Ursula K. Le Guin: Die linke Hand der Dunkelheit
Übersetzt aus dem Englischen von Karen Nölle
Zweisprachige Leseprobe

I expect it will turn out that sexual intercourse is possible between Gethenian double-sexed and Hainish-norm one-sexed human beings, though such intercourse will inevitably be sterile. It remains to be proved; Estraven and I proved nothing except perhaps a rather subtler point. The nearest to crisis that our sexual desires brought us was on a night early in the journey, our second night up on the Ice. We had spent all day struggling and back-tracking in the cut-up, crevassed area east of the Fire Hills. We were tired that evening but elated, sure that a clear course would soon open out ahead. But after dinner Estraven grew taciturn, and cut my talk off short.

I said at last after a direct rebuff, "Harth, I've said something wrong again, please tell me what it is."

He was silent. "I've made some mistake in shifgrethor. I'm sorry; I can't learn. I've never even really understood the meaning of the word."

"Shifgrethor? It comes from an old word for shadow."

We were both silent for a little, and then he looked at me with a direct, gentle gaze. His face in the reddish light was as soft, as vulnerable, as remote as the face of a woman who looks at you out of her thoughts and does not speak.

And I saw then again, and for good, what I had always been afraid to see, and had pretended not to see in him: that he was a woman as well as a man. Any need to explain the sources of that fear vanished with the fear; what I was left with was, at last, acceptance of him as he was. Until then I had rejected him, refused him his own reality. He had been quite right to say that he, the only person on Gethen who trusted me, was the only Gethenian I distrusted. For he was the only one who had entirely accepted me as a human being: who had liked me personally and given me entire personal loyalty: and who therefore had demanded of me an equal degree of recognition, of acceptance. I had not been willing to give it. I had been afraid to give it. I had not wanted to give my trust, my friendship to a man who was a woman, a woman who was a man.

He explained, stiffly and simply, that he was in kemmer and had been trying to avoid me, insofar as one of us could avoid the other. "I must not touch you," he said, with extreme constraint; saying that he looked away.

I said, "I understand. I agree completely."

For it seemed to me, and I think to him, that it was from that sexual tension between us, admitted now and understood, but not assuaged, that the great and sudden assurance of friendship between us rose: a friendship so much needed by us both in our exile, and already so well proved in the days and nights of our bitter journey, that it might as well be called, now as later, love. But it was from the difference between us, not from the affinities and likenesses, but from the difference, that that love came: and it was itself the bridge, the only bridge, across what divided us. For us to meet sexually would be for us to meet once more as aliens. We had touched, in the only way we could touch. We left it at that. I do not know if we were right.

Ursula K. Le Guin: The Left Hand of Darkness. Hainish Novels & Stories, Volume One. The Library of America, New York 2017, S. 569-570.

Ich denke, es wird sich herausstellen, dass Geschlechtsverkehr zwischen ambisexuellen Gethenern und monosexuellen Menschen nach Hainischnorm möglich ist, allerdings ohne dass Nachkommen gezeugt werden. Erweisen muss sich das erst noch; Estraven und ich haben nichts bewiesen als vielleicht etwas weit Subtileres. Nur ein einziges Mal, an einem Abend bald nach Beginn unserer Reise, dem zweiten oben auf dem Eis, kam es durch sexuelle Begierde zwischen uns fast zu einer Krise. Wir hatten uns den ganzen Tag in der zerklüfteten, unwegsamen Gegend östlich der Feuerberge abgekämpft. Am Abend waren wir müde, aber guter Stimmung, da wir sicher waren, dass wir bald freie Bahn haben würden. Doch nach dem Essen wurde Estraven einsilbig und schnitt mir mehrmals das Wort ab.

Nach einer direkten Abfuhr sagte ich: »Harth, ich habe mal wieder was Falsches gesagt, bitte verrate mir, was es war.«

Er schwieg. »Ich habe mich gegen das Schifgrethor vergangen. Es tut mir leid. Ich kann es nicht lernen. Ich habe noch nicht einmal das Wort richtig verstanden.«

»Schifgrethor? Es kommt von einem alten Wort für Schatten.«

Wir schwiegen beide eine Weile, und dann wandte er sich mir mit einem direkten, sanften Blick zu. In dem rötlichen Licht war sein Gesicht so weich, so verletzlich, so fern wie das Gesicht einer Frau, die dich gedankenverloren ansieht und nichts sagt.

Und ich sah wieder einmal, und nun endgültig, wovor ich immer Angst gehabt und was ich verdrängt hatte: dass er nicht nur ein Mann, sondern zugleich eine Frau war. Jedes Bedürfnis, die Ursache der Angst zu erklären, verschwand mit der Angst; endlich konnte ich Estraven so annehmen, wie er war. Bis dahin hatte ich ihn abgelehnt, ihm die eigene Realität verweigert. Er hatte ganz recht damit gehabt, dass er, der einzige Mensch auf Gethen, der mir vertraute, der einzige Gethener war, dem ich misstraute. Denn er war der Einzige, der mich ganz und gar als Mensch angenommen hatte: der mich persönlich gemocht und mir seine ganz persönliche Loyalität geschenkt hatte: und der von mir darum ein gleiches Maß der Anerkennung, der Annahme verlangt hatte. Dazu war ich nicht bereit gewesen. Davor hatte ich Angst gehabt. Ich hatte mein Vertrauen, meine Freundschaft, nicht einem Mann schenken wollen, der eine Frau war, nicht einer Frau, die ein Mann war.

Er erklärte steif und schlicht, dass er in der Kemmer sei und mich zu meiden versucht habe, so gut wir uns eben meiden könnten. »Ich darf dich nicht berühren«, sagte er mit äußerster Beherrschung und wandte den Blick ab.

Ich sagte: »Das verstehe ich. Ich stimme dir vollkommen zu.«

Denn es schien mir, und ihm wohl ebenfalls, dass die nun eingestandene und als solche erkannte, nicht jedoch befriedigte sexuelle Spannung zwischen uns der Grund dafür war, dass wir uns plötzlich unserer Freundschaft so sicher waren: einer Freundschaft, die wir beide in unserem Exil so sehr brauchten und die sich in den Tagen und Nächten unserer schwierigen Reise bereits so bewährt hatte, dass man sie – jetzt wie auch später – Liebe nennen konnte. Doch erwuchs diese Liebe aus den Unterschieden, nicht aus den Neigungen und Ähnlichkeiten, sondern aus den Unterschieden zwischen uns: und sie, nur sie bildete die Brücke, die einzige Brücke über das, was uns trennte. Eine sexuelle Begegnung zwischen uns wäre erneut eine Begegnung unter Fremden gewesen. Wir hatten uns auf die einzige Weise berührt, die uns möglich war. Wir beließen es dabei. Ob das richtig war, weiß ich nicht.

Ursula K. Le Guin: Die linke Hand der Dunkelheit. Aus dem Englischen von Karen Nölle. S. Fischer Verlag, 2023, S. 268-288.