Journale Prosa Stimmen zimmern
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Stimmen zimmern

Journal zur Übersetzung von Bernardine Evaristos Mr. Loverman

Vorab: Booker Prize und Backlist
Ich: Barrington Jedidiah Walker ...
Exkurs I: Respektlosigkeiten und Bauchrednerei
... Du: Carmel Walker, geborene Miller ...
... und die anderen
Exkurs II: Titel und Titelbilder
Zum Schluss: Persönliches

Vorab: Booker Prize und Backlist

Oft gibt es das nicht, was Bernardine Evaristo erlebt hat: Da schreibt sie mehr als ihr halbes Leben lang Lyrik, Theaterstücke und Romane, wird veröffentlicht und durchweg gut rezensiert, engagiert sich als zutiefst politischer und aktivistischer Mensch für feministische und Schwarze Themen und hat doch nie mehr als Achtungserfolge, bleibt einem größeren Publikum weitgehend unbekannt. Bis zum Herbst 2019, als sie für Girl, Woman, Other, für Mädchen, Frau etc, wie das Buch auf Deutsch heißt1, den Booker Prize gewinnt, als erste Schwarze Frau in der Geschichte des Preises, und scheinbar „über Nacht“ berühmt wird. Ich bin erst halb mit dem Buch durch, finde es aber bereits das Großartigste, was ich in letzter Zeit gelesen habe, als der Tropen Verlag bei mir anfragt, ob ich es übersetzen möchte. So beginnt für mich die übersetzerische Geschichte mit dieser ungewöhnlichen Autorin – eine Geschichte, die wohl noch einige weitere Kapitel bekommen dürfte, denn weil sie eben keine über Nacht berühmt gewordene Debütantin ist, existiert bereits eine umfängliche Backlist. Und weiterschreiben tut sie auch.

Für mich als Übersetzerin war es regelrecht paradiesisch, nach getaner Arbeit am Booker-Buch gleich noch so viel mehr entdecken zu können. Und schon bevor Mädchen, Frau etc im Januar 2021 erschien, war klar: Der Verlag macht auch mit der Backlist weiter und beginnt mit dem direkten Vorgängerroman, Mr Loverman, im Original 2013 erschienen.

Bei der Lektüre war ich hingerissen: schockverliebt, wie es heute so schön heißt, in den Ich-Erzähler, der den Mittelpunkt des Romans bildet. Barrington Jedidiah Walker, 74 Jahre alt, zu Beginn der 1960er, als später Vertreter der sogenannten Windrush-Generation, aus Antigua nach Großbritannien eingewandert – ein „karibischer Gentleman“, wie er sich selbst bezeichnet, durch großen persönlichen Einsatz und harte lebenslange Arbeit erfolgreich im Immobiliengeschäft und finanziell gut aufgestellt, verheiratet, mit zwei erwachsenen Töchtern – aber auch heimlich schwul und seit Teenager-Tagen mit seinem Lebensmenschen Morris liiert, der Antigua noch vor Barry verlassen hat und dessen berufliche und familiäre Geschichte in Großbritannien nicht ganz so erfolgreich verlief.

Bernardine Evaristo: Mr. Loverman. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Berlin, Tropen Verlag, 2023.

Barry ist, wir werden es noch sehen, eine umwerfende literarische Stimme; flankiert und konterkariert wird er von der Stimme seiner Frau Carmel, Carmelita Miller, einst das schönste und begehrteste Mädchen der antiguanischen Hauptstadt St. John’s, zu Beginn der Romanhandlung aber eine desillusionierte Ehefrau Anfang 60, die sich nicht nur von zahllosen Zipperlein geplagt fühlt, sondern vor allem auch von ihrem Mann, von dem sie glaubt, er betrüge sie mit anderen Frauen.

