführt, eigen und genau.“8
[Nachdichtung darf]
Ja, eigen und genau. Daran erinnere ich mich, als meine erste Erfahrung mit der interlinearen Praxis Mitte der 1990er. Eine so nahe Sprache wie das Norwegische, und doch so kleinteilige Diskussionen um jedes Wort, jeden Vers. Tatsächlich ging es nicht um multilinguale Ansätze im heutigen Erfahrungshorizont, sondern im Gegenteil um den kunstfertigen Versuch, die eine Sprache in der anderen so bruchlos wie möglich abzubilden. Immerhin gab es die Freiheit der unterschiedlichen Versionen, also des übersetzerischen Eigensinns. Was darf die Nachdichtung? Bei einem Gedicht von Eva Jensen ließ ich die letzte Zeile weg, weil ich sie zu sententiös fand für ein so bewegliches kurzes Gebilde.9 Jensen verstand den Einwand, wir einigten uns gegen den Protest der anderen. Schwer vorstellbar heute, dass sich das wie eine Mutprobe anfühlte. – Träfe ich immer noch dieselbe Entscheidung? Sicher. Aber noch lieber würde ich heute meine ganze Version entschlacken, nicht nur die letzte Zeile. Wie schnell das eigene Nachdichtendeutsch veralten kann, kaum ein Vierteljahrhundert her, manchmal ein leicht muffiger Geruch aus dem Kleiderschrank.
Die Vielfalt heute möglicher Übersetzungszugänge hingegen – sacht hebt die Eule die Flügel, sacht streicht sie ab in Richtung Athen. Obwohl dieses Athen eigentlich am Wannsee liegt, TOLEDO heißt oder Babelwerk oder aus dem Haus für Poesie als Versschmuggel funkt, online als lyrikline.org. Im ganzen föderalen System öffentlicher Literaturförderung führen heute Festivals, Stipendienprogramme, Verlagskooperationen zahllose Dichter·innen aus den unterschiedlichsten Sprachräumen zusammen. Dabei stehen höchst formbewusste poetische Texte aus weit auseinanderliegenden Weltgegenden, Literaturtraditionen und zeitversetzten Globalisierungsfolgen vor dem wiederkehrenden Dilemma: Wie angemessen kann der Austausch mittels Interlinearversionen und Dolmetscher·innen gelingen? Wie spezialisiert müssen Nachdichtungen sein? Wie offen dürfen sie experimentieren? Schönheit versus Genauigkeit, Tradition überkreuz mit Mischformen, Klang gegen Sinn. Die Neugier auf andere Stimmen endet nicht an den hybriden Sprachgrenzen, die immer auch Zonen wechselseitiger Durchdringung sind.
Wie kommt die Eule überhaupt hierher? Bevor ich sie aufsteigen sah, saß sie still auf dem Ameisenhügel, der heute mein Gedächtnis ist, Wörter mit emsigen Gliedmaßen, Stimmen von Pflanzenresten und Erinnerungsproteinen. Was ich hier zu rekapitulieren versuche, ist die Praxis solcher Übersetzungsprojekte: die dichte Kommunikation, die am Ende doch ein druckbares Ergebnis braucht, und das oft unter Zeitdruck. Gibt es die eine perfekte Übertragung, oder lernen wir etwas anderes, erfahren wir mehr aus den freily ausgefransten10 Nachdichtungsprozessen selbst?
[Von der fehlenden Ankunft]
Mit dem Rückblick auf Das Buch von der fehlenden Ankunft, Atfahs erstem hier erschienenen Gedichtband, fing jedenfalls unsere nächste Zusammenarbeit an. Die Erfahrung des vielfältigen Übersetzens in der Gruppe ließ sich nicht umstandslos auf die Übertragung der neuen Gedichte projizieren. Im Gegenteil. Die deutlichste Kritik an den Mehrfachübersetzungen stammt von Stefan Weidner. Als ausgewiesener Kenner und Übersetzer von traditioneller und moderner arabischer Poesie würdigt er in einer Rezension für die FAZ zwar das Verfahren als „interessantes Experiment“, hält es aber „im Gesamtergebnis“ doch für „fragwürdig“. Nämlich: „Unter der Hand der vielen Übersetzer mutieren die Texte zu Versuchskaninchen.“11 Zu wünschen wäre aus seiner Sicht etwas anderes, ein weniger experimenteller Ansatz bei künftigen Übertragungen der Dichterin, der den „Ton der zeitgenössischen arabischen Poesie“ besser träfe.
Es war aber weniger dieser Einwand gegen das Verfahren, der mich verblüfft hat. Im Gegensatz zu den Nachdichter·innen in Edenkoben ist Weidner ja in der Lage, die arabischen Originale zu lesen, und so vergleicht er die heterogenen Zugänge, die auf der Grundlage der damaligen Interlinearversionen von Mahmoud Hassanein und der Gespräche mit Lina Atfah entstanden sind, nicht nur untereinander, sondern mit seiner eigenen Lesart der Ausgangstexte. Unverkennbar spricht hier der versierte Übersetzer, der hilfreiche Vorschläge anzubieten hätte. Ebenso deutlich spricht der einschlägige Kritiker, der weiß, dass sich das hiesige Publikum mit aktueller arabischer Poesie noch weniger auskennt als mit deutschsprachiger Gegenwartslyrik. Er hat kaum Platz, um seine Maßstäbe darzulegen, aber er sieht es als seine Aufgabe, zu einem Urteil zu kommen.
