Journale Lyrik Translating Šalamun

Translating Šalamun

Journal zur Übersetzung von Tomaž Šalamuns späten Gedichten (Teil 2)

STIMMENVERLEIH
RUDERT! RUDERT!
EIN BOOT MIT DREI RUDERN
EINZELSTIMMEN IM CHOR DER ÜBERSETZER
DER ZERSTÜCKELTE DICHTER
SCHWIMMENDE SCHUPPEN
STROHGOTT, SITZGOTT UND DISKURSGOTT
DANKSAGUNGEN / DISCLAIMER

STIMMENVERLEIH

Ich erinnere mich an die Stimme von Tomaž Šalamun. An die Stimme, mit der wir uns auf Englisch verständigten, die sich unterschied, von der tiefen, leisen und grollenden Stimme, mit der er seine Gedichte vortrug. Ich erinnere mich an den hellen Ton seines belustigten Lachens. Es ist die Stimme, in der seine Gedichte verkörpert sind, die wiederum, über seinen Tod hinweg, seine Stimme verkörpern. Wenn ich diese Gedichte still lese, dann lese ich sie auf Deutsch und auf Englisch, seltener auf Französisch. Tomaž Šalamun ist ein Dichter mit vielen Stimmen, ja, ein mehrsprachiger Chor, aus den Stimmen all seiner Übersetzer und Übersetzerinnen zusammengesetzt, ein Stimmenschwarm, der ausfliegt und manchmal auf Baumwipfeln oder Stromleitungen wieder zusammenkommt.

Die Zeitschrift transom hat einigen von Tomaž Šalamuns US-amerikanischen Übersetzern (hier: nicht generisches Maskulinum) eine ganze Ausgabe gewidmet.1 Das Onlinemagazin zeigt ein Gemälde von Metka Krašovec, Trojno ogledalo (Triple Mirror) acrylic on canvas, 1992, 145x160 cm – auf der Startseite. Dreifacher Spiegel.

Transom issue 3 (Spring 2012). Cover: Metka Krašovec

Wer ist hier der Spiegel, wer betrachtet wen? Und wie ein Medaillon gehalten ein weiteres verkleinertes Spiegelbild. Oder ist es bereits das Spiegelbild, das ich sehe, wenn ich das Bild betrachte. Doch wenn es dies wäre, müsste ich nicht darin sein? Vielleicht bin ich das ja.

RUDERT! RUDERT!

In den drei Jahren zwischen 2009 und 2012 habe ich, auf Grundlage einer englischen Übersetzung, die Joshua Beckman gemeinsam mit Tomaž Šalamun angefertigt hat, später, als es an die Veröffentlichung ging, auch mithilfe des slowenischen Dichters und Übersetzers Gregor Podlogar, versucht, eine eigene fremde deutsche Stimme für die Gedichte zu finden. Der Band hieß im Englischen „ROW“, im Deutschen „Rudert, Rudert!“ Die Verdopplung unterstrich die Emphase. Und als wir uns über das Gedicht White hash black weed, Gregor sporoča kaj počenjate [White hash black weed, GREGOR SAGT MIR, WAS DU MACHST] beugten, sagte Gregor, auf den Namen im Titel deutend: „Das bin ich!“ Es war ein schöner und nahezu endloser Prozess, in dem Trancetechniken, Pferderennen, das Schloss Duino und Kängurus eine wichtige erkenntnistheoretische Rolle spielten. Nachzulesen ist dies im Nachwort zu jenem Band mit dem Titel: „Sonderbar wie du eintauchst, Känguru“, erschienen im Jahr 2012 in der Edition Korrespondenzen.2

EIN BOOT MIT DREI RUDERN

Tomaž Šalamun: Steine aus dem Himmel. Gedichte, zweisprachige Ausgabe, aus dem Slowenischen von Matthias Göritz, Liza Linde und Monika Rinck. Suhrkamp Verlag 2023.

Diesmal sind wir zu dritt. Liza Linde, Matthias Göritz und ich. Ich muss dazu sagen, dass der Löwenanteil dieser Arbeit Liza Linde und Matthias Göritz zukommt. Ich habe bislang nicht mehr getan, als 20 Dateien gesichtet, mehrmals gezoomt und diesen Paratext verfasst, den Sie gerade lesen: Translating Šalamun. Ich gehe also die Dateien durch, in denen ich die Erstübersetzung von Liza Linde mit ihren Kommentaren lese sowie die Korrekturvorschläge von Matthias Göritz nachverfolge – und wo ich meine eigene Vorschläge eintragen kann. Oft betreffen sie bestimmte und unbestimmte Artikel. Jedes Gedicht, eine Datei. Sofort verliere ich den Boden unter den Füßen. Ich gleite aus, halte mich an einer imaginierten Stimme fest und gleite weiter ab. Sechzehn Dateien, so far. Am Ende waren es mehr als hundert, über deren Verfertigung wir immer und immer wieder an langen Sonntagnachmittagen zoomten.

Termine zu finden. Immer wieder schwierig. Termine machen und sie wieder absagen müssen. Oder unmögliche Terminvorschläge durch vollgepackte Wochen pflügen, diese Furchen! Leichte Panik. Unser nächster Termin ist morgen, am Donnerstag, 8. September, um 7 Uhr morgens, Gotland-Zeit in Visby, zur gleichen Zeit in Ljubljana, wo Liza Linde ist und um 12 Uhr in St. Louis, wo Matthias Göritz ist. Jaha, dachte ich mir so. Aber das war nun beinahe schon Selbstsabotage: Es war natürlich 7 Uhr abends gemeint, in Europa – und 12 Uhr mittags in St. Louis, ich Knalli. Ist das meine prinzipielle Schusseligkeit oder sind das schon die ersten Anzeichen der assoziativen Auslockerung, die die Beschäftigung mit Šalamuns Gedichten immer mit sich bringt? Sie sind unzuverlässige und sehr persönliche Drogen. Sie wirken bei jeder, bei jedem auf andere Weise und bei manchen gar nicht.

