Journale Prosa Und die Menschen dort sind androgyn

Und die Menschen dort sind androgyn

Journal zur Neuübersetzung des Romans Die linke Hand der Dunkelheit von Ursula K. Le Guin

1. Das Buch
2. Inhalt
3. Nichts ist vertraut
4. Alt und neu
5. Maskulin, feminin, androgyn

Ausschnitt vom Cover der Werkausgabe von The Left Hand of Darkness in Hainish Novels and Stories, Volume One, Library of America, New York 2017.

1. Das Buch

Ich war schon eine Weile ratlos, wie ich Ursula Le Guin und Die linke Hand der Dunkelheit wohl am besten vorstellen könnte, als ich auf ein Vorwort zum Buch von Becky Chambers stieß. Darin beschreibt sie, wie sie nach einer Tagung in der Bar mit einer jungen Frau zusammensitzt, die noch kaum Science-Fiction gelesen hat und um Leseempfehlungen bittet:

»Wo, fragte sie, soll ich anfangen?«

»Haben Sie Ursula K. Le Guin gelesen?«, fragte ich. Die junge Frau schüttelte den Kopf.

Während sie sich den Namen aufschrieb, brach rund um Tisch, an dem wir saßen, Lobgesang aus. Wir gehörten verschiedenen Geschlechtern und Altersgruppen an, aber waren uns alle einig: Die Novizin musste Le Guin lesen.

»Wenn Sie nur eins von ihr lesen, dann Die linke Hand der Dunkelheit«, sagte ich. »Ich meine, alles von ihr lohnt sich. Aber Die linke Hand ist …« Ich brach ab, unsicher, wie ich meinen Standpunkt resümieren sollte.

»Das Buch ist …«, begann eine meiner Kolleginnen, aber auch sie musste nach Worten suchen. »Es ist so wichtig. Es hat alles verändert.«1

Ich war also mit meinem Problem nicht allein: Der Roman wehrt sich dagegen, zusammengefasst oder nacherzählt zu werden. Wenn man einzelne Fäden zu ziehen versucht, zerfällt einem das, was seinen Zauber ausmacht und was man doch so gerne mitteilen möchte. Nur im Zusammenspiel aller Elemente entfalten sich Wirkung, Sinn und die Kraft des Textes. Und das passt dazu, wie Le Guin in einem eigenen Vorwort selbst ihren Schaffensprozess beschreibt:

Schriftsteller sagen mit Worten, was mit Worten nicht gesagt werden kann.

Worte können auf so paradoxe Weise verwendet werden, weil sie neben der semiotischen auch eine symbolische oder metaphorische Bedeutung haben …

Jede Dichtung ist Metapher … Die Zukunft, im Roman, ist eine Metapher.

Eine Metapher wofür?

Hätte ich das unmetaphorisch zu sagen vermocht, hätte ich diese vielen Worte, diesen Roman, nicht geschrieben; und Genly Ai hätte sich nie an meinen Schreibtisch gesetzt, hätte nie meine Tinte und das Farbband meiner Schreibmaschine verbraucht, um mir, und dir, mit vollem Ernst kundzutun, dass die Wahrheit eine Frage der Phantasie ist.2

Der Roman birgt etwas, das für sie nicht anders zu sagen war als in dieser Form. Er ist ihre Art der Wahrheitsfindung. Und am Beginn steht nichts Abstraktes, sondern, wie sie in einem späteren Essay schreibt, ein Mensch, eine Figur, die sie anspricht, als Inspiration:

Ein Buch kommt zu mir nicht in Form einer Idee, einer Handlung oder Begebenheit, einer Gesellschaft oder Botschaft, sondern in der Gestalt eines Menschen. Eines Menschen gesehen aus einer gewissen Entfernung, gewöhnlich in einer Landschaft. Der Ort ist da, der Mensch ist da. Ich habe ihn nicht erfunden, ich habe sie mir nicht ausgedacht: Er oder sie ist da. Und mir ist aufgegeben, nun auch dorthin zu gelangen.

Einmal … sah ich zwei … es waren kleine Gestalten in einer riesigen Wüste aus Schnee und Eis. Das ist alles, was ich sah. Ich wusste nicht, wer sie waren. Ich kannte nicht einmal ihr Geschlecht (und ich muss sagen, dass ich überrascht war, als ich es erfuhr). Doch es war der Beginn zu meinem Roman Die linke Hand der Dunkelheit, und wenn ich an das Buch denke, steht mir immer noch dieses Bild ((this vision)) vor Augen. Alles Übrige, mitsamt der ganzen befremdlichen Geschlechtswandlungen, der Bilderwelt um Verrat, Einsamkeit und Kälte, ist mein Bemühen, es einzuholen, ihm näherzukommen, dorthin vorzudringen, wo ich die beiden Gestalten auf dem Schnee gesehen habe, isoliert und zusammen.3

Dieses Bild — die Vision — musste ich mir zum Übersetzen so aneignen und zu halten versuchen, dass möglichst alles, was ich hinschrieb, dem metaphorischem Ganzen diente, durch eine nicht abreißende Verbindung zu dem, was Le Guin sagen wollte und »was mit Worten nicht gesagt werden kann«, aber den Text im Innersten zusammenhält.