[Schwebe]
Zu einem Urteil, von dem ich nicht sicher bin, wie ich es verstehen soll: „Dieses [mehrstimmige] Verfahren verschleiert zudem, dass manche Irritation des Lesers gar nicht auf das Konto der Übersetzer, sondern der Dichterin geht.“ Das klingt nach einer Ohrfeige, aber wer teilt sie aus? Und warum? Zwar bescheinigt Weidner dieser jungen Autorin, dass sie „die ganze Klaviatur der arabischen Dichtung seit alter Zeit zu ihrer Verfügung“ habe, plus die modernen Trends in der arabischen Gegenwartspoesie. Bloß warnt er sie eindringlich davor, dieses Können allzu virtuos auszureizen. Besonders, wenn die Gedichte „Gefühle ausdrücken wollen oder persönlich klingen, autobiographisch, verläuft die Grenze zum Poesiealbum fließend.“12
Hat er damit recht, fragte ich mich bei der Vorbereitung auf die neuen Gedichte. Geht es um etwas zu Persönliches, zu Autobiographisches? Fand ich doch selbst damals in Edenkoben manche Gefühlswallungen zu wörtlich ausbuchstabiert oder allzu verschwenderisch mit Rosen, Tränen und Herzschmerz garniert. Auch ist Weidner besser gerüstet, arabische Klischees zu entdecken, wo ich im Zweifel fein ziselierte Arabesken vermutet hätte. Gegen dieses typische Missverständnis des „Arabesken“ setzt er sich schließlich seit Jahrzehnten zur Wehr und plädiert immer wieder für Übertragungen, die sich am breiten Spektrum moderner Poesie orientieren.13 Was also lässt mich, bei aller Expertise, an eine Ohrfeige denken? Vielleicht ist es das seltsam ambivalente Fazit (um es nicht gönnerhaft zu nennen), mit dem Weidner seine Rezension des Buchs von der fehlenden Ankunft abschließt:„Wenn es [Atfah] gelingt, sich zu beschränken, und sie demnächst vielleicht einen Übersetzer findet, der ihr eine klare, eindeutige Stimme verleiht, werden wir mit dem vorliegenden Buch die ersten deutschen Texte einer großen Dichterin gelesen haben.“14
Hätte ich mir das zu Herzen nehmen müssen, als Arbeitsauftrag? Atfah jene „klare, eindeutige Stimme [zu verleihen]“, wie sie Weidner vorschwebt? Sagen wir es so: Ein derart klügerer Übersetzer kann ich definitiv nicht sein. Zwar werde ich mich im Dialog mit den neuen Gedichten am Ende öfter für eine kühlere, knappere Lösung entscheiden, aber aus anderen Gründen. Zweifelsohne wünscht sich Atfah, dass sie im Deutschen verstanden wird, und sie ist sich bewusst, dass nicht jede arabische Trope dazu gleichermaßen beiträgt. Es geht aber nicht darum, die persönlichen Inhalte zu beschneiden. Diese neuen Gedichte befinden sich in einer Schwebe zwischen Ausgangs- und Zielsprache, nicht nur, weil die Autorin sich mit ihrem Schreiben im Exil einrichten muss, sondern auch, weil sie im Alltag zunehmend Erfahrungen in der Zweitsprache Deutsch macht, die allmählich sie und ihre Texte verändern. Ich glaube, dass darin – wie in unser aller Texten – die Einflüsse von Mehrsprachigkeit und Translingualität zunehmen und in der Übertragung mitbedacht werden müssen.
[Interlinear-Prozesse]
Trotzdem. Die typische Interlinear-Verzweiflung entspringt dem quälenden Verdacht, dass ich gar nicht erst verzweifeln müsste, könnte ich selbst Arabisch. Oder Koreanisch, Griechisch, Katalanisch, zum Beispiel. Gar nicht zu reden von Russisch, Norwegisch, Indonesisch und so weiter. Seit dreißig Jahren übersetze ich mittels Interlinearversionen aus Sprachen, die ich kaum lesen kann, geschweige denn verstehe, aber immer kommt der Punkt, an dem ich glaube, wenn ich der Ausgangssprache besser gewachsen wäre, wäre das Nachdichten ein Klacks. Intuitiv, aus dem Handgelenk. Ich hielte mich gar nicht erst mit den Unterschieden zwischen Sprachen oder Sprachfamilien auf, weil mein mehrsprachiges Hirn sie kaum wahrnähme, es lieferte Wörter, Wendungen, Windungen auf Autopilot, ähnlich wie beim Simultandolmetschen. Mühelos übertrüge es die erstarrte Metapher aus der einen Sprache in eine gängige Formel aus der anderen, mühelos kalibrierte es die Verbformen, die Fälle und die Pronomen, mühelos tanzte es ein paar etymologische Takte mit den False Friends. Weshalb sich mein dichtendes Hirn nur noch auf die Aufgabe konzentrieren müsste, wie so ein intuitiv erfasstes Gedicht aus seiner Ausgangssprache heil in jener Zielsprache ankommt, die ich am allerintuitivsten gebrauche. Nennen wir sie Deutsch.
