Panikträllern, Blutflusstuckern, bleicher Beizfleck vom Teufel – ich bewuunnnnndere den Fundus von Japsern!
Körperlichkeit, Klang und Physiographik in Maddie Mortimers »Atlas unserer spektakulären Körper«
Sometimes it takes a lifetime to receive the world in a
language different to your own; to let the shape and taste
and sense of a thing eclipse its own translation.
Maddie Mortimer
Manchmal braucht es ein ganzes Leben, um die Welt in einer
anderen Sprache als der eigenen aufzunehmen; um zuzulassen,
dass Form und Geschmack und Empfindung einer Sache die
ihr zugewiesene Übersetzung verschatten.
I wie Intro
Ein Einsingen1 gefällig? Ein Knitz2? Eine brüll-gute Pirouette im Brustlymphgang? Ein Fackelzug vorm botticelli-inspirierten Kalkputz-Fresko an der linken Wand ihres Okzipitallappens?
Sandro Botticelli, Versuchung Christi, Sixtinische Kapelle
Lobus occipitalis (rot): Sehzentrum des Gehirns
Balancieren wir zunächst auf Lias „Irissims“ und lugen durch ihre Pupille hindurch mitten hinein ins Machwerk. Der mörderische Beginn des Textes setzt den Ton:
I, itch of ink, think of thing, plucked open at her start; no bigger than a capillary, no wiser than a cantaloupe, and quite optimistic about what my life would come to look like. I have since ached along her edges. Delighting in my bare-feet-floorboard-creeps across from where she once would feed, down to where her body brews, I have sampled, splintered, leaked and chewed through tissue, nook, bone, crease and node so much, so well, so tough, now, that the place feels like my own.
Ich, Tintengrind, sinnend Ding, offenporig zu ihrem Beginn; nicht größer als eine Kapillare, nicht weiser als eine Kantalupe und ziemlich optimistisch, wie mein Leben einmal aussehen wird. Seither schmerze ich mich entlang ihrer Ränder. Entzück mich an meinem Bar-Füße-Dielen-Kriechen schräg rüber, von wo sie einst nährte, bis runter, wo ihr Körper kocht, hab mich durch Gewebe, Gewölbe, Gebein, Geknitter, Geknote geschmeckt, gesplittert, gesickert und gekaut3, so viel, so gut, so zäh, dass mir der Ort jetzt erscheint wie meiner.
Klingt genüsslich,
nach erfolgter Übernahme.
Die Stimme gehört Lias innerem Gegenspieler, der auf der ersten Seite schon das Revier markiert und sich an seinem massiv gehäuften i – dem „I“, dem raumgreifenden autonomen „Ich“ in Lias Körper – augenscheinlich ergötzt. Klar wird sofort, worauf man sich hier sprachlich einlässt. Ich lasse mich ein aufs irre gewitzte Schlingern und Splittern. Und auch aufs Staunen. Ich werde nur 5 Monate Zeit haben für diese 440 Seiten viszeraler Poesie. Die Reise geht ins Mark.
Jetzt mal von vorn!
Maddie Mortimer (*1996 in London; schreibt, produziert international beachtete Kurzfilme, ist Co-Autorin der TV-Serie „Father/Daughter“) zeichnet in ihrem Debütroman Atlas unserer spektakulären Körper die letzten Lebensmonate einer Frau nach, die unheilbar an Krebs erkrankt ist. Das Jetzt (mit 12-jähriger Tochter, liebevollem Ehemann, erfüllender Arbeit als Kinderbuchillustratorin, erneuter Krankheit) wird verwoben mit Rückblenden in ihre Kindheit und Jugend: Da gibt es die Strenge des elterlichen Pfarrhauses, den für seine Gemeinde lebenden Vater Peter, die lieblose, fromme Mutter Anne; dann die so leidenschaftliche wie zerstörerische große Liebe zum vier Jahre älteren Matthew, die Lia durch die Pubertät und das junge Erwachsensein tragen wird und sie und ihre Eltern entzweit.