EINZELSTIMMEN IM CHOR DER ÜBERSETZER

Die ersten Schritte im Kosmos des späten Šalamun (und anders als das im Diminutiv begegnende Kosmöchen, das der Wiener Dichter und Maler Dominik Steiger als Namen für seine Welt gefunden hat, ist es bei Šalamun doch ein Kosmos, wobei es dennoch eine gewisse Verwandtschaft gibt) führen mich in die Bibliothek des BWTC, das mir in den ersten beiden Septemberwochen 2022 einen so freundlichen Aufenthalt gewährt. Von hier aus: 1000 Dank. Ich muss mich wieder mit Šalamuns Ton vertraut machen, ah, es gibt die Collected Poems, zusammengestellt von Simic, mit einem Nachwort von Robert Hass, sehe ich in der Datenbank, aber sie sind, genau wie das Reale, nicht an ihrem Platz.

Gedichtbände, in digitaler Form:

Rudert! Rudert!, von Tomaž Šalamun, wie bereits erwähnt, die Fahnen sind auf meinem Rechner.
Justice, by Tomaž Šalamun, translated by Michael Thomas Taren. Boston, Black Ocean 2015.
Druids, by Tomaž Šalamun, translated by Sonja Kravanja. Boston, Black Ocean 2019.
Andes, by Tomaž Šalamun, translated by Jeffrey Young and Katarina Vladimirov. Boston, Black Ocean, 2016.
The Book for My Brother, by Tomaž Šalamun, translated by Joshua Beckman, Christopher Merrill, Andrew Wachtel, Ana Jelnikar, Peter Richards, Anselm Hollo, the author, Matthew Rohrer, Elliott Anderson, Marko Jakse, Phillis Levin. Orlando, Austin, New York, San Diego, Toronto, London, A Harvest Book, 2006. Hier ist er wieder: Der Chor der Übersetzerler, der Reigen der Verlagsstandorte.

Das jüngste Buch „Opera Buffa“, übersetzt von Matthew Moore, ist noch nicht als Ebook erhältlich. Deutsche Übersetzungen seiner Gedichte werden leider garnicht als Ebook angeboten, und als ich von Berlin aus nach Gotland fuhr, waren meine Šalamun-Bücher blöderweise in Wien. Ich kann diese Zurückhaltung gegenüber dem Ebook nicht verstehen. So oft sind Leute nicht dort, wo ihre Regale sind. Macht es ihnen doch ein bisschen leichter, und nicht nur ihr Gepäck, bitte!

Je nach Übersetzerler fallen die Bände unterschiedlich aus, auch was die Auswahl der Gedichte angeht. Das ist offenkundig. Mir sagt am stärksten der Band JUSTICE zu, übersetzt von Michael Thomas Taren, worin sich Gedichte finden wie „Come, break me, reduce me. I’m becoming / the family milk bowl. The siren will / kill me. Tear her dress off like Virgil to make // a fat, abashed gelatine. I’m smashed by rocks.“ Oder ein Gedicht mit dem Titel „My Pricky wants to fuck! My Pricky wants to fuck!, das so beginnt: "O juice, I see you in yellow blinkers. / Caress a bit my little Prick, caress me! / This, that I’m forbidden to utter you name,/ is a dreadful chain. I’ll bite through it / with my teeth (…).“

Als ich bei unserer ersten Zoomsitzung von meinen Eindrücken der späten Gedichte berichte, macht mich Liza Linde darauf aufmerksam, dass sich in den amerikanischen Übersetzungen häufig Zeilen finden, die nicht vom slowenischen Original gedeckt seien, die im Original zum Teil nicht einmal stünden. Oha! Krassomat! Jetzt stehe (oder hänge) ich ganz in der Luft, oder befinde mich zumindest auf sehr vagem Terrain. Wessen Texte lese ich? Und ich erinnere mich an die Antwort Šalamuns vor mehr als zehn Jahren auf meine Fragen nach einzelnen Stellen, die mir dunkel geblieben waren. Die Abschrift der Tulpenköpfe? Das gewässerte blutunterlaufene Hühnerbein? Was genau passiert mit dem Sultan, den gläsernen Beinen, dem Kraulen, dem Pool, wer pegelt die Tombola hoch und was passiert indes mit den Hühnern? In welchen Verhältnis steht die Abschrift der Tulpenköpfe zum Kraulen im Harembassin? – Und er sagte eigentlich immer nur: Es ist so, wie es da steht. Schreib einfach, was auf Deutsch am besten klingt. Es gebe dort keine Vermittlung, keine versteckte Logik, die freizulegen wäre. Bis auf wenige Eingriffe, wie zum Beispiel der Neologismus „zarttrampelt“, für ein zärtliches Zertrampeln, hielt ich mich eher zurück, wenn ich mich recht entsinne. Trotz des Freibriefes, den Šalamun sicher nicht nur mir zugestanden hat, traue ich den Übersetzungen von Michael Thomas Taren, auch wenn der Übersetzer stärker als gemeinhin üblich, am Entstehen der englischen Fassungen beteiligt war. Gibt es sie überhaupt auf Slowenisch? Bestimmt! Wie denn nicht. Wobei: ich weiß es nichtl. Irgendwie scheinen mir diese Beteiligungen, die zum Teil auch erotischer Natur sein können, dazuzugehören. Der Autor vergrößert sich um eine geräumige, sozusagen bezugsfertige Libido und diejenigen, die damit verbunden oder darin verwickelt sind, verändern das Gedicht, bereits vor seiner Übersetzung. Ich übernehme diese Zeile, ich verwirkliche mich in deiner Dunkelheit, und das Gebilde, was meine Antwort ist, das bist dann du. Vielleicht gibt es diese Gedichte nur aufgrund ihrer (sexuellen) Übersetzung. Also schreibe ich am nächsten Tag eine E-Mail, mit dem Vorschlag zumindest einige der expliziten Gedichte mitaufzunehmen.