Das Corona-Jahr 2020, das Corona-Jahr 2021, das Corona-Jahr 2022. In mehreren Schwüngen schickte Osman die Dateien mit seinen Interlinearversionen von Wanne-Eickel nach Berlin. Was ich zu diesem Zeitpunkt vor mir hatte, sah oft noch nicht wirklich aus wie Deutsch. In zwei Tabellenspalten liefen nebeneinander von links nach rechts die deutschen Zeilen, von rechts nach links die arabischen. Wenn möglich, wünsche ich mir bei allen Interlinearprojekten so einen unmittelbaren Vergleich, egal, zu welcher Sprache. Obwohl ich die arabischen Zeichen nicht lesen kann, geben sie mir doch ein Gefühl dafür, welche Gestalt ein anderssprachiges Gedicht auf dem Papier hat. [PDF]
Üblicherweise meint Interlinearversion die Wort-zu-Wort-Übersetzung eines Ausgangstexts in eine Zielsprache, und zwar mittels einer a-grammatischen Nachstellung der ursprünglichen Syntax, samt Verweisen auf ausgangssprachliche Kontexte, Traditionen, Eigenheiten, Etymologien.15 Im Netz, sieht die Eule bei ihrem Flug über den Ameisenhügel, geistern dazu die historischen Abbildungen von mehrsprachigen Unter- und Oberzeilen auf mittelalterlichen Pergamenten oder von pittoresken Bibelübersetzungen aus Kolonialzeiten. Tatsächlich gibt es solche Interlinearprozesse überall, wo übersetzt wird, und sei es als Zwischenstufe oder Verschwindestoff. Darauf hat auf Babelwerk erst jüngst Theresia Prammer in einem Essay hingewiesen, der den unverzichtbaren Gebrauch von Interlinearversionen im Übersetzen von Lyrik aus allen Ecken der Welt reflektiert und sie als „unterschätztes Vehikel einer heimlichen Poetik“ bezeichnet.16 Sie macht in der Definition als „Hilfsversion“ oder „Rohübersetzung“ eine implizite Abwertung aus und stellt den Widerspruch darin bloß: „Seltsam eigentlich, handelt es sich bei der Interlinearversion doch weniger um eine Aufstiegshilfe als um eine Art Netz oder Gerüst, das aus der Endfassung nicht wegzudenken ist. Ein Röntgenbild des Textes könnte diese Strukturen freilegen und würde vielleicht auch den Verdacht erhärten, dass manche Ergebnisse von Dichteraustauschprojekten lediglich aufgehübschte Interlinearversionen sind. Ohne ihnen diesen Umstand anzukreiden, denn ihr Auftrag bestand schließlich darin, aus der Interlinearversion 'ein Gedicht' zu machen. Was im Umkehrschluss wohl bedeutet, dass eine Interlinearversion noch kein Gedicht ist, sondern im besten Fall zu einem Gedicht Anlass gibt.“
Das halte ich für eine treffende Diagnose, und zwar mit Nebenwirkungen. Die heimliche Geringschätzung der Interlinearversion als Rohfassung wertet auf der anderen Seite die Zutat der dichterischen Intervention deutlich auf. Will heißen: Dichter·innen übersetzen Dichter·innen mit poetischen Mitteln, die sich noch über die bilinguale Expertise erheben. Für das Interlineare gilt allerdings die Bilingualität als stillschweigende Voraussetzung. Die Interlinearversion soll von Expert·innen stammen, die die Ausgangs- und die Zielsprache gleichermaßen beherrschen. Soweit d'accord, nämlich im Umkehrschluss: Wenn ich in meinen eigenen Gedichten komplexe Schattierungen entfalte, wie will ich sie dann bitte übersetzt sehen? Eben. Überall werden Gedichte als besondere Form ihrer Ausgangssprache verstanden, verschwistert mit Klangzauber, Gesellschaft, Weltdeutung. Das muss nicht mit mythischer Überhöhung einhergehen. Auch die arbeitsteiligen, kommerzialisierten Unterhaltungsindustrien produzieren erfolgreich künstlerischen Bedeutungsüberschuss. Aber Dichtung gilt oft als marginal und sakrosankt zugleich. Im Hintergrund schwingt dabei das nationalsprachliche oder kulturenspezifische Pathos älterer Inkarnations- und Repräsentationszuweisungen mit, das nach einer besonderen sprachlichen Kompetenz verlangt. Nur die Eingeweihten kennen sich aus.
[Blut | nun gut]
Blut, nun gut. Die Eule stutzt und scrollt zurück zum Anfang: Blut, nicht Reue. Der Unterschied zum Wort für Reue betrage im Arabischen genau ein Zeichen, beim ersten Übersetzen habe er selbst sich verlesen, sagte Osman, aber die Reue in den Augen sei leider Blut. Das hatte Google Translate (GT) zwar schon gewusst, aber diesen GT-Versionen ist nur bedingt zu trauen. Weswegen ich sie zwar im Vergleich nutze, wo das überhaupt möglich ist. Natürlich werden sie ständig besser, aber es kommt immer noch sehr auf die jeweilige Sprache an, aus der oder in die dabei übersetzt wird. Zum Beispiel scheinen mir die Übersetzungen aus dem Arabischen ins Deutsche erst einen Umweg über das Englische zu nehmen. Oder warum wurde z.B. ein Wort, das Osman als Lineal übersetzte, von GT als Herrscher ausgeworfen? Haha, genau.
Hier aber schlug GT vor:
Der Tod droht mit Krieg
Und Krieg ist Schlaflosigkeit Augen offen für Blut
Das war, siehe oben, zumindest ein Schritt weiter. Allerdings wusste ich nicht, auf welchem Wege bei GT ein Drohen mit dem Krieg ins Spiel gekommen war, statt wiegen, also fragte ich ein weiteres Mal bei Osman nach: Wiegen in welchem Sinn? „Wie Mutter und Baby. Der Tod versucht, den Krieg zum Schlaf zu bringen aber der Krieg bleibt wach wegen Blut.“ Aha. Die Schlaflosigkeit wieder, zu der Osman wenig später noch einen weiteren Vorschlag lieferte: „Der Krieg ist insomnische rote Augen die dich anstarren“. Jetzt kann es endlich klick machen:
Der Tod wiegt
den Krieg in Schlaf.
Rot blinken seine schlaflosen
Augen dich an.
Hätte ich das nicht gleich so sagen können? Die Wochen vergehen, und manchmal frage ich mich, ob ich die Dinge unnötig kompliziere.
[Cargo schmargo]
Allerdings: In welcher Sprache sprechen denn die einsprachigen Gedichte, die wir so selbstverständlich einer bestimmten Sprachfamilie zuordnen? Ist es – in diesem Fall – das poetische Hocharabisch, in dem Lina Atfah schreibt? Das hochindividuelle Wörterbuchdeutsch, in das Osman Yousufi sie übersetzt? Das Gedichtdeutsch aus meinem Kleiderschrank? Ist es in allen diesen Zuständen dasselbe Gedicht? Gehört es zu seiner Gedichthaftigkeit, unterwegs zwischen Sprachen immer dasselbe Gedicht zu sein?
Den erhellenden Essay „Wovon wir reden, wenn wir von mehrsprachiger Lyrik reden“ beginnt Uljana Wolf mit einer Art Diktum:
Das Gedicht ist in einer Sprache geschrieben.
Das Gedicht ist niemals in einer Sprache geschrieben.
Das einsprachige Gedicht spricht mehr als eine Sprache.
Das mehrsprachige Gedicht spricht als Sprache
[…]
Das Gedicht ist dies, ihr cargo schmargo.17
Aus dieser Perspektive hält Wolf sich mit dem einsprachigen Gedicht erst gar nicht auf. Das leuchtet mir mühelos ein. Erfinden sich Gedichte nicht immer schon ihre eigene Sprache, buchstäblich jedes Gedicht eine neue unerhörte Sprache? Auch wenn sie dafür aus den Reservoiren erprobter poetischer Formen schöpfen, die sich zu immer neuen –: Gebilden? Entitäten? Stromschnellen? zusammenstrudeln, ist ihr Verhältnis zu dem, was wir ihre Ausgangssprache nennen, doch eher prekär als repräsentativ oder triumphal. So haben es bloß die nationalsprachlich aufgeforsteten Philologien nicht gern verstanden.
