Journale Annette Hug im Sprachkarussell.

Die «über»-Kette: Camille Luscher übersetzt Annette Hug, die José Rizal überschreibt, der Schiller überträgt, der den Mythos von Wilhelm Tell überliefert.

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Friedrich Schiller überliefert

 

1804 beendete Friedrich Schiller seinen Wilhelm Tell. Es sollte sein letztes Werk werden, die Idee dazu legte ihm Goethe nahe. Schiller ist fasziniert von dem Schweizer Nationalmythos und verwendet ihn, um sich mit Fragen nach der Möglichkeit einer Revolution auseinanderzusetzen, nach individuellen oder kollektiven Handlungsmöglichkeiten und der Anwendung von Gewalt. Schiller hatte die Französische Revolution mit großem Interesse verfolgt, stand ihr jedoch mit gemischten Gefühlen gegenüber: Er verurteilte die Schreckensherrschaft und bewunderte die erkämpfte Freiheit. Er war nie in der Schweiz gewesen und recherchierte anhand historischer Werke und Reiseberichte, und anhand von Landkarten, mit denen er sein Arbeitszimmer pflasterte. Die Geschichte von Wilhelm Tell hat eine lange literarische und historische Tradition, und Schiller stützt sich in erster Linie auf zwei Quellen: die Chronik von Tschudi, in der von einer Geschichte berichtet wird, die sich um 1300 abgespielt haben soll, und die Die Geschichten der Schweizer von Jean de Müller aus dem Jahr 1788. Schiller liest und interpretiert den Mythos auf seine ganz eigene poetische und literarische Weise und liefert seinerseits Stoff in der langen literarischen Tradition der Wilhelm-Tell-Fassungen. (Vgl. Schiller-Neuinterpretationen)

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José Rizal überträgt

 

1886 beschloss der junge philippinische Arzt José Rizal, während eines Deutschlandaufenthaltes Wilhelm Tell zu übersetzen. Er übersetzte ihn in seine Muttersprache Tagalog, der am weitesten verbreiteten Sprache auf den Philippinen, und fällt somit eine radikale Entscheidung: Seine eigenen Romane verfasste er auf Spanisch. Zwei Monate lang arbeitete er intensiv an der Übersetzung und schickte sie dann an seinen Bruder auf die Philippinen in der Hoffnung, das Stück möge bald aufgeführt werden. In der Zwischenzeit beendete er seine Ausbildung zum Augenarzt, verfasste einige scharfzüngige Pamphlete gegen die Kirche, die das philippinische Volk unterdrückte, und veröffentlichte einen Roman, der in seinem Land zensiert wurde (Noli me tangere 1). Er kehrte in seine Heimat zurück und musste wenige Monate später mit seiner Familie nach Hong-Kong fliehen. Zu Beginn der Philippinischen Revolution 1896 wurde José Rizal von den Spaniern erschossen. Seine Fassung des Guillermo Tell wurde erst zehn Jahre nach seinem Tod veröffentlich.

 

Vgl. José Rizal und Guillaume Tell

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Annette Hug übermittelt

 

2016 veröffentlichte die Züricherin Annette Hug, die auf den Philippinen studiert hat (nicht Augenärtzin, sondern Women and Developement Studies, ein noch seltenes Fach zu Beginn der 1990er Jahre) ihre Geschichte der Übersetzung der Übersetzung Rizals. Sechs Jahre arbeitete sie an dem Roman, den sie selbst als „Identi-Fiktion“ bezeichnet. Sie recherchierte intensiv und frischte ihre Tagalog-Kenntnisse wieder auf, um die Übersetzung Rizals wiederum vom Tagalog ins Deutsche rückübersetzen zu können.

Sie lebt heute in Zürich und in einem kleinen Dorf im Jura, arbeitet an ihrem nächsten Roman und der Übersetzung mehrerer philippinischer Dichter und Schriftsteller. Sie beschäftigt sich damit, wie Ideen von einem Ort zum anderen auf der Welt „wandern“ und sich dabei verändern.

 

Schweizer Literaturpreis: Annette Hug stellt ihr Buch vor

Porträt Annette Hug auf Ansichten.srf.ch

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Camille Luscher übersetzt

 

2017: Zunächst zog mich der Titel an, denn ich hatte Wilhelm Tell für die Schule von Max Frisch übersetzt (Héros-limite, 2014). Ich hoffte, meine damaligen Recherchen könnten mir für die Übersetzung nützlich sein. Ich entdeckte einen weltumspannenden Roman, der weit über den nationalen Mythos hinausweist. Übertragung in Prosa des Schillerschen Dramas, Roman übers Übersetzen, Roman über die Wissenschaft und die Moderne, über die Kraft der Ideen, wenn sie von einem Ort zum anderen „wandern“, über Unterdrückung, Befreiung. Nach einem Jahr Arbeit, umfassenden Recherchen, zahlreichen Lektüren und vielen Gespräche mit der Autorin ist die Übersetzung nun beendet (sie erscheint am 5.9.2019 bei den édition Zoé). Meine Faszination für das Werk ist in dieser Zeit nur noch größer geworden.  

Ich danke deshalb Annette aufs Herzlichste für ihre Verfügbarkeit und Großzügigkeit. Und dem Toledo-Programm, das dieses Übersetzungjournal veröffentlicht – die Dokumentation meiner Übersetzungsarbeit.

Und vom Herzen auch Odile Kennel, die die über-Kette weiterführt, indem sie dieses Journal einer Übersetzung übersetzt hat.

 

Fußnoten
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