© privat

DER ZERSTÜCKELTE DICHTER

„Tomaž Šalamun is a monster. / Tomaž Šalamun is a sphere rushing through the air.“ – Oder auch: Jeder wahre Dichter ist ein Scheusal. So heißt es in einem Gedicht, das auf Deutsch „Volkslied“ heißt. Jüngst begegnete mir Šalamuns Stimme an einer Stelle, wo ich sie nicht erwartet hatte. Als mir der Ägyptologe Sebastian Richter einige von Doris Topmann (Expertin für Strukturen und Transformationen des Wortschatzes der ägyptischen Sprache an der BBAW) übersetzte ägyptische Sargtexte übermittelte, mit der vorsichtigen Warnung: „Bitte nicht erschrecken ob der Menge und Befremdlichkeit der Texte“ – war ich sofort begeistert. Es war zugegebenermaßen eine eher laienhafte Begeisterung, aber ich hatte keinen Anlass, dieser Begeisterung zu misstrauen. Woran erinnerte mich das? Ich las die altägyptischen Sargtexte wie die raumgreifenden und stellenweise dunklen Gedichte von Šalamun. Es kann natürlich sein, dass ich hier etwas verwechsele, aber die Verwechslungen hören sowieso nicht auf. Gleichviel – eine seltsame Assonanz blieb mir im Ohr. Kriecht nun das Ei in das Huhn zurück, oder das Huhn in das Ei? Ich weiß es nicht genau, aber ich schätze diese brillante, ja blendende Dunkelheit, die darin gefangen ist.

Du bist die 'Löwin'.
Du bist Ruti.
Du bist Horus Schützer-[seines]-⸢Vaters⸣.
Du bist (einer) dieser Götter, die das Wasser bringen und die Nilflut bewirken, die Jubel und Jauchzen machen mit dem Arm ihrer Väter.
Osiris NN!
Erhebe dich von deiner {rechten} 〈linken〉 Seite.
Begib dich 〈auf〉 deine rechte Seite.

Diese Osiris NN soll vom ⸢Erbrochenen⸣ [des Götterfalkenweibchens] leben.
[Osiris] NN!
Du bist der Same des Großen, [der seinen Vater schützt an der Spitze] der beiden Kapellen.
Osiris NN!

Übersetzt von Doris Topmann, BBAW. Man könnte ohne Weiteres überall dort wo OSIRIS NN steht, Tomaž Šalamun einsetzen und an seine überwältigende Selbstpreisung aus dem Band POKER denken.

Was für eine Überhöhung! Ihre wie auch immer geartete Anwendung würde sicherlich funktionieren, aber gleichzeitig einen unkontrollierbaren Fluch oder exaltierten Segen freisetzen! Zerrissenwerden, sich komplett entäußern, verloren gehen, am Rande der Entsinnung spazieren gehen, venezianische Folianten, Psychopharmaka, Askese, Steak Tatar, Sex, Lostness, grenzenlose Produktion, ein ganzes Rudel ansprechbarer, unaussprechlicher, essbarer, giftiger, gefährlicher, allegorischer und unallegorischer Tiere, wild und zahm, Namen, noch mehr Namen, die niemand kennt, Namen, die wiedererkannt werden können, waghalsige Kategorienfehler, Ströme, Wünsche, Befürchtungen undsoweiterundsofort. „I am alone with that grim dog of mine“, sagte Šalamun. Und machte sich lustig darüber, dass er, auch dies eine Art von Fruchtbarkeitskult, noch in hohem Alter alle Zeitschriften, die nicht bei drei auf dem Baum waren, mit Gedichten beschneite, beschneesturmte, behagelte, besprengte.

Transom: Your poems have always been overrun with animals, and this selection is no exception: rabbits, rats, mice, elephants, carps, spiders, boars, otters, cats ladybugs, horses, crocodiles, dogs, and cattle all get named in these eight short poems. ‚The beastmaster is greasy,‘ you say in ‚In Lisbon‘ – are you the beastmaster? Are you the zoo? Or are you the wilds?

Šalamun: I too was shocked to see so many animals in these poems. Strange. I'm more the beast than the zoo director, I would say. Many beasts are taking me apart. Still now. I'm still snowing journals with my poems in spite of knowing that I'm damaging my reputation.

Transom: In Ihren Gedichten wimmelte es immer schon von Tieren, und die neue Auswahl ist keine Ausnahme: Kaninchen, Ratten, Mäuse, Elefanten, Karpfen, Spinnen, Wildschweine, Otter, Katzen, Marienkäfer, Pferde, Krokodile, Hunde und Rinder kommen in diesen acht kurzen Gedichten vor. "Der Tierpfleger ist schmierig", sagen Sie in "In Lissabon" - "sind Sie der Tierpfleger? Sind Sie der Zoo? Oder sind Sie die Wildnis?"

Šalamun: Ich war auch überrascht, so viele Tiere in diesen Gedichten zu finden. Seltsam. Ich bin eher die Bestie als der Zoodirektor, würde ich sagen. Viele Bestien nehmen mich auseinander. Auch jetzt noch. Ich schneie immer noch Zeitschriften mit meinen Gedichten ein, obwohl ich weiß, dass ich damit meinem Ruf schade.“

TRANSOM ISSUE 3: ŠALAMUN  IN AMERICA: SPRING 2012 [wherein we explore the work of Tomaž Šalamun  and the poets who translate him]

Und etliche dieser Bestien wirken ihrerseits ein bisschen auseinandergenommen und nicht ganz korrekt wieder zusammengesetzt.