Daneben gibt es eben jenen sarkastischen, auf seine Art euphorischen Ich-Erzähler, den wir als Tumor, Krebs, Geschwür oder allgemeiner als inneren Widersacher lesen können, der den Körper der Frau wie eine Landschaft vermisst, sinnlich beschreibt, hier ein bisschen verziert, dort ein bisschen verschandelt und mit seinen spielerischen, trotzigen, verschämt mitfühlenden, letztlich tödlichen Eroberungen ganz vereinnahmen wird. Hin und wieder hält er inne, reflektiert, nimmt zurück, lässt Lia Mut schöpfen, doch dann – natürlich4 – talfahrtet5 es wieder.
Vor allem diese Stimme in Lias Körper ist es, nennen wir sie ICH, die poetisch komplex drauflos ätzt, höhnt, wuchtet und wundet und dabei ganz ohne Pathos auskommt.
Look, they sing, look at how it’s changed! How it’s staled,
butchered, blackened.
Seht, singen sie, seht, wie es sich verändert! Wie es verdirbt,
vermetzelt, verschwärzt.
Ein diebisches Sprühfeuern, mal höllisch laut, mal zärtlich fast. Sprachlich ein orgiastisches Taumeln mit feinsinnigem Witz. Einen solchen „Katastrophentouristen“ kann man dafür mögen. Ihn nachzuschaffen braucht in jedem Fall die meiste Zeit. Nicht immer lassen sich die Teufeleien mit denselben sprachlichen Mitteln reproduzieren. Ein im Deutschen behäbig daherkommendes Passiv in ein wirkungsvoller blitzbombendes Aktiv umzuschreiben, ist vergleichsweise leicht. Deutlich mehr Spielfreude erfordern die unzähligen Neuschöpfungen, Umschreibungen, Gedichte und Lieder, die typografischen und rhythmischen Salti und manchmal schlicht das Tempo.
„Deliriously inventive“ urteilte die Jury des Booker Prize 2022 bei der Nominierung von Mortimers Debüt für die Longlist, und das skizziert gleichwohl die Anforderungen an die Übersetzung. Einige Klippen, die hier zu umschiffen waren – oder vorsätzlich zu rammen –, werde ich im Folgenden skizzieren.
Textgedächtnis
Es gibt eine Menge Schlüsselwörter im Text, die – immer gleich übersetzt – in jeweils neuen Kontexten funktionieren müssen und als Ankerpunkte durchs rasante Geschehen geleiten. In einem Kapitel mit der Überschrift „Märchen, Naturkatastrophen und Spielberg“ fühlt ICH sich ernsthaft bedroht; ROT (die Chemo-Flüssigkeit) wütet in Lias Körper, „sein Mund malmt mörderisch“. ICH fühlt sich „ein bisschen lau / ein bisschen aus dem Lot“, bis er – auch typographisch – unterzugehen scheint im kaskadierenden:
Spill. Substantiviert. Ich bleibe zunächst am Original, setze nach „eine Sekunde vor dem mächtigen …“ ein Spuck, ein Spritz, ein Schwapp, ein Schütt, ein Zünd, probiere mit (Er-)Guss und (Aus-)Wurf, werde aber mit keiner Silbe jener Erweiterung gerecht, die das wiederkehrende „spill“ gegen Ende des Buches durch den Wegfall der ersten beiden Buchstaben erfährt. Aus dem zigfach hallenden „spill“ echot das allgegenwärtige „ill“ (krank), das den Kampf in Lias Körper gewonnen hat; der Ausbruch des Vulkans und der der Krankheit fallen in einem Wort zusammen.
Aus SPILL/ILL wird schließlich RAUS/AUS.