Diese beiden Stimmen gilt es also zu zimmern, damit das Buch auf Deutsch funktioniert – aber noch bevor ich mich detailliert damit beschäftigen kann, kommt ein neueres Evaristo-Werk dazwischen: Für Herbst 2021 wird ihr autobiographisches Memoir Manifesto: On Never Giving Up im Original angekündigt, und so hat auch für den deutschen Verlag diese Übersetzung erst einmal Vorrang. Barry und Carmel müssen warten, bis Manifesto: Warum ich niemals aufgebe Ende Januar 2022 auf Deutsch erschienen ist, bevor ich so richtig mit der Backlist starten kann.

Aber „Evaristos Manifesto“ – wie sie das tatsächliche Manifest betitelt, mit dem das Buch schließt – erweist sich nicht zuletzt im Hinblick auf diese als Glücksfall. Im fünften Kapitel schildert die Autorin nämlich die Entstehung all ihrer bisherigen Bücher, erläutert den in den meisten Fällen nicht ganz einfachen Schreib- und Publikationsprozess und auch die jeweiligen Inspirationsquellen. So erfuhr ich folgende back story zu Mr Loverman: Bernardine ist mit dem Schreiben an einem anderen Buchprojekt in die Sackgasse geraten, nichts geht mehr voran. In dieser Zeit ist sie als Mentorin für Prosa bei einem Seminar der Arvon Foundation für angehende Autor·innen und nimmt, erstmals seit Jahren, auch wieder selbst an einem der angebotenen Workshops teil, bei der Theatermentorin Rebecca Lenkiewicz. Eine der Schreibaufgaben, die sie den Teilnehmenden stellt, besteht darin, von einem Tisch, auf dem lauter alte Passfotos ausgebreitet liegen, eins auszuwählen, sich dann vorzustellen, dass die Person auf dem Foto vor einem Ganzkörperspiegel steht und Stück für Stück ihre Kleidung ablegt, und mit ihrer Stimme zu schildern, was sie dabei sieht. Bernardine entscheidet sich für das Foto eines älteren Herrn, „vermutlich karibischen Ursprungs, mit einem Trilby auf dem Kopf“, und berichtet weiter: „Kaum hatte ich mit der Übung begonnen, fing Barrington [...] an, auf mich einzureden – und hörte nicht mehr auf.“2 Eine ziemlich präzise Beschreibung ihrer Hauptfigur – und wie typisch für Barry, denkt man, wenn man das Buch kennt, sich auf diese Weise seiner Autorin zu bemächtigen. Lustig allerdings, dass selbst eine so pragmatische und bodenständige Person wie Bernardine Evaristo gegen einen solchen klassischen Ursprungs- und Inspirationstopos nicht gefeit ist.

Aber ja, er entwickelt ein unmittelbares Eigenleben, dieser Barrington Jedidiah Walker, Esq., redet nicht nur seine Autorin, sondern auch seine künftige Übersetzerin in Grund und Boden (und sich selbst im Verlauf des Romans oft genug um Kopf und Kragen) mit seiner Forschheit, Frechheit, Unverblümtheit und erobert uns zugleich, stellenweise vielleicht sogar gegen unseren Willen, mit seinem unwiderstehlichen Charme. Was könnte er anderes sein als ein Ich-Erzähler? Von Anfang an ist klar: Diese Figurenstimme muss sitzen, mit ihr steht und fällt das ganze Buch. Und so mache ich mich als erstes daran, für Barrington eine deutsche Stimme zu zimmern.

Ich: Barrington Jedidiah Walker ...