Ob das gelungen ist, kann natürlich nur die Übersetzung im Ganzen zeigen. Während der Arbeit jedenfalls war dieses Bemühen wesentlich für mich, vielleicht nicht zuletzt deswegen, weil die Welt in der Linken Hand eine erfundene ist, so dass Le Guins Text und mein Gefühl für die Idee dahinter das Einzige sind, was mir Orientierung gibt. Le Guin richtet sich an ihrer Vision aus, ich habe nur die Vision, wie ich sie durch den Text erahne — kein externes Wissen, nichts, was ich mir durch Recherche erschließen könnte, weil es diese Welt aus Worten nur in diesem einen Buch und in der Phantasie der Autorin gibt.

Ausschnitt vom Umschlag der ersten Hardcover Ausgabe, New York, Walker & Co 1969.

2. Inhalt

Nun aber wenigstens eine Kurzinformation zum Buch und seinem Inhalt: Die linke Hand der Dunkelheit, zuerst erschienen 19694, ist ein Klassiker der Phantastik, viel gelobt, weltweit übersetzt, immer wieder aufgelegt, von ungewöhnlicher Form und Denkart, ein liebevoll entwickeltes Gedankenexperiment zum Thema Vertrauen, Verrat, Freundschaft, Akzeptanz und Geschlecht.

Der Roman spielt in einer unbestimmten Zukunft im fernen Weltall: Auf dem Planet Gethen herrscht ganzjährig Winter. Seine menschlichen Bewohner sind androgyn. Die Gesellschaft glaubt nicht an Fortschritt. Jedes neue Jahr ist das Jahr Eins. Kriege sind bislang unbekannt, drohen aber, da Angst und Hass geschürt werden, als neue Möglichkeit der Austragung von Gegnerschaft. Die Hauptfigur Genly Ai, ein junger Abgesandter des Weltenbunds Ekumen, hat die Aufgabe, die Länder auf dem Planeten für den Beitritt zum Weltenbund zu gewinnen. Für ihn, den Terraner, ist es einerseits eine nüchterne Tatsache, andererseits aber nur schwer zu begreifen, dass die Bewohner Mann und Frau zugleich und nur wenige Tage im Monat sexuell aktiv sind. Die kulturellen Konventionen einer gleichberechtigten Gesellschaft verwirren ihn zutiefst; für ihn sind alle Menschen auf Gethen »er«. Es fällt ihm schwer, die Selbstverständlichkeiten seiner phallozentrischen Weltsicht zu überwinden. Dass es schließlich gelingt, ist einem langen Trek über das Große Eis und seinem Gefährten Estraven zu verdanken, der zweiten Hauptfigur und dem großen Sympathieträger des Romans.

Genly Ai ist nicht nur die Hauptfigur, sondern auch der Erzähler des Ganzen. Formal diktiert er einen Bericht an die Zentrale auf dem Mutterplaneten Hain. Wir, die Lesenden, erfahren alles aus seiner Perspektive, und alles, was seinen Bericht ergänzt, die Mythen, Erzählungen und Estravens Tagebücher, ist von ihm übersetzt. (Mit Ausnahme eines einzigen Kapitels, des siebten, das aus »Archivmaterial« besteht.) Seine Stimme, seine Sicht, bestimmen den Inhalt. Ihnen habe ich treu zu sein. Ihnen und Genlys erzählerischem Ehrgeiz, denn er hat Bewegendes erlebt, und es liegt ihm daran, die Phantasie der Empfänger·innen seines Berichts mitzureißen. Gleich im ersten Satz des Romans sagt er:

Ich werde meinen Bericht so abfassen, als erzählte ich eine Geschichte, denn man hat mich als Kind auf meiner Heimatwelt gelehrt, dass die Wahrheit eine Frage der Phantasie ist. Ob eine Tatsache steht oder fällt, hängt davon ab, wie von ihr erzählt wird.5

Geschickt, oder, wie die Autorin ihrem Erzähler gleich einen literarischen Anspruch in den Mund legt? Der jedenfalls geht nach zwei einleitenden Absätzen gleich in die Vollen und präsentiert Szene um Szene, deren Eindrücklichkeit an intensive Träume erinnert: bildhaft und in sich scheinbar logisch, wenn auch weitgehend rätselhaft. Viele Passagen wirken so direkt in ihrem Erleben, dass der Erzähler beim Lesen fast in Vergessenheit gerät, bei der Übertragung ins Deutsche jedoch präsent bleiben musste. Ursula K. Le Guin hat die Gratwanderung zwischen Direktheit und Vermitteltheit unauffällig, aber genau angelegt.