Neben einzelnen Wörtern, meist adjektivischen Personenzuschreibungen, spielt Mortimer auch mit gleich oder ähnlich wiederholten Sätzen, die man beim Lesen als vertraut erinnert, deren feine Unterschiede man gut 200 Seiten später aber kaum wahrnimmt:
She wondered why it was that the morning quietened so curiously this way, the hour before the bin trucks came. (176)
There is a mourning silence. The kind of quietening the day performs before the bin trucks come. (394)
Fast entgeht sie mir (Dank an meine Lektorin Angela Volknant!), diese subtile Verschiebung von „morning“ (Morgen) zu „mourning“ (Trauer), die ich im Deutschen rette, aber an andere Stellen verlagern muss:
Sie fragte sich, warum die Morgen eine so tragende Stille vollbringen in dieser Stunde, bevor die Müllwagen kommen. (194)
Ein wehmütiges Schweigen entsteht. Die Art von klagender Stille, die der Tag vollbringt, bevor die Müllwagen kommen. (426)
Elementarer Bestandteil des Texts ist das wiederkehrende Spiel mit „her“/“you“ („sie“/“du“), für das ich die meisten Sätze umstricke, damit der Kasus jeweils passt und sich statt des Nominativs nicht versehentlich ein sie/dich einschleicht, oder ein ihr/dir. Denn von der anfänglichen Frage der Mutter an Matthew „You know I would rather die than lose …“ und Lias Überlegung „Was it her or you?“ (in der Übersetzung: Weißt du, wer mir wichtiger ist als mein Leben … / Käme jetzt ein Sie oder ein Du?) über die ICH-Frage, ob der Tod in der ersten oder in der dritten Person stattfindet, gelangen wir am Ende des Buches schließlich zum Spiegel des ICH: zum Du, und damit zu Lia selbst. „Ihre Augen. Meine Augen. Alles weitet sich, denn – natürlich – / Ich bin sie. / Sie ist ich. / Wir sind ein und dieselbe. Wir waren es immer schon. / Sie japst, hält sich die Hände vor den Mund. / Du, sagt sie schlicht.“ Die erschütternde, aber Licht bringende Erkenntnis kommt Lia unmittelbar vor ihrem Tod:
„das stille Übergehen des Ich
in das weite und
grenzenlose
Du.“
Dass das oft erwähnte Licht die Vergebung selbst meint,
geht mir erst im letzten Textkasten des Buches auf:
„Am Ende des Tunnels. (…) Ewig. Frieden“.
Erzählstimmen-Infiltration
Und damit befinde ich mich mittendrin in einem der innovativsten Experimente, die Mortimer in ihrem Debüt wagt: Die Verschränkung zweier zunächst autark erscheinender, typografisch voneinander abgesetzter Erzählstimmen, genauer: die sukzessive Übernahme der einen durch die andere.
Wir erinnern uns: ICH, die fettgesetzte Stimme aus Lias Körper, und die quasineutrale Stimme, deren Normalschrift neben der des ICH zerbrechlich erscheint. Anfangs sind diese Stimmen gut voneinander zu trennen, später, mit fortschreitender Ausbreitung der Krankheit, durchsetzt der Fettdruck die Fragilschrift, verbindet sich mit ihr (aus „ich“ wird auch grammatisch „wir“), bis er sie schließlich gänzlich ersetzt und im neuen – jetzt vereinten – Ich landet; der ICH-DU-Spiegel findet nicht nur auf körperlicher, sondern auch auf verbaler und auf visueller Ebene seine Vollendung.
Was zunächst als Gerangel erscheinen mag, als ein „David-und-Goliath-Tanz“, wie ICH und ROT ihn bühnenreif vollführen („Fouetté, Grand Jetté, Faust voller Flug“), ist bei aller versteckt offensiven Unterwanderung immer auch Versöhnung. Und darin liegt ein großer Trost.
Zwei Erzählstimmen bedeutet auch je zwei Namensgebungen und Charakterisierungen der wichtigsten Romanfiguren. Ich brauche eine Weile, bis ich allen Figuren der ICH-Erzählung begegnet bin und sie denen der anderen Erzählstimme zugeordnet habe; sie entfalten durch diese zweite Perspektive ein kommentiertes Eigenleben: Gelb (Lias Tochter Iris, die „ergoldet vor Erregung“), Der Gärtner (Lias Mann Harry), Taube (ihre Mutter, „dabei sieht sie eher aus wie eine labile Luftratte“), Samt (Lias langjährige Freundin Connie), Rot (die Chemikalie) und schließlich Fossil (Matthew, der „Kommt-mir-so-bekannt-vor-Steingeist“, dessen Spuren, Splittern und Scherben ICH in seinen „archäologischen Ausgrabungen“ in Lias Hirn begegnet und vor dem er tut, „was jeder mit Sinn für Humor tun würde: ich hahahahahaha! mitten in sein versteinertes Gesicht“).