DALL·E 2022-09-09 14.33.53 - rabbits, rats, mice, elephants, carps, spiders, boars, otters, cats ladybugs, horses, crocodiles, dogs, and cattle

Hoher Ton, seltene Objekte deren Zweck unklar bleibt, entzweckte und umfunktionierte Objekte, abwegige Verhaltensweisen, hineingesampelte Module, Hieroglyphen für die, sie nicht lesen können, Befremdlichkeit, Anrufung, Direktheit bei gleichzeitiger Konfusion – dass mich die altägyptischen Sargteste an die Atmosphäre in den Gedichten Šalamuns erinnert, liegt in erster Linie daran, dass ich von der altägyptischen Kultur, in die sie eingebettet sind, zu wenig weiß. Meine Deutung befindet sich in semantischer, in semiotischer Drift. Ich variiere im Folgenden einen Wikipedia-Eintrag: „Gemäß der altägyptischen Überlieferung entsprang der Nil dem Schenkel des Šalamun im Abaton auf Philae. Die Nilflut symbolisierte seine Gedichte, die im Mittelmeer mündeten. Seine jährliche Wiedergeburt kündigte sich durch den „Himmlischen Nil“ an, der im Süden an den Grenzen Ägyptens auf die Erde niederging und den Nil ansteigen ließ. Die Nilflut wurde als Leichensekret des Šalamun gedeutet. Šalamun fällt damit in die Kategorie derjenigen Fruchtbarkeitsgötter, die durch ihre Gedichte neues Leben ermöglichen.“

Der Osirismythos ist nicht frei von Gewalt, die Leiche des Osiris wird zerstückelt, über das gesamte Land verteilt und soll von Isis wieder zusammengefügt werden. Ich erinnere an das alte obskure Geistergesetz: „Wer nicht Ja sagt zur eigenen Zerstückelung, wird nicht wieder zusammengesetzt.“ Gilt das auch für die Übersetzung? Rosmarie Waldrop hat mehrfach darauf hingewiesen, dass die Übersetzung von Gedichten kein harmonischer Vorgang sei. Sie hat mit Bewunderung und Neid, mit der Ambivalenz des Übersetzens, mit Entseelung, Metempsychose, Seelenwanderung und dem Versprechen der nachträglichen Reparatur zu tun. Hier folgt sie, auf Englisch und auf Deutsch:

As I read the original work, I admire it. I am overwhelmed. I would like to have written it. Clearly, I am envious - envious enough to make it mine at all cost, at the cost of destroying it. Worse, I take pleasure in destroying the work exactly because it means making it mine. And I assuage what guilt I might feel by promising that I will make reparation - also, of course, by the knowledge that I do not actually touch the original within its own language.
The destruction is serious. Translating is not pouring wine from one bottle into another. Substance and form cannot be separated easily. (I hope we so not have to go again over the false dichotomy of les belles infidèles, which assumes one could be 'faithful' to a poem by renderling ugly or dull what it 'says.') Translating is more like wrenching a soul from its body and luring into a different one. It means killing. (...) There is no body ready to receive the bleeding soul. I have to make it, and with less freedom than in the case of the most formal poem on a given subject. I have to shape it with regard to this soul created by somebody else, by a different, though not alien, aesthetic personality.3

Wenn ich das Originalwerk lese, bewundere ich es. Ich bin überwältigt. Ich würde es gerne geschrieben haben. Natürlich bin ich neidisch – neidisch genug, um es um jeden Preis zu meinem zu machen, selbst wenn ich es dabei zerstöre. Schlimmer noch, ich habe Freude daran, das Werk zu zerstören, gerade weil es bedeutet, es zu meinem zu machen. Und ich beschwichtige meine Schuldgefühle, indem ich verspreche, es wiedergutzumachen – natürlich auch da ich weiß, dass ich das Original in seiner eigenen Sprache nicht wirklich berühre.
Die Zerstörung ist ernst. Übersetzen ist nicht wie Wein aus einer Flasche in eine andere gießen. Substanz und Form lassen sich nicht einfach trennen. (Ich hoffe, wir müssen nicht wieder die falsche Dichotomie von les belles infidèles bemühen, die annimmt, man könne einem Gedicht "treu" sein, indem man das, was es ‚sagt‘, auf hässliche oder fade Weise wiedergibt.) Übersetzen bedeutet vielmehr, eine Seele aus ihrem Körper zu reißen und in einen anderen zu locken. Es bedeutet Töten. (...) Es gibt keinen Körper, der bereit wäre, die blutende Seele aufzunehmen. Ich muss sie erschaffen, und zwar mit weniger Freiheit als im Falle noch des formalsten Gedichts zu einem bestimmten Thema. Ich muss es im Hinblick auf diese Seele formen, die von jemand anderem geschaffen wurde, von einer anderen, wenn auch nicht fremden, ästhetischen Persönlichkeit.

Your place or mine? Ich baue das auseinander, wovon ich begeistert bin, um es in einer anderen Sprache wieder zusammenzubauen. Your place and mine! So lautet das Versprechen. Was aber, wenn ich das Original gar nicht lesen kann und meine Begeisterung auf anderen Übersetzungen basiert?

SCHWIMMENDE SCHUPPEN

„Maybe he is a Comet", mutmaßt David Schurman Wallace, mit einem Zitat aus dem Gedicht dessen Titel in englischer Übersetzung „History“ lautet, „vielleicht ist er ein Komet“. Es zeigt sich eine gewisse Roughness, eine nicht zu leugnende Rücksichtslosigkeit und ein schneller Wechsel der Register. Ein Jäger und Hirte des Wortes, las ich in irgendeinem der vielen Vor- oder Nachworte, die die posthumen Bände begleiten. ich füge hinzu: Der Hirtenhund und das Schaf des Wortes, der Köttel und die Herde des Wortes. Wie entscheide ich also? Ich schlage jedes einzelne Wort nach und komme nicht immer zu einem überzeugenden Ergebnis. Ich befrage DeepL und Dall-E. Und: Wir haben ja gerade erst bekommen. Was kann ich fragen?

