Journale Annette Hug im Sprachkarussell.

Die Suche nach dem richtigen Wort

 

Rizal fragt sich oft, was das richtige Wort sein könnte. Zumal er ins Tagalog übersetzt, was seine Muttersprache, nicht jedoch seine Schreibsprache ist. Unter der spanischen Kolonialherrschaft hat er in der Schule Spanisch gelernt, nicht Tagalog. In einer meisterhaft erzählten Szene beschreibt Annette Hug, wie Rizal auf einem Spaziergang seine Gedanken flanieren lässt und vom Apfel auf den Richter kommt: hucum.

 

Wie Rizal gehe ich spazieren, wenn ich nicht auf ein Wort komme, um im Gehen die Denkmaschine zum Laufen zu bringen.

 

Die Steinhäusler

 

In Annette Hugs Text tauchen die Steinhäusler auf – ein von ihr geschaffener Neologismus, der zwei Personen aus Schillers Stück bezeichnet: Walther Fürst aus Uri und Werner Stauffacher aus Schwyz.

Das Wort bezieht sich auf die zweite Szene des ersten Aufzugs, wo Stauffacher von seinem Steinhaus spricht, das ein Zeichen für Wohlstand ist. Im Stück soll die Szene vor allem die Unterdrückung der Protoschweizer deutlich machen. Der Landvogt droht damit, das Haus niederzureißen, denn es wurde ohne seine Erlaubnis errichtet.

In Annette Hugs Interpretation zeugen die Häuser aus Stein vom sozialen Status der darin wohnenden Eidgenossen. Der Mythos von Wilhelm Tell wird oft mit der Vorstellung einer Bauernrevolte verbunden, einer Revolution, die vom Volk, und nicht von der Elite ausgeht. Werner Stauffacher und Walther Fürst sind zwar Landwirte, gehören jedoch einer sozialen oder zumindest wirtschaftlichen Elite an. Sie sind wohlhabend und stehen dem Adel nahe (der bei Schiller vom Baron von Attinghausen repräsentiert wird). Sie sind nicht das hungrige Volk, das bereit ist, zu den Waffen zu greifen. Sie sind vorsichtig und würden ihre Freiheit lieber ohne Gewalt erlangen … und ohne die gesellschaftliche Ordnung völlig umzustoßen.

Dieses Thema durchzieht Annette Hugs Buch, weil man sich ihm stellen muss, um José Rizals Weg zu verstehen. Doch es steht nicht im Zentrum der Auseinandersetzung. Das Buch verliert sich nicht in theoretischen Abhandlungen. Es wird auf subtile Weise durch Sprache vermittelt. Umso wichtiger ist es, für jedes Wort die beste Übersetzung zu finden.

 

Annette Hug erklärte mir: Das Wort sei nach dem Prinzip (der Musik?) des Wortes Stehkragen aufgebaut, einem heute in Schwyzer Gewerkschaftskreisen üblichen Begriff für reiche Leute mit einem hohen und unumstößlichen gesellschaftlichen Status. Die Stehkragen haben Untergebene. Doch sie stehen nicht ganz oben in der Hierarchie: Sie müssen sich selbst noch einer höheren Instanz verantworten (bei Schiller: dem Adel gegenüber: Das zeigt sich in der Szene am Sterbebett des Baron von Attinghausen).

Die Steinhäusler sind ein wenig wie die Familie Rizal – die Rizals verpachteten Ländereien mit Zuckerrohplantagen an Bauern, die einen erheblichen Teil ihrer Ernte abgeben mussten. Doch die Familie Rizal war selbst nicht frei, denn sie hatten ihr Land wiederum von den Dominikanern gepachtet und mussten ihnen gegenüber Rechenschaft ablegen.

Die zahlreichen Leser, denen das Konzept des Stehkragens nicht bekannt ist, hören in den Steinhäuslern natürlich das Steinhaus. Mir fällt la famille Pierrafeux ein, doch das ist anachronistisch, und das Haus nicht wirklich im selben Stil … Historisch betrachtet könnte man sagen, dass Fürst und Stauffacher dem Bürgertum angehören, also dem Adel untergeordnet sind, jedoch ein hohes kulturelles und wirtschaftliches Kapital besitzen.

 

Ich zähle auf: Bourgeois -> riche propriétaire -> grand propriétaire -> latifundistes -> les plus riches -> les nantis -> les privilégiés -> les mieux-lotis -> les bien-lotis

 

Im Begriff Steinhäusler steckt eine konkrete, aber zunächst wertfreie Beschreibung. Deshalb kamen für mich Begriffe wie nantis oder privilegiés nicht infrage, die mir zu viel Werturteil enthalten. Ich dachte auch über das Wort latifundiste nach, doch nein: historisch und geographisch schon besetzt.

Am Ende entschied ich mich für bien-lotis, was die beiden vor allem in Bezug auf die anderen Personen im Stück definiert, in Bezug zu Wilhelm Tell natürlich, aber auch in Bezug zum Volk.

 

Manchmal kommt das Wort propriétaire vor, doch es steht nicht im Vordergrund, damit der Bezug zur Familie Rizal erhalten bleibt, die ihr Land eben nicht besaß.

 

 

Das Volk ist bereit, aber die Steinhäusler halten sie zurück: Walther Fürst und Werner Stauffacher raten zur Ruhe, zum Stillhalten.

(AH, S. 110)

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