Antipathos
Der sogenannte Sinn für Humor – „Freudengerinnsel“ mag die Untertreibung illustrieren – ist die rettende Instanz, die durch den Text trägt und nicht nur Autorin und Leserschaft davor bewahrt, dem Schmerzlichen dieser Geschichte die Oberhand zu überlassen. Am deutlichsten tritt dieser Humor zutage, wenn ICH seinen immer zahlreicher werdenden „Chor der Akteure“ – lies: Kollaborateure – dirigiert, denn „das Thema Selbstbeschränkung“ findet er „ziemlich schwierig“. Beim Übersetzen dürfen diese plastischen Bilder nichts an Häme und Präzision verlieren.
It might take them a while to acclimatize. I want to tell them to pinch their smudged noses, feel the pressure in their blotched ears swell and burst, let their eyes adjust to the colour of fight, the fragment vernacular of breath and nerve and strips of limb, arteriole streams cuts ducts pipes and dreams.
Sie werden eine Weile zum Akklimatisieren brauchen. Ich werd ihnen sagen, sie sollen sich in die verschmierten Nasen kneifen, den Druck in ihren verfleckten Ohren steigen und bersten spüren, ihre Augen an die Farbe des Kampfes gewöhnen, an den Splitterjargon von Atem und Nerven und Gliederschnipseln, Arteriolenschäumen Schliffen Schächten Schläuchen und Träumen.
Auf die Spitze getrieben werden diese Kampfansagen, wenn sie auch typografisch inszeniert sind, etwa in den „Badezimmerakten“ oder kurz vor der „Empfängnis“, denn „Schöpfung und Entdeckung erfordern ziemlich viel Zerstörung“:
Stellt euch die Schleimhautfransen
im Fimbrientrichter eines Eileiters vor!
Klang, Körperlichkeit und Physiographik
Wie lesen nicht nur, sondern hören auch: Der Roman lebt zu einem großen Teil vom Klang. Neben rhythmischen Stakkati („Ich bin Todsünden Müllwunden schweres Essen Becken pressen Haus in Flammen ihr Verlangen Nervenfraß kleines Aas Fakt ist: Mir mangelt es langsam an Rollen“) ist es oft das Wallen gleicher Lautungen, das „Blutflusstuckern“ („chug of blood flow“), das durch den Text prescht. Das Grundrauschen, das jenes von Körperflüssigkeiten oder – wie das „deep-vowelled how? like a wolf’s cry“, das tief auslautende auuu, wie Wolfsgeheul – Klagelaute evoziert, muss sich auch im Deutschen einstellen, notfalls anderslautend:
Lia stared out at smudges of sleet-quick cars, speeding up beside them.
Lia starrte hinaus, Kleckse graupelschauriger Autos rauschten vorbei.
In einem Fall wird die Tonhöhe konkret benotet, nämlich mit dem Soundtrack zu Jaws (Der weiße Hai), passenderweise beim Zerpflücken von Gewebe:
Fettgewebe. Lappen. Gänge. Ich helfe ihm, ein paar Bänder ihres Brustmuskels zu zerpflücken. Huch. Sie klingen wie knallende Harfensaiten. Für einen Soundtrack braucht es nur wenige Noten. E F E F. Man denke an »Der weiße Hai«. Man denke an Barthes: Jeder hat seinen Rhythmus des Kummers.
Soundtrack zu JAWS
Gänsehaut stellt sich ein. Ich lausche dem Intro und weiß wieder:
Das Geniale von »Der weiße Hai« bestand darin, dass man die meiste Zeit des Films gar nichts sah von dem Monster.
Apropos Monster:
Die Klangkulisse untermalt
das unglaublich Körperliche des Buchs,
das auf mich Übersetzerin überzugreifen scheint.
An manchen Tagen klammre ich fast an den Silben,
schreibe an gegen die zunehmende Beklemmung;
jedes Kapitel Kampf gegen den Krebs kostet Kraft.