Nehmen wir zum Beispiel das Gedicht „Schachtel auf dem Meer?“ – „Nad morjem škatla?“ Der Titel trägt ein Fragezeichen. „Schachtel auf dem Meer?“ Ja, das ist durchaus erklärungsbedürftig. Am 30. Juni fragte Matthias Göritz am Seitenrand: „Schachtel im Sinne von Nußschale oder Barke, von Boot? Oder von Schachtel, Sarg?“ Oder vielleicht eine Kiste?, überlege ich. Etwas, das weggetrieben oder angetrieben wird? Müll? Der ausgesetzte Moses? Aber doch nicht auf dem Meer.

Es gibt keinen Kontext, an dem ich mich orientieren kann. Es könnte alles sein und ich habe kein Bild dafür parat. Ich bitte Dall-E um Hilfe, zunächst gebe ich ein: „Cardboard box on the Ocean Photograph“. Das Ergebnis überzeugt mich wenig, zudem hat Dall-E offenbar verstanden: at the Ocean. Das kann es nicht sein. Obwohl die Stimmung eigentlich ganz schön ist.

DALL·E 2022-09-10 10.09.08 - cardboard box on the ocean fotograph

Ich versuche es erneut, diesmal mit einem anderen Thema: „A box over the sea, photograph“

DALL·E 2022-09-10 10.11.19 - A box over the sea photograph

Viel besser! Aber hilft mir diese Visualisierung dabei, zu verstehen, was es mit der Schachtel auf dem Meer auf sich hat? Und was genau mit dem Fragezeichen in Frage gestellt ist? Betrifft das Fragezeichen womöglich alle Überlegungen, die von dem nicht ganz einsichtigen Titel selbst hervorgerufen werden? Ich glaube nicht.

Wir sind aufgegraben, wir sind aufgegraben.
Wir sind aufgegraben, wir sind
aufgegraben. (…)

Warum überhaupt aufgegraben? Warum heißt es in diesem Gedicht: „ich bin aufgegraben“, auf welche Weise ist dies der konventionelleren Aussage „Ich bin ausgegraben“ überlegen? Es wird etwas abgetragen, aber das freigelegte Objekt nicht herausgenommen, erklärt Liza Linde. Also nicht ausgegraben, sondern nur aufgegraben. Wie bei einer Ausgrabung. Aber wenn wir eine Ausgrabung als Modell nehmen, dann bliebe die ja auch ausgegraben an ihrem Ort. Nun ja, bis auf die transportablen Grabbeigaben, oder, wie der fleißige Kolonialist zu sagen pflegt: Kunstschätze. Aber ist hier das Ausgegrabensein nicht ein erster Schritt auf dem Weg zum Schwimmen, mit dem das Gedicht endet? So, wie man am Strand gerne mal Leute eingräbt und dann wieder ausgräbt und jetzt aber schnell ins Wasser, um den Sand aus allen Falten und Löchern zu spülen? Also doch: ausgegraben, auch wenn es eigentlich der Vorgang des „Aushebens“ ist. Aber „wir sind ausgehoben?“ Das klingt ja, als seien wir exhumiert, oder wie ein Vertipper für „aufgehoben“. Also doch: ausgegraben.

Wir sind ausgegraben, wir sind ausgegraben.
Wir sind ausgegraben, wir sind
ausgegraben. (…)

Dabei ist es allerdings nicht geblieben. Als die Fahnen kamen, beugten wir uns erneut über dieses Gedicht. Und die sehr gute und umsichtige Lektorin des Suhrkamp Verlages Janika Rüter fragte mithilfe der Kommentarfunktion: „Oder sic: aufgegraben?“ Ich antwortete: „Auf ausgegraben hatten wir uns geeinigt, oder?“ – Und Liza Linde hatte schließlich einen neuen sehr einleuchtenden Vorschlag: „odkopani - entweder konsequent ausgegraben oder aufgegraben. Alternativ in bezug zum Meer-Thema: kopati se – baden; odkopani – ausgebadet. “ Ausgebadet! Genau so machen wir das.

Schachtel auf dem Meer?

Wir sind ausgebadet, wir sind ausgebadet.
Wir sind ausgebadet, wir sind
ausgebadet. Beim Obst sind grüne

Pfirsiche. Ich beschütze die Fee.
Konsequenz kommt als Wort aus dem
Kanal, nicht aus den Felsen. Aus den Felsen

schälen sich Serpentinen. Aus
den Bergen, bestreut mit Salz,
kommt so manches. Knarzen und Sterben

der Birken. Birken können nicht atmen wegen
des Salzes. Birken wachsen nicht in den Bergen.
Birken tragen rote Schuhe.

Wir sind ausgebadet, dieses Mal
wirklich. Wir schwimmen. Das Brett, das sich
gelöst und geöffnet hat, entließ uns ins

Wasser. Das Brett war das Dach des Verstecks.
Es gab keine Schuppen. Keine Schuppen, wenn ich schwimme
im Meer, ausgebadet und nass.

Es bleibt eine interessante Frage, was die Buchstäblichkeit, die gleichermaßen eine Form des Floatens ist oder bewirkt, und die offenkundig nicht in einem unzugänglichen Tiefsinn verankert ist, aber dennoch Metaphysics into little Riceballs mischt, für die Frage bedeutet, ob ich einen bestimmten oder einen unbestimmten Artikel setze. Oder gar keinen Artikel.

Here are some well extracted contents of Duden (Band 4: Die Grammatik). „Durch den bestimmten und durch den unbestimmten Artikel kann aber auch ausgedrückt werden, dass mit dem Substantiv eine ganze Gattung oder Klasse gemeint ist, also alle Exemplare einer Gruppe von Lebewesen oder Dingen, die wichtige Merkmale oder Eigenschaften gemeinsam haben (generalisierende Funktion).“ Der Grammatik-Duden gibt folgende Beispiel, darunter: „Der Baum ist eine Pflanze.“ Oder: „Bäume sind Pflanzen.“ Genauso wie die Bäume Pflanzen sind. Die Bäume sind die Pflanzen wäre aber etwas seltsam. Anwendungsbeispiel: Wo sind denn die Pflanzen, die wir Euch finanziert haben? Hier, die Bäume sind die Pflanzen, (die wir von Eurem Geld gekauft haben). Ja, das ginge. Der Baum ist eine Pflanze. Alle Bäume sind Pflanzen. Birken tragen rote Schuhe.