Ursula K. Le Guin: Die linke Hand der Dunkelheit. Aus dem Englischen von Karen Nölle. S. Fischer Verlag, 2023.

3. Nichts ist vertraut

Genly Ai ist als Abgesandter des Ekumen allein auf einer fremden Welt in einer fremden Menschheit. Dort spricht er Karhidisch oder Orgotisch, seine Aufzeichnungen spricht er auf Hainisch ein, die Leser·innen des Originals bekommen sie auf Englisch zu lesen, die der deutschen Ausgabe auf Deutsch. So zumindest die Fiktion. Was ich anzufertigen hatte, war also die Übersetzung einer Übersetzung, in der bereits vieles übersetzt ist.

An dieser Fiktion habe ich festgehalten, auch sie bestimmt für mich den Grundton des Ganzen und selbst dort, wo es für die Lektüre scheinbar keine Rolle spielt: in den Mythen und Märchen, die zwischen den Handlungskapiteln eingeschoben sind, und in jenen Kapiteln, die scheinbar direkt aus Estravens Feder stammen. Auch diese lesen wir in einer von Genly erarbeiteten Version. Wann und in welcher Dosierung wir etwas mitgeteilt bekommen, hängt überall von ihm als Urheber ab. Dass er zwar eine ehrliche Haut ist, sich aber in Vielem täuscht, macht unter anderem den Reiz der Lektüre aus.

Durch seine absolute Einsamkeit ist das Traumartige, manchmal Alptraumhafte des Erlebten plausibel. Er kann gar nicht so schnell sortieren, wie die fremde Realität auf ihn einstürmt. Die Eindrücke sind grell, in sich schlüssig, nicht mit dem Verstand einzuholen. Das Verhalten der Leute, denen er begegnet, ist seltsam und rätselhaft. Im Deutschen nichts weicher zu verpacken, weniger unmittelbar oder etwa heimischer zu machen, war mir wichtig.

Darum habe ich für die Anrede unter Menschen auf jede Eindeutschung von Gepflogenheiten verzichtet. Anders als in der alten Übersetzung wird niemand gesiezt. Alle sind »du«, ob König, Minister, »Wirtin« oder Kind, so als gäbe es auf Hainisch in ferner Zukunft nur die eine Anrede. Die Anrede ist weder vertraut noch intim, sondern neutral und auch in formellen Zusammenhängen passend.

Auch Titel und Rangbezeichnungen sind möglichst neutral gehalten, um irdische Assoziationen oder Historisierendes zu meiden. King ist König, Anrede Majestät, Lord ist Fürst, Anrede Fürst. Aus »Mr.«, — denn Genly Ai wird vielerorts mit »Mr.« angeredet, vermutlich seiner Übersetzung der Höflichkeitsform — ist bei mir »Mister« geworden, um dem erzählenden Terraner das Wort zu lassen, aber ohne die englische Abkürzung.

Damit die Gethener nicht versehentlich als Terraner·innen wie du und ich erscheinen, habe ich die wörtliche Rede eher an Hoch- oder Schriftdeutsch ausgerichtet als an deutscher Mündlichkeit oder Umgangssprache. Die dadurch entstehende Förmlichkeit entspricht (für mich) der Distanz zwischen Genly und den Bewohnern der fernen Welt. Beide Seiten missverstehen einander ständig, sprechen weniger spontan als — je nach Intention — überlegt oder berechnend. Oder, wie bei Genly der Fall, mit dem Ziel, Erkenntnisse über die Menschen zu gewinnen, bei denen er gelandet ist. Und natürlich spielt eine Rolle, dass die Dialoge von ihm selbst zur Verlebendigung dessen, was er nach Hain zu kommunizieren wünscht, ausgewählt, aufgeladen und übersetzt sind.