Jetzt kribbelt es im Ameisengedächtnis. Das Gegrummel damals, als ich im deutschsprachigen Literaturbiotop der frühen 1990er meinen ersten Gedichtband mit einem schein-englischen Titel veröffentlichte. Im Hintergrund der Verlagsgespräche murrten halblaute Zweifel. Schein-Englisch, ging das? Heute erkläre ich mir den fernen Unmut mit einer noch fast ständischen Idee davon, wie diese Veröffentlichung mich als Debütantin in eine Art nationale Lyrikgilde aufnahm, die mit anderen nationalen Lyrikgilden weltpoetische Beziehungen pflegte. Als verletzte ich mit diesem Titel einen – unter all den nachkriegsdeutschen Unter- und Obertönen – mühsam wiederhergestellten kosmopolitischen Kodex. Oder ich erfüllte ihn nicht gut genug. Gehörte zur weltpoetischen Gildendiplomatie nicht der Auftrag, dass Dichter·innen andere Dichter·innen übersetzten? War ich dafür überhaupt gerüstet?
[Mind-boggling]
Auftritt des wunderbaren Klett-Lesebuchs A 11 Lyrik18 von 1969: ein nagelneues Lehrbuch für den Deutschunterricht in der gymnasialen Oberstufe der frühen 1970er Jahre. Ich konnte damals mein Glück kaum fassen. Zuhause standen Deutsche Balladen im Bücherschrank und die üblichen Verdächtigen des 19. Jahrhunderts, plus Rilke und Morgenstern, aber das Klett-Lesebuch reichte über die Expressionisten weiter bis zu Brecht, Celan, Eugen Gomringer, und es präsentierte ein paar Gedichte von Frauen: Droste-Hülshoff, Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Bachmann, Borchers. Es gab sie also. Dichterinnen. Zudem am Ende des Buchs eine Sektion, die sich mit dem Übersetzen befasste, vom Minnesang über Baudelaire bis e.e.cummings. Mind-boggling fand ich die Seite, auf der zwei unterschiedliche englische Versionen von Hölderlins Hälfte des Lebens abgedruckt waren.19 Den Ausdruck mind-boggling kannte ich natürlich noch nicht. Mein Englisch war mäßig, eine tote Schulsprache unter den anderen, Latein, Französisch, doch die abgedruckten Beispiele setzten etwas in Bewegung. Eine neue Ahnung von Gedichten, eine neue Ahnung von Sprachüberschreitung. Die allerdings gleich wieder zum Stillstand kam, denn die Warntafel aus dem Unterricht hieß: Das kann nur, wer's wirklich kann! Schamvolle Erinnerungen an ein erstes Herumstümpern mit Gedichten von René Char und Sylvia Plath, mithilfe von Wörterbuchfranzösisch, Wörterbuchenglisch. Dafür wusste ich mich in keiner Sprache gut genug.
[Wörterbuchdeutsch]
Wörterbuchdeutsch, sage ich aber hier, wenn ich die Interlinearversionen von Osman Yousufi meine, und frage mich für einen Moment, ob das geringschätzig klingt. Nichts könnte falscher sein. Sein Wörterbuchdeutsch ist für sich schon beeindruckend, weil er den Prozess des Übersetzens nicht nur intuitiv, sondern systematisch begreift. Erst recht bin ich beeindruckt, wenn ich mich an seine Stelle versetze. Könnte ich das denn: ein verfluchtes Flackern der Weltgeschichte, das Entkommen in ein Exil, Arabisch als meine neue Alltagssprache? Von einer Schreibsprache gar nicht zu reden.
Genau darauf musste sich Osman einlassen, sobald er sich hier um die Übersetzung von Linas Gedichten zu kümmern begann. Sein in wenigen Jahren erworbenes Deutsch ist von Anfang an nicht nur eine neue Alltagssprache, zu der die Sprachkurse für Geflüchtete ihm einen Einstieg boten und vertiefende Kurse an der Universität dann etwas wie ein akademisches Niveau. Es ist ebenso eine Literatursprache, im doppelten Sinn. Er braucht sie nicht nur für das künftige Übersetzen von Linas Texten, sondern auch für die Orientierung im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Wo finden hierzulande arabische Gedichte statt? Wer nimmt sie in welchen Kontexten wahr? Wie und von wem werden sie übertragen, nachgedichtet? Weiterschreiben.jetzt und Poesie der Nachbarn machen Osman mit der vielfältigen Praxis der Interlinearversionen bekannt, überhaupt mit der deutschsprachigen Infrastruktur des literarischen Übersetzens und den Fördermöglichkeiten, etwa durch den Deutschen Übersetzerfonds oder die Kunststiftung NRW.
Wäre es nicht trotzdem einleuchtender gewesen, sich eine professionelle Literaturübersetzer·in aus dem Arabischen zu suchen? Unbedingt, sagt noch die Erinnerung aus dem Kleiderschrank. Not at all, murmelt ganz hinten ein aufsässiger Minirock. Es gibt nicht umsonst Hunderte und Aberhunderte von aufschlussreichen Essays über das kenntnisreiche Übersetzen von Gedichten aus einer Sprache, die man hinreichend oder besser noch außerordentlich gut beherrscht. Das Argument verschärft sich schnell zu einer conditio sine qua non, sobald es um einsprachige Gedichte geht. Ihre poetische Tradition, ihre komplexen Valeurs, die virtuose Abweichung, etc. pp. Das leuchtet mir auch mühelos ein. Aber so expertenhaft ist Osman kaum zu seinem beeindruckenden Wörterbuchdeutsch gekommen.