Das Fundament dieses Stimmgebäudes: Barrys sprachliche Mixtur aus karibischem Patois, hochsprachlichem Standard-Englisch, Shakespeare-Zitaten und dem, was ich bei der Arbeit für mich seine „Barryismen“ taufe – frei nach seiner Äußerung irgendwann im Buch: I ain’t no homosexual, I am a ... Barrysexual.3

Fangen wir mal mit letzteren an, denn sie sind übersetzerisch gesehen noch die leichteste Übung: Es sind eigenwillige Sprachmanierismen, die der sprachspielerisch allein schon durch exzessive Shakespeare-Lektüre4 weithin geschulte Barry für sich selber prägt. Er erweitert Floskeln und Abtönungspartikel auf seine ganz eigene Weise – furthermore and more furtherly, and so forthly –, erfindet Wörter nach dem Vorbild anderer – das Londoner Viertel Stoke Newington, in dem er seit Jahrzehnten mit seiner Familie lebt, wird nicht nur gentrifiziert, es wird auch dykeified oder einer Rastafication unterzogen, und der bildungshungrige Barry, an dem der Umstand nagt, dass er nie einen Studienabschluss machen konnte, studiert nebenbei in Abendkursen und als Gasthörer nicht nur Sociology, Psychology und Archaeology, sondern auch Oloyology und Artology. Da kann ich als Übersetzerin meinerseits recht frei verfahren: Aus furthermore and more furtherly wird auf Deutsch zudem und dem hinzu, and so forthly wird zu dermehren gleich; Stoke Newington wird lesbifiziert und rastafiziert, und die Studienfächer umfassen die Blabalogie sowie die Kunstologie. Und der Barrysexual ist auf Deutsch natürlich barrysexuell.

So weit, so unproblematisch. Komplexere Ansprüche stellt der Umgang mit dem karibischen Patois5, einer Varietät des Englischen, die von allen auf Antigua geborenen Figuren im Buch gesprochen wird, nicht nur von Barry, sondern auch von seinem Geliebten Morris und seiner Frau Carmel, der zweiten großen Stimme im Buch. Da stehe ich vor einer der Grundfragen beim Übersetzen aus dem Englischen: Wie markiere ich solche Varietäten? Es gibt kein karibisches Deutsch, so wie es kein historisch gewachsenes „Black German“ gibt, das uns Englischübersetzenden als Äquivalent zum Black American English dienen könnte. Wenn wir solche Varietäten deutlich markieren wollen, müssen wir, es führt kein Weg daran vorbei, im Deutschen eine Art Kunstsprache bauen.

Ich bin weder die Erste noch die Letzte, die vor dieser Herausforderung steht, lese mit Spannung und Gewinn, was andere dazu geschrieben haben6, und komme immer wieder zu dem Schluss: Die letztgültige One-fits-all-Lösung gibt es nicht, kann es gar nicht geben. Es hängt, wie alles literarische Übersetzen, vom Kontext ab, vom jeweiligen Buch und seinen Anforderungen, von den Figuren und ihren Lebensumständen und -erfahrungen im Kosmos der jeweiligen Fiktion. Dass ich markieren muss, ist klar – die Frage ist aber immer wieder von neuem: Wie genau – und wie stark?