»Das beste Essen auf Gethen habe ich immer in deiner Gesellschaft genossen, Estraven.«
»Nicht bei dem Bankett in Mischnory.«
»Nein, das stimmt ... Du hasst Orgoreyn, nicht wahr?«
»Die wenigsten Orgoten verstehen etwas vom Kochen. Ob ich Orgoreyn hasse? Nein, woher denn? Wie soll man ein Land hassen – oder lieben? Tibe redet davon; mir fehlt die Begabung dazu. Ich kenne Menschen, ich kenne Orte, Farmen, Berge, Flüsse und Felsen; ich weiß, wie die Sonne im Herbst, wenn sie untergeht, seitlich auf einen bestimmten Acker in den Bergen fällt; aber welchen Sinn hat es, das alles mit Grenzen zu versehen, ihm einen Namen zu geben und zu lieben aufzuhören, wo der Name nicht mehr gilt? Was ist Liebe zum eigenen Land; ist sie Hass auf uneigenes Land? Dann taugt sie nichts. Ist sie schlicht Eigenliebe? Das ist etwas Gutes, aber man darf es nicht zur Tugend erheben oder zur Profession... Ich liebe die Berge der Domäne Estre so, wie ich das Leben liebe, aber diese Art von Liebe hat keine Grenzlinie aus Hass. Und weiter weiß ich nichts. Hoffentlich.«6

Der abrupte Übergang vom Banalen zum Wesentlichen, Wahrheitsbestrebten in Gesprächen ist typisch für viele Stellen im Roman, insbesondere der zweiten Hälfte, in der Genly und Estraven achtzig Tage lang durch eine riesige unbewohnte Eislandschaft ziehen, allein, den Elementen ausgesetzt, in existentieller Gefahr. Die Dialoge spiegeln die Intensität ihres Erlebens, tragen durch die unverhoffte Tiefe zur Traumatmosphäre des Ganzen bei und geben den zwei Menschlein etwas sehr Anrührendes.

Estraven sagte etwas: »Gib mir die Näpfe, Mister Ai« oder so ähnlich, und ich erwiderte: »Wird es auf dem ganzen Weg über das Gobrineis bei ›Mister‹ bleiben?« Er lachte. »Ich weiß nicht, wie ich dich nennen soll.«
»Ich heiße Genly Ai.«
»Ich weiß. Du sprichst mich mit meinem Landnamen an.«
»Ich weiß auch nicht, wie ich dich nennen soll.«
»Harth.«
»Dann bin ich Ai. – Wer nennt sich beim Vornamen?«
»Herdstättenbrüder und Freunde«, sagte er und war zwei Fuß von mir entfernt in einem acht Fuß breiten Zelt auf einmal fern und unerreichbar. Darauf gab es keine Antwort. Was war arroganter als Ehrlichkeit? Ernüchtert stieg ich in meinen Pelzsack. »Gute Nacht, Ai«, sagte der Alien, und der andere Alien sagte: »Gute Nacht, Harth.«7

Die Passage endet mit einer Überlegung Genlys:

Ein Freund. Was ist ein Freund, in einer Welt, wo jeder Freund in einer neuen Mondphase zum Geliebten werden kann? Ich, in meiner starren Männlichkeit, war keiner: weder ein Freund von Therem Harth noch von anderen seines Volkes. Sie alle, weder Mann noch Frau, keines und beides zugleich, zyklusabhängig, mondabhängig, wandelbar durch eine kosende Hand, Wechselwesen schon in der Wiege, sie alle waren nicht Fleisch von meinem Fleisch, keine Freunde. Zwischen uns keine Liebe.8

»Weder Mann noch Frau, keines und beides zugleich«, das bringt mich zu meinem Umgang mit der Androgynität der Bewohner von Gethen. Zuvor jedoch noch eine Zwischenbemerkung.

Von Ursula K. Le Guin gezeichnete Landkarte mit der Route des Treks über das Gobrin Eisschild

4. Alt und neu

Meine Version von Die linke Hand der Dunkelheit erscheint als Neuübersetzung eines Klassikers. Die erste deutsche Fassung stammt von Gisela Stege, die vieles von Ursula K. Le Guin übersetzt hat, und hieß Winterplanet, später dann ebenfalls Die linke Hand der Dunkelheit.9 Gisela Stege hat den Text im Ton breiter angelegt als ich, sodass er um einiges länger ausfällt. Ich habe ihre Fassung, eigentlich gegen meine Gewohnheit, während der Arbeit häufiger mal konsultiert. Beim Wort für Welt ist Wald und bei der Überlieferung hatte ich gar nicht in die alten Übersetzungen geschaut, bei Freie Geister10 hatte ich sie an Stellen aufgesucht, wo ich mir Hilfe mit der komplizierten Physik erhoffte — leider vergeblich. Diesmal hatte mir eine Kollegin ihren Band geliehen, Sabine Schulte, die ihn zu meiner Freude mit Kommentaren und Fragezeichen versehen hatte, wo sie nicht zufrieden war. Und so machte ich mir den Spaß, wenn ich nicht weiterwusste, bei meiner Vorgängerin nachzusehen. Vieles gefiel mir nicht schlecht, ich hatte nicht das Gefühl, meinen Text »moderner« zu gestalten — es sei denn durch den Verzicht auf Ausschmückungen —, was mir aber deutlich auffiel, waren die Unterschiede in unserer Begriffswahl und den Adjektiven. Als Eindruck hier zwei Passagen, im Original und in den beiden Übersetzungen:

Eine Landschaft:

Ahead of us, cleared and revealed by the same vast sweep of the wind, lay twisted valleys, hundreds of feet below, full of ice and boulders. Across those valleys a great wall stood, a wall of ice, and raising our eyes up and still up to the rim of the wall we saw the Ice itself, the Gobrin Glacier, blinding and horizonless to the utmost north, a white, a white the eyes could not look on. (390 Z)

Vor und tief unter uns lagen, vom selben weiten Windstrom freigelegt, zerklüftete Täler voll Eis und Geröll. Die Täler durchschnitt eine riesige Wand, eine Mauer aus Eis, und oben, weit oben, erst mit erhobenem Blick zu sehen, war das Eis selbst, der Gobringletscher, gleißend hell und bis in den äußersten Norden ohne Ende, von einem Weiß, einem Weiß, das die Augen nicht aushielten. (KN 384 Z)

Vor unseren Füßen, vom Wind leergefegt, lagen tief unten verschlungene Täler voll Geröll und Eis. Und auf der anderen Seite dieser Täler erhob sich eine riesige Wand, eine feste Mauer aus blankem Eis, und als wir unsere Blicke an dieser immensen Mauer emporwandern ließen, wurde uns klar, dass wir das große Eis vor uns hatten, den Gobrin-Gletscher, der sich weiß, fast zu grell für das ungeschützte menschliche Auge, nach Norden erstreckte bis an den unsichtbaren Horizont, wo die flimmernde Helligkeit in den Himmel überzugehen schien. (GS 537 Z)11

Eine Betrachtung:

Estraven had conversed amiably at table; now, sitting across the hearth from me, he was quiet. Though I had been nearly two years on Winter I was still far from being able to see the people of the planet through their own eyes. I tried to, but my efforts took the form of self-consciously seeing a Gethenian first as a man, then as a woman, forcing him into those categories so irrelevant to his nature and so essential to my own. Thus as I sipped my smoking sour beer I thought that at table Estraven's performance had been womanly, all charm and tact and lack of substance, specious and adroit. Was it in fact perhaps this soft supple femininity that I disliked and distrusted in him? For it was impossible to think of him as a woman, that dark, ironic, powerful presence near me in the firelit darkness, and yet whenever I thought of him as a man I felt a sense of falseness, of imposture: in him, or in my own attitude towards him? (935 Z)

Estraven hatte mich bei Tisch freundlich unterhalten; jetzt, mir gegenüber am Kamin, war er still. Obwohl ich mich schon fast zwei Jahre auf Winter aufhielt, war ich noch weit davon entfernt, die Menschen des Planeten mit ihren eigenen Augen zu sehen. Ich versuchte es, aber meine Bemühungen führten lediglich dazu, dass ich Gethener stets von meiner Warte wahrnahm, zunächst als Mann, dann als Frau, und sie damit in jene Kategorien zwängte, die für ihre Natur so unbedeutend und für die meine so wesensbestimmend sind. Während ich an meinem sauren, dampfenden Bier nippte, ging mir also durch den Kopf, dass ich Estravens Verhalten bei Tisch als fraulich empfunden hatte, ganz Charme und Takt, gehaltlos, banal und geschickt. War es womöglich gar diese weiche, gefügige Femininität, die mir missfiel und meinen Argwohn gegen ihn auslöste? Denn es war unmöglich, sich ihn, diese finstere, ironische, mächtige Präsenz, die mir im nur vom Feuer beleuchteten Halbdunkel gegenübersaß, als Frau zu denken, und trotzdem verspürte ich, immer wenn ich ihn mir als Mann dachte, etwas Unechtes, Falsches: in ihm oder in meiner Einstellung zu ihm? (KN 1137 Z)

Bei Tisch hatte Estraven liebenswürdig mit mir geplaudert; jetzt, mir gegenüber vor dem Feuer sitzend, war er sehr still. Obwohl ich schon zwei Jahre auf Winter lebte, war ich noch lange nicht in der Lage, die Planetenbewohner so zu sehen, wie sie sich sahen. Immer wieder versuchte ich es, doch meine Bemühungen endeten alle damit, dass ich die einzelnen Gethenianer unbewusst zuerst als Mann und dann als Frau sah und sie somit in eine jener Kategorien zwang, die für sie so irrelevant, für mich dagegen so wesentlich sind. So dachte ich jetzt, als ich mein dampfendes, herbes Bier schlürfte, dass Estravens Verhalten bei Tisch ganz und gar weiblich gewesen war, ganz Charme, Takt und Oberflächlichkeit, liebenswürdig und gewandt. War es vielleicht sogar diese sanfte, subtile Weiblichkeit, die ich an ihm nicht mochte und der ich misstraute? Denn es war unmöglich in ihm, in dieser dunklen, ironischen, machtvollen Persönlichkeit neben mir in der vom Feuer erleuchteten Dunkelheit eine Frau zu sehen, und dennoch spürte ich, sobald ich in ihm einen Mann zu sehen versuchte, etwas Unechtes, einen Betrug: in ihm oder in meiner eigenen Einstellung zu ihm? (GS 1156 Z)

