Journale Annette Hug im Sprachkarussell.

José Rizal und Wilhelm Tell

 

„Übersetze uns Schiller in deine Muttersprache“, fordert Paciano seinen kleinen Bruder in einem Brief auf.

 

Auf die Bitte seines Bruders hin setzt sich Rizal zunächst an die Übersetzung von Maria Stuart, gibt aber bald auf und wendet sich Wilhelm Tell zu. Annette Hug stellt sich vor, eine Kellnerin in Leipzig hätte ihm die Idee gegeben. Ist seine Wahl also einem Zufall geschuldet, und er entdeckt erst nach und nach, wie sehr sich in der Geschichte Anknüpfungspunkte zu seiner eigenen Geschichte finden? Es gibt Übersetzungszufälle und nicht ganz so zufällige Begegnungen, und so geht es mir auch dass ich am Ende nicht mehr weiß, ob ich ein Buch liebe, weil ich es übersetzt habe, oder ob ich es übersetzte, weil es schon beim ersten Lesen ein so starkes inneres Echo hervorgerufen hat.

Und in dem Maße, in dem das Schreiben den Alltag ausfüllt, vermischen sich Leben und Übersetzung, und so ereignet sich, würde man auf tagalog wahrscheinlich sagen, dass ein Zufall auf den anderen folgt.

Ist es ein Zufall, dass der Bildhauer Richard Kissling, der das berühmte Denkmal Wilhelm Tells in Altdorf im Kanton Uri entworfen hat, einen Preis für ein Denkmal von Rizal in Manila erhielt? Und weil der Granit für den Sockel aus Uri kommen sollte, stand die in Paris hergestellte Statue drei Wochen lang in Wassen im Kanton Uri. Der transpazifische Austausch setzt sich fort.

Und so wurde Annette Hug Jahre später nach Wassen eingeladen, um anlässlich von Rizals Geburtstag eine Rede zu halten.

Das Rizal-Denkmal in Manila

José Rizal war Augenarzt … Und so findet man in den „Augapfeln“, die er behandelt, den Tellschen Apfel wieder … Dieses Wortspiel verschwindet natürlich in der französischen Übersetzung, doch auch in dieser finden sich wiederum universelle Motive der Welt und der Literaturgeschichte, die in Annette Hug so zentral sind: Die Wörter globes oculaires und orbite verweisen sowohl auf die Auge als auf die Planeten und ihre Kreisbahnen. Rizal äußert sich mehrmals erstaunt über die Ähnlichkeit zwischen der Zeichnung eines Auges und einer schematischen Darstellung unseres Planeten.

Eine Ähnlichkeit, die auch mich verblüfft hat, als ich einmal in einer Augenklinik ein Bild meiner Hornhaut erhielt.

Chromatische Vision der Energien eines – welchen? – Planeten in der Umlaufbahn der Erde.

Kartographie des Auges

 

 

Und schon sind wir bei der Verschiebung, die bei Annette Hug vom Apfel zum Auge stattfindet. Es ist dies das eigentliche Motiv von Wilhelm Tell in Manila. Und es ist der Schlüssel, um Rizal zu verstehen, der, würde er eine Rolle in dem von ihm übersetzten Stück annehmen, nicht etwas Wilhelm Tell wäre, sondern der ungestüme Melchthal von Arnold.

Als wir ihn kennenlernen, ist er gerade bei Walther Fürst untergeschlüpft. Er ist auf der Flucht, weil er dem Knecht des Gesslers einen Finger gebrochen hat, als dieser einen seiner Ochsen beschlagnahmen wollte. Wie auch in der Szene mit dem Bootsman am Anfang, geht es hier um Unterdrückung. Melchthal lässt sich nichts gefallen. Erst recht nicht, als er von Fürst erfährt, dass die Tyrannen, da sie seiner nicht habhaft werden konnten, sich gerächt haben, indem sie die Augen seines Vaters durchstochen haben. Eine regelrecht mythologische Strafe, die auf das Motiv der Augen verweist, ein wichtiger Motiv des Romans. Nicht nur ist Rizal, wie bereits erwähnt, Augenarzt, er sorgt sich auch um die Gesundheit seiner Mutter, die wegen eines Glaukoms gerade ihr Augenlicht verliert. Und mehr als einmal geht es darum, dass er vorsichtig sein, sich zügeln möchte, um seine Familie auf den Philippinen nicht zu gefährden.

„Welch Aeußerstes

Ist noch zu fürchten, wenn der Stern des Auges

in seiner Höhle nicht mehr sicher ist?“[footnote Sagt Melchthal in Schiller, S. 32 f]

 

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