[Wir-Sprache]
Hier muss die Eule kurz Rast machen und wieder zurückschauen. Das einsprachige Gedicht? Habe ich es nicht vorhin noch gegen seine Ausgangssprache verteidigt? Als eigensinnig in allen Registern. Längst oder historisch immer schon unterwegs in einer komplexen Multilingualität, die das menschliche Sprachverhalten genauer trifft, als es die Fiktion der fixierten Nationalsprache tut. Dabei bleibe ich. Aber natürlich gibt es die Einsprachigkeit in einer vertrauten Erstsprache, Familiensprache, Umgebungssprache. Ich zum Beispiel war ein einsprachiges Kind in einer Mehrheitsgesellschaft, die mich sprachlich nicht infragestellte. Das Bildungsprivileg tat ein übriges. Wer aber unfreiwillig den eigenen Sprachraum, die vertraute Sprachfamilie wechseln muss, spürt, welcher unverzichtbare Weltzugang damit zusammenbricht. Lina Atfah schreibt auf arabisch, in einer weiträumigen Weltsprache mit einer langen Tradition, die von mehreren hundert Millionen Sprecher·innen als Erstsprache gesprochen wird. Als klassische Sprache der Poesie und des Korans hat sie einen enormen Hallraum. Zwar gibt es in allen Sprachen Gedichte, aber längst nicht alle Dichter·innen können im Bewusstsein eines potentiell so großen gleichsprachigen Publikums schreiben. Der Hallraum beeinflusst, wie sie selbst und auch wie wir ihre Gedichte wahrnehmen. Dennoch ist hierzulande, wo ihre Gedichte nun entstehen, Arabisch eine Migrations- und Diasporasprache, die von der deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft kaum anerkannt wird.
Aber Lina Atfah kann und will ihre Schreibsprache nicht wechseln. Vielleicht spüre ich darin eine Gemeinsamkeit, die mit dem Spracherwerb in einer weitgehend monolingualen Umgebung zu tun hat.
Ich war ein einsprachiges Kind, was das Kind nicht wusste. Das Kind sprach einfach die Wir-Sprache, die alle sprachen, so wie in anderen Ländern die Menschen eine andere Wir-Sprache sprachen. Kurz stockte mir der Atem bei dieser Vorstellung. Zum Glück, erfuhr ich dann, wurde den Kindern anderswo die andere Wir-Sprache von ihren Eltern rechtzeitig beigebracht. Sogar das unaussprechbare Tie-Äitsch oder das schnellzüngige Französisch. Hier grenzte schon die nach Osten und Westen verstreute weitere Familie an, eine auch in der Nachkriegszeit noch merkwürdig verschwommene Zone von nicht-ganz-deutschen Zuordnungen. Allerdings verstand Gott alle Sprachen der Welt, wusste das Kind, sogar die toten. Er selbst sprach am liebsten Latein. Nur nicht in der Wüste, da sprach er Aramäisch. Darum musste ich mich aber nicht kümmern. Aufgewachsen in einem Hochdeutsch, das außerhalb der Familie vom schweren Dunst des Rheinischen durchzogen war, hatte ich als Kind also längst eine Vorstellung von anderen Sprachen. Ich blieb aber monolingual in dem Sinn, dass ich dieses heimische Hochdeutsch für die natürlichste Sprache der Welt hielt. In kindlicher Logik nahm ich auch an, dass der Zweite Weltkrieg sich hätte vermeiden lassen, wenn die feindlichen Armeen alle dieselbe Sprache gesprochen hätten, notfalls mit sprachkundigen Unterhändlern wie bei Karl May.
Das glaubt das Deutsch aus meinem Kleiderschrank vielleicht heute noch.
[Setzung | Übersetzung]
Was im einsprachigen Gedicht ist also das Gedicht? Urs Engeler geht dieser Frage mit einem so einleuchtenden Verfahren nach, dass sich die aporetischen Diskursknäuel vieler Poesiedefinitionen in Luft aufzulösen scheinen. Immer beginnt das Lesen bei ihm mit dem Vorlesen, laut und in der Gruppe, und dem Gespräch über das, was das wiederholende Lesen und Vorlesen von Mal zu Mal deutlicher hervortreten lässt.20 Damit gibt er den oft fruchtlosen Versuchen, über die kritisch-systematische Analyse von Gedichten dem eigensinnigen Vexieren von Form = Inhalt = Form auf die Spur zu kommen, eine ganz andere Richtung. Das Gedicht erwacht in der Wiederholung immer aufs neue zu seiner charakteristischen Wippbewegung zwischen Deuten und Ausführen. Wie also versteht man dabei „ein Gedicht als Gedicht“?21
Über das Nicht-Verstehen, lautet Engelers paradoxer Vorschlag. Wir befinden uns hier in seinem Kapitel „Setzung und Übersetzung“, das sich sehr lange mit vier französischen Zeilen von Samuel Beckett beschäftigt, um zu zeigen, wie gerade die oft beschworene „Unmöglichkeit der Übersetzung von Dichtung“22 – er bezieht sich hier auf Andrea Zanzotto, der wiederum sich auf Dante bezieht23 – einen Schlüssel bietet, oder genauer, so stelle ich es mir vor, eine Aufschließbewegung, ein Einstecken und Drehen und nochmal Drehen, um sich ein Gedicht aus dem Nicht-Verstehen heraus zu erschließen.
So gesehen denke ich natürlich schon lange, dass das Übersetzen von Gedichten eine besondere Form des Nicht- oder Missverstehens ist. Mind-boggling. Ich muss dabei auftrennen, was das Gedicht von sich aus eben nicht auftrennen kann, nämlich das Wie seiner Form und das Was seines Inhalts.