Cover The Folio Society, London 2018

5. Maskulin, feminin, androgyn

Le Guins Protagonist Genly Ai ist ein junger, dunkelhäutiger, hochgewachsener Terraner, größer und dunkler als die meisten Gethener, aber nicht so, dass er überall gleich als fremd heraussticht. Äußerlich kann er sich fast eingliedern, die Bewohner sind ihm so ähnlich, dass er sich schlicht fühlt wie unter Menschen. Jedenfalls beinahe — wäre da nicht der entscheidende Unterschied ihrer Doppelgeschlechtlichkeit. Als mobiler Observant ist er eigentlich bestens dazu geschult, allem Fremden ohne Vorurteile zu begegnen, offen und mit Respekt. Unter Gethenern aber tritt sein Egozentrismus zutage. Unbewusst, vielleicht weil sie ihm in Vielem so ähnlich sind, vielleicht, weil Phallozentrismus nicht zu seinen Ausbildungsfächern gehörte, behält er Beurteilungsmuster bei, die seine Wahrnehmung trüben. Und das führt zu verhängnisvollen Irrungen und Wirrungen.

Seine Haltung zeigt sich sprachlich wie gesagt darin, dass auf Gethen alle für ihn „er“ — männlich — sind und nur, wenn ihr Verhalten von seinem verinnerlichten Kodex von Männlichkeit abweicht, mit weiblichen Attributen bedacht werden. An das männliche Pronomen, die männlichen Berufsbezeichnungen habe ich mich gehalten. Nur das englische »man« habe ich gelegentlich ersetzt, durch »Mensch« oder in Fällen wie »banished men« durch eine schlichte Substantivierung: »Verbannte«. Auch »person« plus »he« ist bei mir zu »Mensch« und »er« geworden. Mir lag nicht daran, die Vermännlichung der androgynen Bewohner zu betonen, sondern beim generischen Maskulinum zu bleiben, um Leser·innen des deutschen Textes, die Freude an Selbstbeobachtung haben, Gelegenheit zu geben, ihr Empfinden für die geschlechtlichen Zuordnungen zu prüfen.

Dass das generische Maskulinum in diesem Text tatsächlich nicht alle meint, sondern männlich konnotiert ist, passt zur allmählichen Bewusstseinsentwicklung Genlys. In lichten Momenten, wie in den beiden obigen Zitaten, reflektiert er seine Einstellung. Unterbewusst nimmt er alle als Männer wahr, vollwertige, ernstzunehmende oder irgendwie defizitäre, die er mit abfälligen Attributen für Weibliches bedenkt. Dabei habe ich genüsslich mitgespielt. Wo ein intriganter Minister vorgeführt wird, »made to look rather a fool«, wirkt er »ziemlich dämlich«.12 Der/die Hausmeister·in seiner Wohninsel ist für ihn die »Wirtin«:

… ich nannte ihn in Gedanken meine Wirtin, denn er hatte ein dickes Gesäß, das beim Gehen wackelte, und ein dickes, weiches Gesicht und war maßlos neugierig, ordinär und freundlich … Sein Aussehen und Verhalten waren so feminin, dass ich ihn einmal fragte, wie viele Kinder er habe. Er machte ein trauriges Gesicht. Er hatte keine zur Welt gebracht, aber vier gezeugt. Das war einer der kleinen Schocks, die ich ständig bekam. Der Kulturschock war nichts gegen den biologischen Schock, den ich als männlicher Mensch unter Menschen erlitt, die zu fünf Sechsteln der Zeit hermaphroditische Neutren waren.13

Im Straflager beurteilt er das Wachpersonal und die Mitgefangenen so:

Die Wärter waren selten hart und nie brutal. Sie waren in der Regel teilnahmslos, schwerfällig, dick und in meinen Augen feminin – nicht im Sinne von zart usw., sondern gerade das Gegenteil: grobschlächtig, fleischig und geistig träge. Auch unter meinen Mitgefangenen hatte ich zum ersten Mal auf Winter das unbestimmte Gefühl, ein Mann unter Frauen oder Eunuchen zu sein. Die Gefangenen waren genauso schlaff und plump. Sie waren schwer zu unterscheiden; der Tonus ihrer Emotionen wirkte stets schwach, ihre Gespräche banal.14