Aber hier haben wir: Konsequenz kommt als Wort aus dem Kanal, nicht aus den Felsen. Ist das ein Merksatz? Gilt das immer? Gilt das für alle Kanäle, alle Felsen und alle Konsequenzen? Ein anderer Vorschlag war: Konsequenz kommt als Wort aus Kanal, nicht aus Felsen. Müsste dann nicht auch der Kanal in den Plural? Konsequenz kommt als Wort aus Kanälen, nicht aus Felsen. Oder wir führen die Leserin heran: Konsequenz kommt als Wort aus einem Kanal, nicht aus einem Felsen. Man fragt sich sofort: Was für ein Felsen denn? Consequences on the Rocks. Aber damit hätten wir die Felsen doch spezifiziert, es sind eben die Felsen, aus denen Konsequenz als Wort kommt, und könnten weitermachen mit: Aus den Felsen schälen sich Serpentinen. Lasst uns bei den bestimmten Artikeln bleiben. Es geht ja auch mit den Bergen weiter. Dann kommen die Birken. Und die Birken brauchen irgendwann keinen Artikel mehr.

            (…)       Aus den Felsen

schälen sich Serpentinen. Aus
den Bergen, bestreut mit Salz,
kommt einiges. Knarzen und Sterben

der Birken. Birken können nicht atmen wegen
des Salzes. Birken wachsen nicht in den Bergen.
Birken tragen rote Schuhe.

DALL·E 2022-09-08 09.06.48 - birch trees with red shoes close to a lake

„Aus dem Vorstehenden wird deutlich, dass durch die Artikellosigkeit sowohl die Individualisierung (im Garten stehen Bäume) als auch die Generalisierung (Bäume sind Pflanzen) ausgedrückt werden kann.“ Danke Duden. Birken tragen rote Schuhe.

Wir sind ausgebadet, dieses Mal
wirklich. Wir schwimmen. Das Brett, das sich
gelöst und geöffnet hat, ließ uns ins

Das Brett? Das Brett? Was für ein Brett denn? Der plötzliche bestimmte Artikel agiert im Sinne der Auslassung oder der Einmaligkeit: Die Sonne! Oder das Haus stürzt ein: situationsbedingte Einmaligkeit. Außerdem: Kollektiva, Abstrakta, Jahreszeiten, Tugend, Schönheit, Zustand, Vorgang. Zeitbegriffe, Wochentage. Andere Sorten von Einmaligkeit. Andere nähere Bestimmungen: Der Name des Vaters. Ein nachgestellter Relativsatz. Betonung, Vereinzelung, Erhabenheit. Ach so, DAS Brett, logan. Ich dachte, das andere. Aber jetzt ist alles klar. Das Brett der Bretter.

DALL·E 2022-09-08 08.50.03 - Board that loosened and opened, let us into the water.

Wasser. Das Brett war das Dach des Verstecks.
Es gab keine Schuppen. Keine Schuppen, wenn ich schwimme
im Meer, ausgegraben und nass.

Und auch hier wieder die Alternative: Das Brett war das Dach eines Verstecks. Gibt es denn mehrere? Nein, nehmen wir einmal an, es gibt nur eines. Und wir machen uns gegenseitig darauf aufmerksam. Da ist das Versteck. Da treffen wir uns nachher, wenn sie kommen, um uns zu holen. In einer ganz spezifischen Situation. Und ich denke noch über die Schuppen nach. Sind wirklich die Schuppen eines Fisches gemeint? In Anbetracht der Bretter und des Verstecks sah ich die ganze Zeit einen baufälligen Geräteschuppen vor mir, windschief am Rand von irgendetwas, mit Spaten, Eimern, halbdunkel und staubig. Wenn es keine gibt, liegt das ganze Zeug, was man darin unterbringen könnte, einfach nur herum. Was schlägt DeepL vor: „Es gab keine Waage. Keine Waage beim Schwimmen im Meer, eingegraben und nass.“ Oha. Das führt mich nicht weiter, alles ist möglich, und die Schuppen eines Fisches sind in diesem Moment vielleicht doch etwas wahrscheinlicher geworden, denn schließlich sind wir offenbar nicht an Land, sondern im Wasser.

Es gibt ja wie bereits erwähnt keinen Kontext, außer der Buchstäblichkeit der einzelnen Worte, an der wir die Bedeutungsnuancen ausrichten können. Nondescriptive use of language, aber auf eine sehr produktive Weise. “All I know for certain is that, as translators, we heeded Šalamun’s advice to stay literal. We tried to stay as faithful as possible to what Šalamun wrote the way he wrote it“, so Jeffery Young in seinem Vorwort zu Šalamuns Band „Andes“. Und weiter: „There were moments of untranslability when we had to take certain liberties, which Šalamun encouraged and approved, but for the most past, whenever we strayed from the literal path, we could inevitably end up on a road to nowhere and had to retrace our steps back to the source, which is the line, the individual word or words, the mode, the syntax, the sound, and rhythm – all these components of language that Šalamun works with the way a painter works with oil and brushstrokes or a stonecutter works with chisel and stone. Or the way medieval mystics worked with language to tap pigeons from walls, to create ‘something from nothing,’ as Šalamun once described to me in an interview, or as he writes in ‚Andes’s‘ first poem, ‘Among the Chestnuts’, speaking of his ‘child’: ‘I made him out of / shadows and firmed him with / halva.”