Alle Figuren, die in diesem Buch Patois sprechen, tun es auf eher reduzierte Weise, in Form leichter Abweichungen vom Standard-Englisch, die einem englischsprachigen Publikum zwar auffallen, aber nicht – oder nur selten – so weit reichen, dass sie ohne weitere Vorbildung oder Recherchen nicht zu verstehen wären. Es ist eine Art pan-karibisches Patois, das nicht klar der Insel Antigua zugeordnet ist – was von der Autorin selbst durchaus kritisch reflektiert wird.7 Sie entscheidet sich aber dennoch dafür, im Sinne der Lesefreundlichkeit für ihr englischsprachiges Publikum. Dieses Wissen macht es auch mir leichter: Um einem deutschsprachigen Publikum den gleichen Eindruck zu vermitteln – Stichwort: Wirkungsäquivalenz –, entscheide ich mich für eine eher sanfte Markierung, die über das rein Umgangssprachlich-Mündliche nur leicht hinausgeht und die ich zwar dosiere – denn Verschleifungen und Auslassungen können im Deutschen auch schnell mal nerven –, innerhalb dieser Dosierung aber konsequent durchziehe. Bei Verben im Präsens fällt das End-E weg, bei Verben (samt den von ihnen abgeleiteten Substantiven), die auf „-ehen“ enden, wird das letzte E gestrichen – „gehn“, „sehn“, „bestehn“ –, unbestimmte Artikel werden grundsätzlich zu „ne“ und „nen“8, manchmal entfallen sie aber auch ganz. Dazu kommt eine rhythmisierte Satzstruktur mit Inversionen und Umstellungen, wie sie nicht immer ganz der gängigen deutschen Idiomatik entsprechen. Auch ein Subjekt ist nicht in jedem Satz zwingend erforderlich. So werden die Grenzen der deutschen Sprache sparsam gedehnt und erweitert, nicht so stark allerdings, dass es aufdringlich9 oder nicht mehr authentisch wirkt. Ganz wichtig auch: Nicht jede Abweichung im Englischen bedarf immer auch einer im Deutschen – es geht darum, mittels der verschiedenen Bauteile einen Gesamtsound zu erzielen, der überzeugt, und dafür genügt es oft, nur anzudeuten. Wie auf der Theaterbühne, wo beispielsweise eine körperliche Beeinträchtigung auch nicht die ganze Zeit ausgespielt werden muss; es genügt, sie dem Publikum immer wieder einmal punktuell in Erinnerung zu rufen.

Ein paar Momente gibt es allerdings, da bedient sich auch das Original eines stärkeren, phonetisch markierten, gewissermaßen „echten“ Patois – das sind dann jedes Mal emotional (durch Liebe, Angst oder Zorn, je nachdem) stark aufgeladene Momente, in denen Barry ganz in die Sprache seiner antiguanischen Kindheit und Jugend verfällt: Man haf fu do what man haf fu do, Wha rong wit yuh und ähnliches. Solche Sätze oder Satzteile stehen genau so auch in der deutschen Fassung – als „Soundbites“ des Originals, als Authentizitätsmarker und als die Verbeugung vor der karibischen Sprache, die sie auch im Englischen sind.

Bleibt noch der dritte Grundpfeiler, auf dem mein Barry-Stimmgebäude ruht: das, was der Ich-Erzähler selbst sein Queen’s English nennt. Das wiederum kommt dem Deutschen sehr entgegen, denn es schlägt ein deutlich höheres Register an, ist stark gefärbt vom viel und ausführlich zitierten Shakespeare10 und dem Vokabular der diversen Geisteswissenschaften, das Barry sich genauso problemlos aneignet wie jedes andere Idiom. Für die deutsche Fassung lässt sich das sogar noch etwas weitertreiben, die Fallhöhe zwischen den Registern sich noch vergrößern und damit manches kompensieren, was vielleicht auf Seiten des deutschen Kunst-Patois nicht ganz so ausgeprägt ist.

Wie das dann klingt? Eine Kostprobe gibt es hier:

Exkurs I: Respektlosigkeiten und Bauchrednerei

Während ich an seiner Stimme zimmere, frage ich mich oft, wie er beim deutschsprachigen Publikum wohl ankommen wird, dieser Barrington Jedidiah Walker, zehn Jahre nach seiner Erstveröffentlichung in Großbritannien (die Handlungszeit ist 2010). Viel hat sich getan seither, viele, oft auch hitzige gesellschaftliche Debatten sind aufgekommen, die zur Zeit der Erstveröffentlichung noch keine ganz so große Rolle spielten. Passt eine literarische Figur wie Barry noch in diese Zeit? Der Gute ist nämlich ganz schön meinungsstark und in seinen Ansichten wie auch in seiner Art, sie zu äußern, reichlich unverblümt. Er plänkelt, provoziert, zieht vom Leder und verschwendet dabei keinen Gedanken ans politisch Korrekte. Er gibt sich überheblich, arrogant, misogyn, mitunter sogar, obwohl selber schwul und diesbezüglich sensibilisiert, ansatzweise homophob und äußert das alles ganz ungehemmt, wenn auch mit viel einnehmendem Witz und Ironie. Zugleich begegnet er seinen Mitmenschen, besonders Frauen und queeren Personen, mit großer Offenheit und Einfühlsamkeit, zeigt sich jederzeit hilfsbereit und hat auch selbst im Lauf seiner 74 Lebensjahre schon viel eingesteckt, Rassismus, Homophobie und Abwertung bis hin zur körperlichen Gewalt erlebt. Barry ist der Inbegriff eines gemischten Charakters – Sympathieträger und Unsympath in einem, entwaffnend, respektlos, unglaublich witzig und böse und darin ungeheuer liebenswert. Und erfunden und geschrieben hat ihn eine feministische, aktivistische Schwarze Autorin, die als junge Frau gut zehn Jahre lang selbst ein offen queeres Leben geführt hat. Geballte Widersprüchlichkeiten. Und beim Übersetzen natürlich die klare Entscheidung, bei Barrys sämtlichen Respektlosigkeiten mitzugehen, genau so, wie das Original sie vorsieht – im Grunde nicht einmal eine Entscheidung, weil die Frage sich gar nicht stellt. Alles andere würde schließlich diese Stimme, dieses ganze Buch zerstören.

Schon recht früh im Arbeitsprozess stoße ich zu meiner Überraschung und Freude im Netz auf Bernardine Evaristos Promotionsschrift an der Goldsmiths, University of London, im Fach Creative Writing. Sie trägt den Titel Mr Loverman and the Men in Black British Fiction und besteht zum einen aus dem Roman selbst – es ist ja ein PhD in Creative Writing – und zum anderen aus einer literaturwissenschaftlichen Abhandlung zum Thema Repräsentation von Männlichkeit, die neben der Betrachtung etlicher anderer prägender Romane – allen voran The Lonely Londoners von Samuel Selvon11 und Escape to an Autumn Pavement von Andrew Salkey12 – auch eine kritische Analyse des eigenen Romans umfasst. Ein faszinierendes Dokument! Und die Autorin benennt darin sehr klar, was sie mit Barry vorhatte:

My narrator is intended to be charismatic, intelligent, flamboyant, opinionated and audacious. But what also emerged in the creative process is a disjunction between the charm of the narrative voice and what is unwittingly revealed about its speaker, which is a rather more cantankerous and self-deceiving individual who is lacking enough self-awareness to be classified as an unreliable narrator. [...] Barrington is not portrayed as a villain either, because he is not. He is a complicated individual living with the consequences of his decisions. In earlier drafts of the novel his portrayal erred on the side of heartlessness, something I addressed through revision. As an elderly, black, gay Caribbean man who is perhaps making the first such outing in the chronicles of British fiction, I want him to be an attractive personality – flawed, as all fictional characters need to be, but not to the point of alienating the reader.13

Für die diversen Unkorrektheiten, die sie ihrem Barry in den Mund legt, zieht sie Stephen King und seinen autobiographischen Schreibratgeber On Writing14 als Gewährsmann heran: „I [...] decided to follow Stephen King’s dictum in On Writing to disregard offending the ‘Legion of Decency or the Christian Ladies’ Reading Circle.’“15 Und eine Seite zuvor erläutert sie ihre Deutung der Ich-Erzählperspektive als „literary ventriloquism“, als literarisches Bauchrednertum. In gewisser Weise „channelt“ sie im Schreiben also diesen Ich-Erzähler, was gut mit der Ursprungserzählung darüber korrespondiert, wie er sich, kaum von ihr entdeckt, sofort verselbständigt und das Ruder übernommen hat – und das, obwohl sie augenscheinlich innerlich wie äußerlich erst einmal wenig mit ihm gemeinsam hat. Das alles macht ihr spürbar, lesbar großen Spaß, was wiederum die Figur bereichert und sie in ihrem ganzen zwiespältigen, aber entwaffnenden Charme so ungeheuer lebendig macht. So funktioniert der kreative Prozess, so funktionieren Einfühlung, Erfindungsgabe, (Schau)Spielen16 und literarische Vielfalt. Und auch Übersetzen, finde ich, ist eine solche Form literarischen Bauchredens. Nicht zuletzt das fasziniert mich so daran.