Das siebte Kapitel (von zwanzig) enthält den Bericht eines früheren Erkundungsteams »Zum Thema Geschlecht«. Darin werden Geschlechtlichkeit, Sexualverhalten, Gleichberechtigung der Gethener im »objektiven« Ton einer wissenschaftlichen Untersuchung beschrieben und mit binären Gesellschaften verglichen. Am Ende gibt sich die Verfasserin als Frau zu erkennen und gesteht, dass ihre Bewertungen vermutlich durch ihre weibliche Sicht gefärbt sind. Für die Lesenden hat das Kapitel zweierlei Nutzen: es klärt sie unabhängig von Genly über die Androgynität der Bewohner auf und schärft ihre Wahrnehmung seiner männlichen Sicht:

Wer Gethenern begegnet, kann und darf sie nicht, wie es einem Zweigeschlechtlichen von Natur aus naheliegt, als Mann oder Frau interpretieren und ihnen gegenüber deshalb eine Rolle einnehmen, die den eigenen Erwartungen an die üblichen beziehungsweise möglichen Interaktionen mit Menschen des eigenen oder des anderen Geschlechts entspricht. Unser gesamtes Repertoire an sozio-geschlechtlichen Interaktionen ist hier nicht vorhanden. Die Gethener kennen das Spiel nicht. Sie sehen einander nicht als Männer oder Frauen. Das übersteigt unsere Vorstellungskraft. Was ist das Erste, wonach wir bei einem Neugeborenen fragen?

[…]

Der Erste Mobile, so denn einer entsandt wird, muss gewarnt sein, dass sein Stolz leiden wird, falls er nicht äußerst selbstsicher oder senil ist. Ein Mann möchte, dass seine Virilität wahrgenommen, eine Frau, dass ihre Weiblichkeit gewürdigt wird, seien die Anzeichen von Wertschätzung und Würdigung auch noch so indirekt und subtil. Auf Winter wird es diese nicht geben. Man wird allein als Mensch geachtet und beurteilt.15

Ein Schlüsselwort ist hier Virilität. Denn Genly, dem es zunächst zu schaffen macht, dass sie den Gethenern fehlt, hat zunehmend mit Problemen zu kämpfen, die sie ihm beschert und von denen sein Gefährte, weil er von ihr frei ist, unbehelligt bleibt. Viele mit Virilität verbundene Eigenschaften werden hinterfragt: Wagemut, Geltungsbedürfnis, der Wunsch nach Belohnung zum Beispiel. Seltsamerweise erhielt diese Tatsache bei der Rezeption des Buches weniger Aufmerksamkeit als Mutmaßungen über das Sexualleben der androgynen Menschen. Nach Erscheinen wurden neben großer allgemeiner Begeisterung vor allem unter Feministinnen auch kritische Stimmen laut — wegen Le Guins Gebrauch des generischen Maskulinums und angeblicher Heteronormativität. Le Guin ging 1976 auf die Vorwürfe ein, indem sie erklärte, worum es ihr in dem Buch gegangen war, nämlich mehr um die Themen Treue und Verrat als Sexualität, und überlegte, wo es möglich gewesen wäre, offener zu formulieren, beispielsweise mithilfe von »they« als Pronomen. 1987 revidierte sie den Artikel noch einmal16; 1993 verarbeitete sie Teile der Handlung zu einem Theaterstück und verwandte darin erfundene Pronomen, weil ihr das für den mündlichen Gebrauch möglich erschien, 1995 schrieb sie »Coming of Age in Karhide«17, eine Kurzgeschichte darüber, wie Sexualität in Kemmerhäusern gelebt wurde, jenen Häusern, die Gethener, die nicht schon wissen, mit wem sie verkehren wollen, während ihrer sexuell aktiven Phase zur Partnerfindung aufsuchen können. Das Thema hat sie also weiter beschäftigt. Es wurde ihr mit den Jahren immer wichtiger, nicht mehr »als Mann« zu schreiben.

Für mich als Übersetzerin geht die feministische Kritik am ursprünglichen Werk vorbei. Mir imponieren Le Guins lange, sorgfältige, sehr überlegte Entwicklung zur Feministin und der Humor, den sie sich dabei bewahrt hat, ungemein.18 Aber Die linke Hand der Dunkelheit steht am Anfang dieser Entwicklung. Ursula K. Le Guin hat 1969, noch in der männlichen Heldentradition verhaftet, einen Mann ins Abenteuer geschickt. Er verhält sich männlich an einem Ort, wo er zunehmend begreifen muss, dass es auch anders und womöglich besser geht. Und sie kann durch die Konstellation, die sie geschaffen hat, seine ganzen männlich-virilen Attitüden aufs Korn nehmen. Das Buch ist eine herausragende Studie von Männlichkeit, Le Guins Sicht ähnlich weiblich wie der der Berichterstatterin in Kapitel sieben. Als Autorin hat sie sich damit bereits einige Schritte von der männlichen Tradition entfernt.