Ich schlafe nur noch schlecht
zwischen zu langen Tagen vorm Rechner,
ertaste Knoten in der rechten Brust.
Panikträllern. E F E F.
Später, kurz vor Abgabe der Übersetzung,
wird man eine Mammographie veranstalten.
Fibrozystische Mastopathie.
Gutartig.
Umbauprodukt.
Mein Hirnstromsoundtrack
loopt ins Dur.
Die Körperlichkeit bildet sich in diesem Atlas auch auf typographischer Ebene ab. Im unglaublich bildhaften, rhythmischen und von sinnigem Schalk nur so strotzenden Kapitel „Sehnerv“ etwa, aus welchem eingangs erwähnter „Irissims“ stammt, formen sich die Verse feierlich zum Pupillenrund:
Ich entscheide mich schließlich für folgende Fassung:
Physiographik könnte man sie nennen, die Nachbildung von Körperlandschaften mit graphischen Mitteln im Text. Ich werde mit dieser Form der Visualisierung noch oft ringen, weil das Deutsche viel länger „läuft“ als das Englische und ich die ohnehin dichte lyrische Prosa noch mehr eindampfen muss, etwa um die Formen einer Schwangeren im Kapitel „Spiegelräume“ nachzubilden. Nur ein Teil (vom unteren Leib) sei hier illustrierend zitiert; die „Anschlussprobleme“ werden deutlich:
Antimerie
Die in diesem Text angewandten Verfahren sind die in der Lyrik bekannten: Alliterationen, Assonanzen, Neologismen, Wortspiele, Verdichtung, Verkürzung, Rhythmus usw.; auffällig aber ist die massive Verwendung der Antimerie.
Dieses Wort erfinde ich im Text,
weil es im Deutschen kein treffliches gibt
für das „Verbisieren“ von Nomen,
für „Anthimeria“.
Eine belebende Spielerei, der wir oft begegnen, etwa wenn sich die Zwillinge (Freundinnen der jugendlichen Lia) aus dem Wasser „seiden“, Harrys Gestalt gegen das blaue Licht „schattenriss“ oder wir ihn als belaubten Mann mit Erde als Haut und Hundsblumen als Augen aus einem Baum „eiben“ sehen. Auch auf der Metaebene wird über die Wirkung des Verfahrens reflektiert, bezeichnenderweise im Kapitel „En pointe“, in der ICH buchstäblich belebt wird und irres Glück empfindet über „Die Bewegung, die ein Substantiv verspüren muss, wenn es als Verb erwacht. Den Moment, in dem eine kleine Theorie Fakt wird“. Es lohnt ein Blick auf die Wortshow zu Antimerie, für die ich in der Übersetzung Verb gewordene Substantive zusammensuche oder erfinde:
Also gut. Wie hört sich das Wort Antimerie an?
Iris dachte ein oder zwei Sekunden lang angestrengt nach.
(…)
Eine knallrote Blume.
Ich glaube, weicher als das.
Iris dachte mit geschlossenen Augen angestrengt nach.
Ann-tiii-mmee-riiie.
Ihre Zunge nahm die Laute auf und ließ sich von ihnen zu ihrem Sinn führen.
Klingt wie ein geheimes Wort für die Form, die der Mond auf stillem Wasser macht.
Besser.
Antimerie meint auch, aus einem Substantiv ein Verb zu machen.
Aus dem Griechischen »anti« – gegen, gegenüber – und »meros« – Teil;
es ist ein Sprung, eine Verwandlung,
eine Art Wechsel vom Ding zur Handlung;
wo wir wegkisten, hochkranen, durchschleiern,
die Gewissheit, was Dinge sind und was sie sein könnten.
So wie Licht einen flachen Teller Meer bemondet.Iris spürte ihre Sinne in den stillen, ruhigen Raum vor dem Schlaf hinüberrauschen. Sie konnte Lias Wortshows oft nicht folgen, mochte aber deren riesige, schwierige Fremdartigkeit.
Wir haben es immer gemocht, dieses spielerische Verfahren,
das Unruhestiftende,
das in alltäglichen Ausdrücken wie
dem Klumpen von Farbe oder dem Auslöffeln der Suppe lauert.Lia kramte nach mehr.