Dennoch frage ich mich – und werde die Frage bei nächster Gelegenheit an sie weitergeben –, ob Bernardine Evaristo Barrington Jedidiah Walker auch heute, zehn Jahre später, noch mit derselben Unbefangenheit schreiben, ihn mit derselben Respektlosigkeit ausstatten würde. Ich neige fast zu der Vermutung, dass die Antwort auf diese Frage „Ja“ lauten könnte. Man muss sich nur das Author Statement auf ihrer Website durchlesen – in sich noch ein weiteres kleines Evaristo-Manifesto: „Writing is an adventure“, sagt sie dort unter anderem, „a journey into the unknown, and I enjoy liberating myself from the shackles of convention.“

... Du: Carmel Walker, geborene Miller ...

So unzeitgemäß er manchen heutigen Leser·innen vielleicht erscheinen mag: Wenn man sich auf ihn einlässt, ist Barringtons Charme wie gesagt gewaltig. Und er, diese autarke, dominante literarische Figur, hat diesen Charme auch nicht zu knapp auf seine Autorin ausgeübt: So hingerissen ist die Feministin Bernardine Evaristo von ihrem Ich-Erzähler, dass ihr gar nicht auffällt, wie sehr sie dabei die zweite Figur, die weibliche Perspektive auf die verkorkste, von vornherein auf einer Lüge fußende Ehe der Walkers, vernachlässigt. Erst das Lektorat bei Hamish Hamilton weist sie darauf hin, dass Carmel, die Ehefrau, außen vor bleibt – so erzählt sie es sehr freimütig in Manifesto.17 Das von ihr eigentlich als fertig begriffene Buch wird also noch einem weiteren Überarbeitungsgang unterzogen, und sie durchsetzt die elf Barrington-Kapitel mit sechs weiteren aus Carmels Perspektive, die sich in Stil, Form und Ton stark von den anderen unterscheiden – und schon im Inhaltsverzeichnis ganz anders betitelt sind.

Während Barry uns in die „Kunst“ der verschiedenen Bereiche seines Lebens einführt, sind Carmels Kapitel „Lieder“ (nebenbei: eine ganz schöne Frickelei, für alle Kapiteltitel im Deutschen Substantive zu finden, die nicht so klobig und behäbig wirken, wie deutsche Substantive es nunmal mitunter tun). Das setzt den Ton – zarter, weicher, gefühlvoller, trauriger auch, und zunehmend gezeichnet vom Desillusionierungsprozess ihrer gescheiterten, lieblosen Ehe – und gibt die Form: Bernardine Evaristos frühe Romane sind Versromane18, und aus dieser Praxis hat sie, die nicht nur vom Theater, sondern auch von der Lyrik kommt, die ganz spezielle Form entwickelt, die sie fusion fiction nennt und in ihrem Booker-Prize-Roman Mädchen, Frau etc durchgängig einsetzt: eine fließende, gedichthafte Form, fast gänzlich ohne Satzzeichen (bis auf Kommata), so dass im Grunde jedes Kapitel in Mädchen, Frau etc, wo nur jeweils am Kapitelende ein Punkt steht (manchmal auch ein Fragezeichen) als ein langer Satz gelesen werden kann. Jede·r Einzelne kann bei der Lektüre eigene Sinneinheiten zwischen diesen „Versen“ (wie ich sie bei der Arbeit wiederum für mich genannt habe) bilden, und es zieht einen förmlich durch die Seiten, es entsteht ein ganz anderer Rhythmus, ein anderes Tempo als bei „traditionellerer“ Prosa. In den Carmel-Kapiteln von Mr Loverman finden wir diese fusion fiction erstmals und fast noch ein bisschen extremer als im Nachfolgeroman, denn bei Carmel enden auch die einzelnen Kapitel ohne Punkt – im Grunde sind sie also alle ein einziger, langer Satz.19 Und während Barrys Erzählung sich, trotz zahlreicher Rückblenden, im Grunde auf das Jahr 2010 beschränkt, erstreckt sich die von Carmel in Zehn-Jahres-Schritten von ihrer Hochzeit 1960, noch auf Antigua, bis zu ihrer Befreiung/Emanzipation im Umbruchjahr 2010, und wir folgen ihr in diese Zeit hinein, erleben sie sehr direkt in ihrer jeweiligen Lebensphase. Und noch ein weiteres formales Element erzeugt Direktheit: Die Kapitel sind in einer Du-Perspektive verfasst, wie man sie nicht allzu oft in Romanen findet. Neben der Figurenperspektive wabert hier also noch eine nicht klar fassbare und zumindest in Bezug auf Carmel allwissende Erzählinstanz durch den Raum, die Carmel zugleich an- und für sie spricht. Sofort steht die Literaturwissenschaftlerin in mir auf dem Plan und will sie zuordnen: Carmel wird als sehr religiös gezeigt – haben wir es also mit einer quasi-göttlichen Stimme zu tun, die mit ihr und über sie spricht und sie teilweise besser kennt als sie sich selbst? Oder ist es ein innerer Dialog, und es ist Carmel, die mit und über sich spricht? Da kommt wohl jede Lektüre zu einer eigenen Interpretation.20