Wie die androgynen Menschen während der wenige Tage dauernden Kemmerphase in jedem Monat ihre Sexualität leben ist im Roman nur angedeutet — Heteronormativität eine Deutung der Leserinnen, deren Phantasie von den Möglichkeiten eines androgynen Daseins beflügelt wurde. Feministinnen mögen sich ein anderes Buch wünschen, eine Diskussion anderer Themen, aber das ist nicht Le Guins Problem: Sie müssten es schlicht selber schreiben.

Gerechtigkeitshalber sei hinzugefügt, wie verständlich es ist, dass ein Buch, das so erfinderisch das Thema völlig anders gearteter Geschlechtlichkeit anschneidet, eigene Wünsche und Sehnsüchte weckt. Oder den Wunsch, in einer solchen Welt aufgehoben zu sein. So will es mir zum Beispiel bei Kim de l’Horizon erscheinen, im Blutbuch ist in der Vita als Geburtsort »Gethen« angegeben.19

Genly Ai jedenfalls gelangt erst nach knapp dreihundert Seiten und wochenlangem Zusammensein mit einem Menschen, auf den er zum Überleben angewiesen ist, zu einem echten Verstehen von Anderssein und Akzeptanz und ist dann endlich fähig, sein fremdes Gegenüber mit allen Eigenheiten als Subjekt wahrzunehmen. Wahre Akzeptanz ist eben kompliziert. Als Estraven seine Einsicht spürt, kommentiert er das so:

Im Grunde ist er kein größeres sexuelles Unikum als ich: Hier oben auf dem Eis sind wir beide einzigartig, isoliert; ich bin von meinesgleichen, von meiner Gesellschaft und ihren Regeln genauso abgeschnitten wie er von seiner und den seinen. Hier gibt es keine Welt voller Gethener als Rückhalt und zur Erklärung meiner Existenz. Und wir sind endlich gleich: gleich, fremd, allein.20

Und Genly beschreibt die Vorsorge, mit der Estraven die Lebensmittelrationen für den langen Trek berechnet hat, auf einmal gleichrangig als »hausfraulich« oder »wissenschaftlich«.21

Ob und wie sehr Ursula K. Le Guin in Linke Hand der Dunkelheit »als Mann« geschrieben hat, ließe sich noch anhand ganz anderer Themen diskutieren. Der Beobachtung zum Beispiel, dass bei ihr im Unterschied zu vielen männlichen Science-Fiction-Autoren Laserkanonen nicht sexy sind und dass keine Planeten in die Luft gejagt werden. Oder dass es beim langen Trek über das Eis weniger um Heldentaten als um kluges Haushalten und um Wärme im abendlichen Zelt geht. Aber das kann sich jede·r selbst erlesen.

 

20.01.2023
Fußnoten
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
Leseprobe PDF

©Notburga Reisener

Karen Nölle übersetzt seit vielen Jahren aus dem Englischen, fast nur Belletristik, fast immer von Autorinnen, am liebsten solchen wie Alice Munro, Janet Frame, Eudora Welty, Annie Dillard oder Ursula K. Le Guin. Nebenbei ist sie Autorin, freie Lektorin, erfahrene Leiterin von Seminaren zur Textarbeit. Im Wintersemester 2022/23 ist sie als August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung am Peter Szondi-Institut der FU-Berlin zu Gast.

Verwandte Artikel
14.09.2022
Wiederbegegnung nach 35 Jahren
Zur Überarbeitung der Übersetzung von Audre Lordes Autobiographie „Zami. A new spelling of my name“
Bastelarbeit.
Journal zur Übersetzung von Alain Damasios Roman Die Flüchtigen
17.01.2023
Panikträllern, Blutflusstuckern, bleicher Beizfleck vom Teufel – ich bewuunnnnndere den Fundus von Japsern!
Körperlichkeit, Klang und Physiographik in Maddie Mortimers »Atlas unserer spektakulären Körper«
Den Singsang des Kreol in der Kehle
Journal zur Übersetzung von Monique Roffeys Die Meerjungfrau von Black Conch
26.08.2022
Übersetzen als Feministin: Endlich etwas, das uns passiert
Ein Podcast-Journal zur Übersetzung von Nichts, was uns passiert von Bettina Wilpert