Essen auftischen oder einen Kopf enthaaren.
(…)
Wortverdreh-Varieté
Nicht nur Lias Körper, auch die Wörter selbst erfahren in diesem Buch eine grundsätzliche Infragestellung. Lia schreibt und illustriert Kinderbücher und nutzt nicht nur die abendlichen Wortshows mit Iris dafür, Wörter aus ihren gewohnten Kontexten zu reißen, sie buchstäblich zu entorten, lexikalisch zu betrachten und in ungewohnten Zusammenhängen zu denken oder neu zu schöpfen.
Ihr laufendes Projekt nennt sie „A Children’s Guide to Lexical Spectacles“. An diesem Titel sitze ich fast die gesamten fünf Monate. Das „spektakulär“ (wie im Atlas-Buchtitel) ist nicht zu retten. „Lexikalisch“ wohl auch nicht. Ich probiere mit Lexiko-Weckbüro (funktioniert in der Einzahl nicht), Lexiko-Wortsalto (Lexiko/Wort doppelt hier zwar, aber das Akrobatische wär wieder drin), Idiomatik-Akrobatik, Wörtersinn-Rumgespinn – oder irgendwas mit Zirkus, Artistik, Wirbel, imaginieren, fabulieren, flunkern, Vorstellung (im doppelten Sinne)? Schließlich komme ich auf Varieté: „Das Wortverdreh-Varieté. Ein Handbuch für Kinder“.
Nicht ideal, sage ich mir,
aber es macht das Verfahren deutlich.
Die Einträge erfolgen jeweils zu den Buchstaben des Alphabets und illustrieren sämtliche Bedeutungen eines Wort(stamm)es. Für diese Passagen muss ich im Deutschen andere Wortfelder finden und ganze Absätze umschreiben. Siehe den Eintrag zu H wie „hatch“:
Suddenly quite breathless, she slid slowly through the garden, sat at her drafting desk, switched the nib width of her pen and set to work finishing a hatching egg, the scrawny scalp of a baby bird just bursting through shards of shell scattered around the bottom of the page. Next, a boy waving from the hatch door of a plane, passing through clouds. A group of bandits huddled together in the left corner, hatching a plan, and all this was drawn, of course, in the most detailed hatched technique, the tight lines running parallel and crossing over one another in the darkest patches of shadow.
In meiner Übersetzung wird es ein H wie „Heck(e)“:
Plötzlich außer Atem, schob sie sich schleppend durch den Garten, setzte sich an den Zeichentisch, wechselte die Federbreite des Zeichenfüllers und machte sich daran, eine Vogelhecke zu beenden, in deren Schutz gerade ein Junges aus einem Ei ins Nest schlüpfte, sein magerer Schädel sprengte durch die Schalensplitter, die zum Fuße der Hecke rieselten. Die Hecke begrenzte ein Heck, auf dem fünf gescheckte Kühe lümmelten; eine fraß fröhlich, die anderen vier bewachten alle Himmelsrichtungen. Darüber ein Junge, der aus der Heckklappe eines durch Wolken jagenden Flugzeugs winkte. In der linken Ecke des Blattes kauerte eine Gruppe von Gaunern und heckte einen Plan aus; und all dies gezeichnet in ausgetüftelter Technik: die engen Linien geschickt schraffiert und keck gekreuzt zu dunkelsten Schattenflecken.
Wortshows
Schlafenszeitritual von Lia und ihrer Tochter sind die abendlichen „Wortshows“, die mit der Frage beginnen, wie sich ein Wort anhört. Durch die Näherung über den bedeutungsentbundenen Klang werden Wörter – wird Sprache – sinnlich, beinahe sogar haptisch erfahren. Auch hier muss in hohem Maße erfunden werden, weil die Wortspiele und das Assoziationsrauschen im Deutschen nicht immer mit derselben Semantik anzufüllen sind, wie im Kapitel „Astute“ (clever, listig, verschmitzt) deutlich wird – ein Wort, das die Zwölfjährige nicht kennt. Welches Wort nehme ich hier, das später im Text auf Iris selbst zutreffen muss und zu dem sie assoziieren wird: „klingt wie ein Tanz. Ein ziemlich förmlicher Tanz auf einem Ball, auf einem dieser Bälle, auf denen jeder die Tanzschritte kann“? Ich entscheide mich für das selten bzw. regional benutzte, annähernd astute-steif klingende „knitz“6.