Engelers Einstieg braucht Geduld. Tun wir, als könnten wir kein Französisch, gibt er vor (in der Schweiz!), und konzentriert sich zunächst auf den Klang und das Schriftbild von Silben, Reim und Zeilenfall. Aus der hör- und sichtbaren Struktur lässt sich schon erstaunlich viel vom Gedicht als Gedicht erschließen, ehe überhaupt eine einzige Wortbedeutung zum Zuge kommt. Erst im nächsten Schritt analysieren die Teilnehmer·innen dann Vokabular und Syntax und verlassen dabei die didaktische Fiktion der unbekannten Fremdsprache. Sie erschließen sich das Französische nun Wort für Wort, um damit endlich bei Engelers Mantra anzukommen: „Ein Gedicht zu verstehen bedeutet … seine Wortwörtlichkeit zu verstehen, die Bestimmtheit, die es eben dadurch hat, dass es diese Wörter so und nicht anders setzt.“24
[Springender Punkt]
Das hilft mir aber noch nicht. Ich muss gar keine Fiktion des Nicht-Verstehens aufbauen, um die arabischen Gedichte von Lina Atfah nicht zu verstehen. Zwar höre ich den betörenden Klang, aber vermutlich könnte mir Lina aus einer Anleitung für Reaktorbau vorlesen, und ich wäre immer noch betört. Und selbst wenn ich nach vielem Hinhören die Reimstruktur und die vermuteten Wortwiederholungen deutlicher wahrnähme, wüsste ich doch nur, dass ich sie so nicht im Deutschen nachbilden kann. Das hatten wir schon, oder? Beim Übersetzen ist die Wortwörtlichkeit gerade kein Gedicht. Hier spricht Engeler die Situation von Nicht-Muttersprachler·innen an: „Sie verstehen nicht, oder sie verstehen falsch“, nämlich nicht „wie es das Wörterbuch macht und wie es der macht, der glaubt, die Sprache [...] zu beherrschen“, q.e.d., sondern dadurch, dass sie die Wörter missverständen, sie wortwörtlich nähmen.25 Gerade darin kann etwas entstehen wie das produktive Missverständnis. Oder, um es mit Engeler zu sagen:„Wenn der springende Punkt eines Gedichts seine Wortwörtlichkeit ist, dann muss in der Wortwörtlichkeit der Übersetzung gleichfalls der springende Punkt liegen. Bloß ist der springende Punkt dabei der, dass es nicht dieselbe Wortwörtlichkeit sein kann, weil die Übersetzung per se andere Worte hat. Man kann dasselbe also nur sagen, indem man nicht dasselbe sagt.“26
Das ist aus der Sicht von literarischen Übersetzer·innen natürlich nichts Neues, aber die Zahl mehr oder weniger eiliger Rezensionen, die aus komplexen Übertragungen einzelne Zeilen oder Sätze herausgreifen, um daran das Exempel der Nichtübereinstimmung mit dem Original zu konstatieren, ist bekanntlich Legion. Seufz. Auf die schwierige Frage, welche Aufgabe heute die Stimme der Kritik in einer Rezension wahrnimmt, kann ich hier nicht näher eingehen.27 Die praktische Frage, die sich von dieser Definition Engelers aus stellt, auf einer gleitenden Skala denkbarer Gedichtübersetzungen, lautet also wieder: Was verdankt ein Gedicht der Spannung zu seiner Ausgangssprache? Und was braucht es davon in der Zielsprache, die diese Spannung mit anderen Mitteln erzeugen muss?
[Transmitterzwitter]
Die schriftliche Interlinearversion ist beim Poet-to-Poet-Verfahren das eine, das andere ergibt sich aus dem direkte Gespräch mit der Dichter·in, ob mündlich oder schriftlich, direkt in einer Drittsprache oder über bilinguales Dolmetschen. Wenn oben Theresia Prammer die Rohübersetzung als „unterschätztes Vehikel einer heimlichen Poetik“ bezeichnet, hat sie damit nicht nur in Sachen des Verschwindestoffs Interimstext recht. Ebensowenig darf man den Beitrag der Gespräche zu dritt unterschätzen, in denen nicht nur zwischen zwei Dichter·innen und ihren beiden Sprachen verhandelt wird. Die dritte Person am Tisch ist immer die bilinguale Übersetzer·in. Nennen wir ihn noch einmal ganz herzlich Osman.
Das meine ich jetzt wörtlich. Die Terrasse des LCB im Hitzesommer 2021, das stille Haus dahinter, in dem strenge Drinnenregeln herrschten, Maskenpflicht, draußen wehte der laue Wind vom Wannsee unsere Zettel auf. Lina, Osman und ich redeten zwischen Essen und Auskünften. Hier wurde das Wörterbuchdeutsch ganz lebendig, es sprang buchstäblich im Dreieck. Blut, statt Reue. Lina begann einen Satz auf deutsch, glitt ins Arabische, Osman musste in zwei Richtungen hin und her übersetzen. Der Anlass für ein Gedicht zum Beispiel, ein Zeitungsfoto im Telefon, ein Fetzen Familiengeschichte. Alexander von Humboldt spaziert durch ein Gedicht und wieder hinaus. Der verflixte Dual im Arabischen, und wie die Symmetrien entstehen, die rhythmischen Wiederholungen, die ich im Deutschen zu lang finde, oder die ewigen Rosen. Ich hatte eine lange Liste dabei von Fragen und Problemstellen, leider in Klarsichthüllen, die unter den schwitzenden Fingern wegrutschten. Sonnenlicht, Terrasse, verzweifelt machte ich mir Notizen auf Papier, statt in einen halbblinden Laptop zu tippen.
So sehen die Notizen dann auch aus, wie eine Parodie auf das methodische Vorgehen, das ich am Anfang der Arbeit immer anstrebe. Aber darum geht es hier gar nicht.
[Verschwindestoff]
Transmitterzwitter, dachte ich auf dieser Terrasse vielleicht zum ersten Mal. Nachdichten ist keine strenge Methode, sondern es zittert sich zurecht in der Kommunikation, den Zwischentönen. Noch so ein Verschwindestoff. Niemand kennt Linas Gedichte so gut wie Osman, aber es gibt keine einzige Frage, die er ohne Rückversicherung bei ihr beantwortet. Er selbst hat ein phänomenales Gespür für die Besonderheiten und Problemstellen in beiden Sprachen, doch was zählt, ist ihre Absicht, ihre Klarstellung. Dieses Denkbild, und es hat drei Teile, und dreimal dreht sich im Wortfluss das Gefühl. Dieser rastlose Dichterkönig von einst, und wie Lina ihn in einen Geflüchteten verwandelt und dann in einen Bruder. Dieser andere Tonfall, den ich für unübersetzbar halte, aber dann finden wir, Wochen später, doch eine Lösung.