DALL-E: Mir knacken die Knochen, die Nase fächert sich auf wie ein Pfauenschwanz.“

"Es gab Momente der Unübersetzbarkeit, in denen wir uns gewisse Freiheiten nehmen mussten, wozu Šalamun uns ermutigte, aber in den meisten Fällen landeten wir, wenn wir vom wörtlichen Weg abwichen, unweigerlich auf einer Straße ins Nirgendwo und mussten Schritt für Schritt zurück zur Quelle. Das ist der Vers, das einzelne Wort oder die einzelnen Wörter, der Modus, die Syntax, der Klang und der Rhythmus – all diese Bestandteile der Sprache, mit denen Šalamun arbeitet wie ein Maler mit Ölfarben und Pinselstrichen oder ein Steinmetz mit Meißel und Stein. Oder wie die mittelalterlichen Mystiker mit der Sprache arbeiteten, um Tauben aus den Wänden zu holen, um ‚etwas aus dem Nichts‘ zu schaffen, wie es Šalamun mir gegenüber einmal in einem Interview beschrieb, oder wie er im ersten Gedicht von Andes, ‚Unter den Kastanien‘, über sein ‚Kind‘ schreibt: ‚Ich habe ihn aus / Schatten gemacht und mit / Halva stabilisiert.‘ Am Rande bemerkt: Im Gegensatz zur Ölfarbe handelt es sich bei der Sprache nicht um ein explizit für den künstlerischen Gebrauch vorgesehenes Material.

Das Privileg der Wörtlichkeit findet sich auch in dem Ratschlag, den Joshua Beckham bekam: „Be as literal as possible, and don’t look for any meanings.“ Sei so wörtlich wie möglich und suche nicht nach irgendwelchen Bedeutungen. Es leuchtet mir sofort an, dass Wörtlichkeit die einzige Möglichkeit ist. Aber wie kann ich das vertreten, ohne Slowenisch zu können? Folge nicht auch ich einem Zerrbild, so wie jede einzelne Person, die mit „Šalamun“ in Kontakt tritt, einem Zerrbild aufsitzt, und, so unwahrscheinlich wie es ist: nicht zuletzt Tomaž Šalamun selbst?

Ich erinnere mich an eine Szene aus dem Dokumentarfilm „Pumpkin on the Hot Roof of the World“ von Nejc Saje und Jeffrey Young, in der die zweite Frau von Tomaž Šalamun, Metka Krašove, amüsiert davon berichtet, mit welch nahezu kindlicher Begeisterung Tomaž Šalamun ihr zuweilen von seinen sexuellen Erlebnissen erzählt habe, wie ein Kind sei er gewesen, und überzeugt, dass mit der Behauptung „Ich! bin! Tomaž! Salamun!“ alles erklärt und gerechtfertig sei, und Metka Krašove muss so lachen.

Hier ist der Trailer des Films und hier ein Ausschnitt aus der Diskussion, als er im Rahmen des Vienna Poetryfilm Festivals im Winter 2021 in Wien vorgestellt wurde. Ein O-Ton: "People read poetry to meet themselves. To meet their true selves." Das wahre Ich? Und je nach dem, was Leute lesen, immer wieder ein anderes wahres Ich? Und was ist mit den Leuten, die Gedichte übersetzen? Verdoppeln sie diese wahren Ichs? Wiederholen und variieren sie? Verdrei- und Vervierfachen sie sich? Sind sie dann noch wahr, oder gar: dreimal so wahr? Ermöglichen Identifizierungen und Umidentifizierungen, stehen im silbernen Schuppenkleid im Geräteschuppen und summen wie Bienen? Das himmelschreiende Angebot unmöglicher Identifikationen, eine Art Pulsieren, Kreisen, Weitergehen, ein irrer Sonnenuntergang, der sich wiederholt, als würde er immer wieder geprobt.

STROHGOTT, SITZGOTT UND DISKURSGOTT

Amerikanska Amfibietransportfartyget: Und plötzlich sprachen alle Touristen auf der Insel ein sehr breites US-Amerikanisch und alle Touristen waren maskulin (und nicht generisch), und alle Touristen waren sportlich gekleidet und hatten ein breites Kreuz und alle Touristen saßen schon in den Restaurants, die wir ansteuerten und in denen wir keinen Platz mehr fanden, und wir waren verwundert, bis eine Kellnerin uns sagte: It’s the Navy, but I can’t tell you why they are here – und uns noch später das Internet darüber informierte, dass „Tisdag 6 september anlöper USS Arlington (LPD 24) till Visby på Gotland. Det amerikanska amfibietransportfartyget kommer till kaj för att vila sin personal och för att fylla på sina förråd av bränsle och förnödenheter, ett rutinbesök med andra ord. Besöket varar tills den 8 september.“ Es ist ein Amerikanska Amfibietransportfartyget, oder ein US-Amphibien-Transportschiff, oder ein US-Amphibientransporter oder ein US Amphibien-Transportschiff oder ein US-Amphibientransportschiff – und seine Besatzung auf Landgang. Noch wenige Tage darf ich auf der herbstlichen Insel Gotland verbringen, und hier weiter durch die Korridore Šalamuns Werk umstreifen, durch all die halbdunklen Flure gehen, in denen ich das Gemeinte nur schemenhaft erkennen kann.

DALL-E: Mir knacken die Knochen, die Nase fächert sich auf wie ein Pfauenschwanz.“

„Wie und warum dieses kurze Gebet
den Himmel durchbricht? Mir knacken die Knochen,
die Nase fächert sich auf wie ein Pfauenschwanz. Flieder

weichen sie in Reife ein, ein
einziges Wort wiederholen: wir sind seiden
und warum ist aus Zucker wahrsagen

ehrenhaft?“

Tomaž Šalamun: Laken.