Lizenz zum Erfinden
Gänzlich von der Vorlage lösen muss ich mich schließlich an den Stellen, an denen wir im Deutschen nicht einmal eine Bezeichnung für das Ausgangswort haben. Das ist vor allem bei den gerahmten Definitionen der Fall; die Begriffe im Original stammen teils aus dem Nordenglischen oder Schottischen, wie etwa „Purlicue“:
„Purlicue“ – für diese Art Schwimmhäutchen zwischen Daumen und Zeigefinger gibt es im Deutschen keine andere Bezeichnung als „Häutchen“. Mit diesem Wort komme ich nicht weit, wenn ich die aufgeführten Bedeutungen ansatzweise retten will, zumal die im Satz darüber beschriebene Geste auf folgende Szene sinnvoll bleiben muss: Lia sitzt mit ihrer Mutter beim Arzt und hat soeben das verheerende Ergebnis der letzten Untersuchung vernommen: „Und jetzt zur Aktuellen Lage: / Da ist eine kleine Streuung in / der Leber, ein Schatten nur, / ein dunkler Wundkuss davon, / Tinte durchkleckste die Lunge.“ Nach der anschließenden Arztlitanei zu möglichen Therapien erfolgt eben jenes besänftigende Drücken von Lias Daumen gegen Mutters weiches „Häutchen“.
Ich probiere mit „Daumen“. Ein leider eindeutiges Wort, für das ich auf idiomatische Wendungen werde ausweichen müssen. 1. kann ich entsprechend neu definieren. Für 2. suche ich am besten eine Redewendung damit. 3. braucht Stunden. Eine Lösung finde ich schließlich im etymologischen Wörterbuch. Sie ist endgültiger als die englische Vorlage.
Poetik
Es ließen sich noch viele Haiku-, Quartett- und andere Salti anführen, die für die Übersetzung dieser experimentellen Prosa sprachlich, gedanklich und klanglich fortwährend nachzuspringen und neu zu kreieren waren. Klar geworden ist, dass die Verfahren auf textueller Ebene dem Verlauf der Krankheit ähneln. Ich muss den Sprachkörper zuweilen krebsgleich zersetzen, ihn von innen herausschauend erfassen, Zusammenhänge aufbrechen, Bedeutungszuschreibungen löschen, Wörter (auch visuell) mutieren lassen (hier steckt Mortimers Mut drin) und damit immer neue Les- und Denkarten eröffnen. Nichts in dieser Welt ist verlässlich. Mit Mortimer: „Auch Wörter entstehen aus kleinen internen Überschreitungen; auch Sprache meutert gegen sich selbst, denn die meisten Lebewesen tragen die Anweisungen für den eigenen Ruin in sich, überall.“
Exemplarisch für diesen Zersetzungsprozess, der einem (hier krankheitsbedingten) Vergessen oder – als Strategie weitergedacht – absichtsvollen Verlernen gleichkommt, ist das Zerlegen von Frank Sinatras Liedvers „Let it snow“ im Kapitel „Weiße Weihnacht“ in seine einzelnen Buchstaben, aus denen die inzwischen sehr schwache Lia ein Buchstabengedicht kreiert.
Let it snow
Listen.
Stolen towns
Wilt
Slow lesion
Silent;
We lost.
Ten-Noels-to-one.
It
woes
on.
Mein deutsches Buchstabengedicht zu „Lass es schneien“ ist – of course – ein ganz anderes. Ich bin kurz versucht, das verlockende t hinzuzunehmen („Lasst es schneien“), bleibe aber dann bei der Einzahl. Innerhalb der Beschränkung auf 8 verschiedene Buchstaben und eine dem Tod nahe Grundstimmung habe ich alle Freiheiten. Ich darf „in Ketten tanzen“.7
Lass es schneien
Sieh.