Als mir Osman die ersten Interlinearversionen von den neuen Gedichten schickte, war ich erstaunt, dass manche Texte auf deutsch schon fast fertig aussahen und andere mir quasi unentzifferbar erschienen. Was bitte bedeutet: … das, was die Knie im Salz wendet / und Terror zu einer Art Wasser macht? Ich zweifelte nicht an Osmans Fähigkeit, Wörterbücher und Grammatiken zu lesen – was eine eigene Kunst ist, nicht nur auf der Suche nach Entsprechungen, sondern auch nach den produktiven Missverständnissen –, ich zweifelte im Gegenteil an meiner Fähigkeit, den Sprachhebel dahinter zu verstehen. Es war, im wahrsten Sinn des Wortes, Begriffsstutzigkeit. Wie beschrieb das Gedicht sein volatiles Kriegsszenario? Hatte ich es an dieser Stelle mit einem Anblick zu tun, mit einer Bewegung oder mit einem Gefühl? Noch einmal versuchte ich es mit Google Translate: … das, was Knie dringend und Terrorwasser macht. O je. GT unterschlug das Salz, aber in Osmans Version schien es wichtig. Überhaupt: Blut, Tränen, Lust, nicht zum erstenmal stieß ich in den Interlinearzeilen auf Salz. Die Begriffsstutzigkeit lenkte mich auf Metaphern und Redewendungen wie das Salz der Erde oder versalzene Suppen, und die Interlinearverzweiflung hob wieder ihr hässliches Haupt. Schließlich konnte Osman mir vermitteln, dass es um die Körperflüssigkeiten von Angst und Agonie ging, und endlich fasste ich es in:
… wie eine bleiche Flüssigkeit,
ein Schwappen über schweißnassen Gesichtern,
erweichten Knien.
Nicht immer gestaltete sich die Suche so langwierig. Ein paar Gedichte, die schon früher auf Weiterschreiben.jetzt und anderswo veröffentlicht wurden, hatte Osman vorab mit Annika Reich bearbeitet. Die von ihr stammenden Fassungen habe ich mit nur geringen Änderungen übernommen, dankbar für ihre Fähigkeit zu beherzten Lösungen in einem klarsichtigen Deutsch. Dafür gibt es hier ein Beispiel. Auch im Dialog mit Annika Reich zittert sich in den Transmitterzwittern etwas zurecht, das nur vermittelt aus dem Arabischen kommt.
[Experiment Beirut | Kanister Indonesien]
Worin die Spannung eines Gedichts zu seiner Ausgangssprache bestehen kann, lässt sich im Deutschen an experimentellen Traditionen wie dem Expressionismus, der DADA-Lautpoesie oder den Schriftbildern der konkreten Poesie leicht nachvollziehen. Das ist heutzutage Schulstoff. Im Arabischen stoßen radikale poetische Experimente, die gegen die grammatischen Grundlagen des Hocharabischen verstoßen, auf viel stärkeren Widerstand. So zumindest hat es mir vor fünfzehn Jahren die libanesische Dichterin Sabah Zouein erklärt, als ich bei einem Workshop in Beirut einige ihrer Gedichte aus dem Arabischen übertrug. Den Interlinearversionen war kaum anzusehen, was Zouein selbst als die Kühnheit ihrer Sprache ansah, nämlich die besonderen weiblichen Formen. Im Deutschen halten wir das in der experimentellen Tradition zumindest für eine poetische Möglichkeit; es erregt als Form inzwischen keinen Anstoß mehr.28 Deshalb habe ich für die Nachdichtungen auf die radikale Kleinschreibung zurückgegriffen, ohne jede Zeichensetzung, und die Doppeldeutigkeit der Frauenfigur in einem ungelenken Plural als zwei-frauen wiedergegeben. Original und Nachdichtung sind auf lyrikline.org nachzulesen.
Am Hybriden arbeiten, weiblich. Die Eule kann sich von diesem Halbsatz nicht trennen, er wandert im Konzept immer weiter nach unten, jetzt hat er sich unter dem Stichwort Kanister verklemmt. Ein Kanister Indonesien, oder: wie ich einmal für die Übertragung der Gedichte von Dorothea Rosa Herliany aus dem Indonesischen zu allen Gedichten mittels Grammatik und Wörterbüchern eine zusätzliche eigene Interlinearversion angelegt habe. Weil das Indonesische in lateinischer Schrift geschrieben wird, kam mir die Hürde zum Wörterbuchindonesisch geringer vor als zum Arabischen. Die Gedanken dazu lassen sich hier nachlesen.
[A Can of Worms]
Am Hybriden arbeiten, weiblich. Nach der monolingualen Kindheit, die meine Übertragungen beeinflusst, ist also ein anderer Anknüpfungspunkt zu Lina Atfah das Skandalon des weiblichen Schreibens. A can of worms, immer noch. Abzulesen auch am Beispiel der jüngst erschienenen Anthologie Frauen | Lyrik, deren Nachwort die Herausgeberin Anna Bers mit einem kleinen Sturzregen von Anführungszeichen beginnt:„'Gedicht' und 'FRAU' bzw. die Eigenschaften 'lyrisch' und 'weiblich' –“.29 Hinter diesem wie über einem Abgrund hängenden Auftakt begründet sie dann ihre (un)kanonische Auswahl von deutschsprachigen Gedichten, die unter diese beiden Kriterien oder Zuschreibungen fallen, mit insgesamt vier Perspektiven, „die einander auch produktiv widersprechen: eine kanonische, eine literaturgeschichtliche, eine emanzipierte und eine nur am Text orientierte“ Daran schließen sich weitere fünfzig Seiten komplexer definitorischer Fragen an, noch mehr Anführungszeichen und Stern*e inklusive. Für eine scheinbar schlichte Gemeinsamkeit ist das ein beachtliches Minenfeld.
Nichts Neues auch das, nur liegt es mir heute ferner, mich rückzuversetzen in den schreibenden Körper einer jungen Frau. Weniges aber – wissen wir und müssen es doch immer wieder sagen –, weniges wird auch heute in den vernetzten, interdependenten Lebenswelten rund um den Globus so unnachsichtig reguliert wie die Körper junger Frauen. Ihr Aussehen, ihre Sexualität, ihre Reproduktionsfähigkeit, ihre elementaren Freiheitsrechte, ihre gesellschaftliche Teilhabe, alles unterliegt den im Kern patriarchalen Vorgaben und Kontrollen, die sich an praktisch jedem Ort der Welt in immer neuen Wellen politischer Misogynie wiederherstellen können, bis jeder emanzipatorische Fortschrittsglaube daran zerschellt.