Das sind die Fehler, die ich mache. Das ist meine aufgerauhte Vorstellung, einer neuen Kohärenz, die ein Geschenk des Dichters ist. Die mir eingeflüstert wird, obwohl ich nicht ganz sicher bin, ob ich die Stimmen unterscheiden kann. Wir müssen Liza Linde fragen! Oder vielleicht kommt eine mögliche Lösung in der flachen Senke des Halbschlafs zu mir. Vor drei Jahren, im Juni 2020, hab ich ein kurzes Gedicht verfasst:

FLURE
Die geheimen Flure ins Wunder, die gibt es nicht,
sagt Tomaž Šalamun. Ob er sich da so sicher ist.
Aber es gibt doch Dich, sage ich zu Tomaž Šalamun,
der vor nahezu sechs Jahren gestorben ist. Er nickt.
Ich sehe es in seinem Blick. Auf eine solche Weise
ungestorben ist noch keiner. Tapetentüren öffnen sich.

Immer versuche ich den Raum meiner Vorstellung Tomaž Šalamuns Sphäre gegenüber zu öffnen, ihn eintreten, einherschweben zu lassen, so wie sein Gang zu Lebzeiten schon etwas Schwebendes hatte. Und während ich warte, dass der Host dieses Meeting beginnt, frage ich mich, haben wir damals, Christian Filips und ich, als wir Tomaž Šalamun im September 2010 in Ljubljana trafen und auch gemeinsam einen Ausflug nach Duino machten, wo Tomaž Šalamun italienisches Lotto spielte und das Schloss umschwamm, eigentlich Fotos gemacht?

Ja, ich habe fotografiert, aber auf keinem Foto ist Tomaž zu sehen, es gibt stattdessen Kanus, die über der Fußgängerzone von Ljubljana an Strippen über die Straße gespannt sind, unscharfe Fotos vom Garten des Schlosses Duino, viel Meerblick mit gewaltigen Regenwolken, ein sehr verwackeltes Bild von Christian, und vor allem, den seltsamen Hobbykeller der Thurn und Taxis im Schloss Duino, das wir besichtigen, mit einem Korbstuhl, genauer gesagt, einem Peacock Chair, einem Strohschwein und einem ziemlich postantiken Diskus fangenden zurückgebeugten Jüngling aus Gips. Ja, wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.

Und mit dem Abstand einiger Jahre kommt mir dieses Foto vor wie eine Illustration zur ersten Duineser Elegie, wie sie gewesen wäre, wenn Tomaž Šalamun sie geschrieben hätte. Der Herz ist ein Diskus, den wir noch gerade einfangen, das Schöne ein überdimensioniertes Strohschwein auf einem Peacock Chair. „Mir knacken die Knochen, / die Nase fächert sich auf wie ein Pfauenschwanz.“

Im Hobbykeller der Thurn und Taxis im Schloss Duino. © Rinck

Schade, dass es von diesem Ausflug kein einziges Foto gibt, das Tomaž Šalamun zeigt. Er wartete in einem Restaurant auf uns, wir gingen indes den Rilke Pfad, dann kam das Unwetter. Aber immerhin gibt es das Foto dieser eigentümlichen Duineser Mesalliance. Ja, wirklich: Ein jeder Engel ist schrecklich. Das kann man angesichts dieses Fotos wirklich gefahrlos konstatieren.

DANKSAGUNGEN / DISCLAIMER

DALL-E übersetzt: Water Ballet with Water Falls and peacocks in full bloom, Busby Berkeley Style

Vielen Dank an Liza Linde, Matthias Göritz, an DALL-E und an das BWTC, das Baltic Writers and Translation Center auf Gotland. Und an all die Pfauen. Und Tomaž Šalamun für die Gedichte.

PS: Die Fehler sind meine.

 

Monika Rinck

September 22 und Januar 23

 

21.04.2023
Fußnoten
1
2
3
Leseprobe PDF

Monika Rinck, (c) Ute Rinck

Monika Rinck lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin und Wien und veröffentlicht seit 1998 Gedichte, Essays und Übersetzungen in diversen Verlagen. 2012 erschien der Lyrikbank HONIGPROTOKOLLE für den sie den Huchel-Preis erhielt. Im Frühjahr 2019 erschien das Lesebuch CHAMPAGNER FÜR DIE PFERDE im Fischer Verlag und der Lyrikband ALLE TÜREN bei kookbooks, im Jahr 2023 folgt die Publikation BEGRIFFSSTUDIO 1 – 4.999 bei Spector Books. Monika Rinck ist Mitglied in der Akademie der Künste Berlin und Vize-Präsidentin der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2020 hielt sie die Frankfurter Poetikvorlesung, 2021 hatte sie die Berliner Gastdozentur für deutschsprachige Poetik inne und erhielt den Berliner Literaturpreis. 2022 erhielt sie den Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg. Sie kooperiert mit Musiker:innen und Komponist:innen und übersetzt aus dem Englischen und, gemeinsam mit Orsolya Kalász, aus dem Ungarischen sowie mit weiteren Kooperationspartner:innen aus dem Slowenischen und Schwedischen. Bis März 2023 unterrichtete sie als Professorin am Institut für Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, dann folgte sie einem Ruf auf eine Professur für Lyrik an die Kunsthochschule für Medien in Köln. www.begriffsstudio.de

Verwandte Artikel
12.04.2023
Dazwischen
Journal zum Übersetzen des Gedichtbandes »Tagesgedichte« von Miljana Cunta im Tandem mit Matthias Göritz
17.04.2023
Steine aus dem Himmel
Ein Journal zur Übersetzung von Tomaž Šalamuns späten Gedichten (Teil 1)
14.04.2023
„Diese Menschen hoffen unentwegt“
Zur deutschsprachigen Werkausgabe des slowenischen Autors Slavko Grum (1901-1949)
11.10.2022
Transmitterzwitter
Zur Übertragung von Lina Atfah: Grabtuch aus Schmetterlingen aus dem Arabischen
08.03.2023
Trans|Droste – Schreiben als Frau
23.01.2023
Columbusted & unpresidented
Annäherungen an Amanda Gormans Call Us What We Carry / Was wir mit uns tragen
01.11.2022
Rhythmus und Oberfläche
Journal zur Übersetzung von Luboš Svobodas »M-a-n-u-e-l-l-e Arbeit«