Schneenass als
Nachlass.
Sicheln sensen
Seelen.
Sich als Leiche sehen.
Nach Sein sehnen.
Es
sein
lassen.
Ich finde in dieser Aufgabe ein dankbares
Fortsetzendürfen der De- und Rekonstruktionen,
die im Geiste stattfinden, unerschlossen, lose dokumentiert.
Vom rein Körperlichen, Vergänglichen wegzukommen und sich
an etwas so Abstraktem wie Sprache abarbeiten zu dürfen,
hat etwas höchst Versöhnliches.
Versöhnung, Vergebung
Und so soll dieses Journal auch enden: mit dem übergeordneten Thema der Versöhnung und – endlich – der Vergebung. Es ist die einst rigide, abweisende, der Liebe unfähige Lia-Mutter Anne, die „Taube“ in der ICH-Sprache, die am Romanende die größte, die unerwartete Wandlung erfährt und auch in der für sie gefundenen Figurensprache erfahren muss.
Eingeleitet wird die Wandlung mit einem Couplet:
Once-bad-mother-dove is no longer filthy grey,
her heart, her wings,
improve themselves with each sad, weary day.
Vormals-schlechte-Mutter-Taube ist jetzt nicht mehr grau und fahl,
denn Herz und Schwingen
feuern wild gegen Traurigkeit und Qual.
Längst hat sie sich eingestanden, dass sie es war, die versagt hat, im Englischen ein scharfes, schneidendes: „I have failed you“. Im Deutschen muss ich eine Formulierung finden, die auf „du“ endet (Textgedächtnis): „Ich habe versagt, nicht du“.
Nach dieser Erkenntnis wird die Mutter versöhnlicher. Spricht mit Lia. Kümmert sich um Iris. Und Lia – dann schon im Dämmer nach einem schweren Infarkt – spürt ihre Anwesenheit und empfindet sie ganz und gar nicht mehr als die eisige Abwehr, die ihr aus Kindertagen so vertraut war.
Eine Mutter gurrt.
Dieser kühle, private Duft steigt auf und schöpft.
Und wir liegen auf einem Flügelschild.
Und sie ist uns näher denn je; sie knabbert und küsst
und zupft, wir haben Federn im Mund, und wir
ertrinken in der Innigkeit.Da gibt es kein Um Himmels willen.
Kein Warum trägst du keine Schuhe?
Nicht einmal ein Was hast du vor?Nur das Ich hab dich, ich hab dich
in ihrem seidigen Vogelsprech.
Und da ist Himmel. Und überall um uns –
Flug.
Die „zweite Versöhnung“ (die erste erfolgt mit Matthew/Fossil) schließt sich unmittelbar an das Kapitel „Übersetzung“ der Leseprobe an und bedeutet nicht nur die heilsame Vergebung, sondern auch sprachlich die notwendige Befriedung. Danach werden die Erzählstimmen im Ich vereint sein. Alles teuflische Tun wird zur Ruhe kommen, alles Leid ein Ende haben. Das Strahlen – hier mit letztem Schadenfreudestachel – lässt die Strapazen vergessen. Loslassen, getrost.
Die zweite Versöhnung
Taube neigt sich tief herab. Sie drückt den Scheitel des perlweißen Kopfes an unsere Wange. Zarter Vogelatem streicht über unser kränkliches, geistergebeiztes Gesicht.
Dann wendet sich Vogel zum Licht, blickt nach oben und hinaus
auf etwas – wir wissen nicht und werden nie wissen, was. Langsam breitet sie ihre Flügel so weit, dass wir unwillkürlich ein wenig zusammenzucken, weil es das Heiligste ist, das wir je gesehen haben. Sie sieht wild, aber liebevoll zu uns zurück, erhebt sich dann leicht in die Luft und schmettert durchs Krankenhausfenster, als wäre es die üblichste Art für Mütter, von der Bühne zu gehen.(…)
Und die Leute schreien. Und wir strahlen. Und es ist unmöglich, glaube ich, sich nicht an der einzigartigen Folter der Versöhnung zu erfreuen, am glorreichen Chaos des Ganzen.