Linguistisch jedenfalls zählt auch Carmel zu den pan-karibischen Figuren: Sie spricht das gleiche, sanft vom Patois geprägte Standard-Englisch wie ihr Mann, wenn auch ohne seine emotionsbedingten kompletten Rückgriffe auf das Kindheits- und Jugendidiom. Und auch ohne die Shakespeare-Zitate und das daraus resultierende höhere Register. Bei Carmel zerfallen in emotional aufgewühlten Momenten vielmehr die Wörter – was auch typographisch dargestellt wird und ihre Kapitel formal noch experimenteller gestaltet.

Meine Übersetzungsstrategie weicht also nicht groß von der für Barry ab: Ich verwende dieselben Grundmarkierungen, aber noch ein wenig dosierter, und setze sprachlich andere Akzente. Hier muss nicht auf die Tube gedrückt werden, hier gilt es, sich ganz Ton und Rhythmus zu überlassen, Gefühlstiefen auszuloten, Sätze bzw. Verse so zu gestalten, dass sie auch im Deutschen nach oben wie nach unten funktionieren. Die Du-Perspektive verleiht dem Text aus meiner Sicht etwas Schwebendes, Schaukelndes – nicht umsonst treffen wir Carmel in ihrem ersten Kapitel als frisch verheiratete und verliebte Sechzehnjährige auf der Hollywoodschaukel im Garten ihrer Eltern auf Antigua an –, der Grundton ist dichter, innerlicher, nicht so überbordend und respektlos wie der von Barry, aber dadurch natürlich auch weniger unmittelbar umwerfend und entwaffnend. Carmels Charme erschließt sich eher auf den zweiten Blick – und genauso legt der Text sie auch an: Wir bekommen ihre Perspektive erst im zweiten Kapitel, im ersten sehen wir sie noch mit Barrys Augen, und da erscheint sie uns, in den fast schon barry-tauglichen Worten ihrer Autorin, tatsächlich erst einmal als „a bible-bashing husband-hater“.21 Erst dann lernen wir im „Lied von der Süße“ die Süße kennen, die sie einmal war und, verschüttet unter einem mühseligen, enttäuschenden Leben, immer noch ist. Aber auch Barry wird aus ihrer Perspektive so manche Dimension hinzugefügt. Eng verwoben ist der Text auf seiner Mikroebene – oft endet ein Barry-Kapitel mit einem Wort oder einer Situation, das bzw. die das folgende Carmel-Kapitel leicht variiert wieder aufnimmt, und umgekehrt: Kapitel 2 endet damit, dass Barry 1960, am Morgen nach der Hochzeit, allein zum Frühstück gegangen ist, Kapitel 3 beginnt 2010 am Frühstückstisch mit ihm und Morris; Kapitel 10 (Barry) endet mit dem Satz: Then I collapse on to the hallway carpet and lose myself, Kapitel 11 (Carmel) beginnt mit dem Satz you started losing your old self and gaining a new one [...]. So verflicht die Autorin beide Stimmen miteinander, verwebt das Buch zu einem experimentellen Ganzen, das organisch funktioniert und an keiner Stelle auseinanderfällt. Mit meinem übersetzerischen Mikroskopblick muss ich diese Fugen und Nahtstellen aufspüren und bloßlegen, um meine Nadeln und meinen Kitt an den entsprechenden Stellen im deutschen Text anzusetzen – damit ein deutsches Lesepublikum sie ebenfalls finden kann, wenn es sucht, sie aber auch nicht sehen muss, wenn es das nicht möchte.