Aber nicht ich spreche hier davon, in eigener Sache, sondern die Gedichte von Lina Atfah tun es. Was ich darin wiedererkenne, ist das weibliche Verhältnis zu einer mächtigen poetischen Tradition nach männlich definiertem Maß. Der Widerspruch beginnt mit der Unerschrockenheit, sich große Vorbilder anzueignen, um ihnen dasselbe Recht auf literarische Setzung und universelle Geltung abzutrotzen. Atfah, wie ich sie verstehe, will den Dichterkönigen nicht nur mit der Stimme des sekundären Geschlechts antworten dürfen. Sie zerlegt sie, sucht sich eigene Verbündete jeden Geschlechts, übertrumpft sie in den Zukunftsstimmen des 21. Jahrhunderts.
An diese Art von Dürfen-Müssen erinnert sich die Eule nun wieder gut. Frauen dichten anders30, hieß es noch kurz vor der Millenniumsschwelle. Es war großzügig gemeint, als jahrhundertelang verschleppte Gerechtigkeit, und doch wies der Herausgeber dieser von ihm verehrten „Frauendichtung“ ihr weiterhin den Katzentisch der poetischen Sonderfälle zu. Solche Sekundärdefinitionen weiblichen Schreibens liegen im deutschen Lyrikbetrieb mindestens eine Generation zurück, und sie entsprechen nicht dem aktuellen Gegenwartsdiskurs. Frauen dichten. Punkt. Oder eben nicht Punkt, sondern Stern und Strich und Doppelpunkt, die immer neue Quadratur des Kreises. Wie anders ist anders, wie systemisch, wie biologisch, wie intersektional lesen wir uns selbst, lesen wir einander.
Im Hallraum arabischer Poesie sieht das allerdings noch viel eindeutiger aus. Lina Atfah schreibt einerseits „traditioneller“, nämlich kunstvoller und formstrenger, und andererseits mit einem weiblichen Selbstbewusstsein, das seine Gefühlslagen selbst definieren will. Dieses Aneignen und Abstoßen von der arabischen Vorbildtradition hat Stefan Weidner an den Originalen des ersten Gedichtbandes als „ein Kostüm“ charakterisiert, „das die Dichterin am Ende ablegt, es als solches entlarvt“.31 Aber jene Entlarvung wird von ihm nicht von der Situation der weiblichen Stimme her gelesen, sondern als moderne Selbstverständlichkeit, die das Ungleichgewicht schon überwunden sieht, wo ihm nicht zufällig noch „das Poesiealbum“ unglücklich in den Blick gerät. Aber genau hier liegt das Problem. Vor ihrem arabischen Hintergrund sind Atfahs Gedichte ein Angriff gegen die männlich vordefinierte Tradition. Sie sind wütend, widersprüchlich, weiblich. Im Deutschen werden sie jedoch in einem poetischen Jetzt gelesen, das über solche Vordefinitionen hinwegzusein glaubt. Hier gelten inzwischen neue Regeln und Konventionen. Spätestens da, wo ich mich in der Übertragung entschließe, ein generisches Maskulinum nicht zu vermeiden, stellt sich mir die Frage nach dem Rezeptionsrahmen.
[Exil | Hybrid]
Für wen sprechen also Lina Atfahs Gedichte im Exil? Oder mit wem? Sie selbst hat die Frage in Interviews mit poetischem Sendungsbewusstsein beantwortet: „Ich schreibe für alle, alle, alle.“32 Daran ändert auch die Sprachbarriere nichts: „Meine Erfahrung ist, dass die Leute mich verstehen, auch wenn sie kein Arabisch können. Sie wundern sich selbst darüber.“33 Jedenfalls bedeutet heute eine Exilsituation wie ihre nicht automatisch, dass die arabischen Originale ihr Publikum nicht mehr erreichen könnten. Im Gegenteil, sie bewegen sich längst in einem internationalen Poesieaustausch, der über Social Media, Festivals im In- und Ausland, gemeinsame Projekte schon länger auf vielsprachige Zugänge setzt. Hier würden sie im übrigen ebenso, wenn nicht mehr von einer Übersetzung ins Englische profitieren.
Doch Lina und Osman leben und arbeiten nun hier. Atfah kann inzwischen auch hierzulande auf ein mehrsprachiges Publikum zählen, aber selbst dort, wo das nicht der Fall ist, steht die deutsche Nachdichtung selten für sich. Sie hat den Charakter einer zusätzlichen Handreichung, wo die arabische Performance in ihren Auftritten unzweifelhaft die größere Wucht hat. Damit wollen meine Übertragungen gar nicht gleichziehen. Sie verstehen sich ausdrücklich als Begleitung und Zweitstimme für das, was Lina in ihren Gedichten selbst zu sagen hat.
Deswegen ist das Deutsch, in das ich sie aus den Transmitterzwittern übertragen habe, kein eigenständiges Auftrittsdeutsch. Das wäre ein anderes – und sicher reizvolles – Projekt für Übersetzer·innen, die es gleichermaßen mit der Performancequalität des Arabischen und mit dem Bühnentalent von Lina Atfah aufnehmen könnten. In meinem Kleiderschrank hingegen hängt das Bildungshochdeutsch, das unsere Lesebücher kennen. Es mag eine Spur zu neutral klingen, weil es weder in die arabischsprachigen Communities hineinspricht noch sich auf multilinguale Experimente einlässt, aber es sieht sich offen für die Variationsbreite, in der wir heute wechselseitig unsere Hybridsituationen begreifen. Ich wünsche es mir jedenfalls durchsichtig genug auf die Gedichte, die Lina Atfah hier auf arabisch schreibt, im Exil und umgeben von vielen Arten Deutsch, „mit einem neuen Spiegel vor mir, mit neuen Fenstern in eine andere Realität.“34