... und die anderen

Inmitten der beiden Haupt-Stimmgebäude finden sich noch etliche Nebenstimmen, die sie durchwirken, erweitern, verzieren. Beispielsweise die Figuren der nächsten – und übernächsten – Generation, die allesamt Standard-Englisch sprechen: Barrys und Carmels erwachsene Töchter Donna und Maxine, beide in England geboren und aufgewachsen, entsprechend britisch sozialisiert und sich ihres antiguanischen Erbes in unterschiedlichem Maße bewusst, und Donnas Teenager-Sohn Daniel. Alle drei gehören zur Second22 respektive Third Generation, haben eine britische Schulbildung durchlaufen, studiert bzw. ein Studium vor sich und können sich – dies gilt vor allem für Maxine, Liebling ihres Vaters und künstlerisch talentiert, aber dennoch eine leicht verkrachte Existenz – dank des Einsatzes vor allem ihres Vaters recht ungehindert und ohne Geldsorgen ausprobieren. Sie sind Upper Middle Class in Reinkultur, und ihre Stimmen spiegeln diesen Hintergrund:  Niemand von ihnen hat das Patois der Elterngeneration übernommen, allenfalls zitieren die Töchter mal die „Barryismen“ ihres Vaters. Dafür finden sich in ihren Stimmen die individuellen sprachlichen Prägungen ihres jeweiligen Umfelds: Donna ist Dozentin für Sozialarbeit, sie beherrscht das Dozieren und Vortragen perfekt und setzt es auch im Privaten ein; Maxine ist in der Modebranche, gibt sich hip und exaltiert und verwendet Ausdrücke wie obv oder whatevs, und Daniel, hochintelligenter siebzehnjähriger Privatschüler mit dem Ehrgeiz, Großbritanniens erster Schwarzer Premierminister zu werden, ist dem Erbe des Großvaters bereits so fern, dass er einmal dessen Patois nachzuahmen versucht, dabei aber nicht ins Barry im Romankosmos zugeordnete Pan-Karibisch verfällt, sondern in das ihm popkulturell vertrautere Jamaikanisch:

‚Gimme one glass of Wild Turkey ‘cos I is a rude bwoy‘, he says, imitating what he thinks is my accent but sounding Jamaican. He picks up the bottle and reads the label, declaring, ‚An‘ me wan‘ it on de rocks, Grampops.“

„Gib mir n Glas Wild Turkey, bin schließlich n krasser rude bwoy“, sagt er im Glauben, meinen Akzent nachzuahmen, obwohl er wie n Jamaikaner klingt. Er greift sich die Flasche, studiert das Etikett und verkündet: „Und ich nehm ihn on de rocks, Grampops.“

Hübsch auch die Neben-Nebenfigur eines jungen Engländers, den die jugendliche Donna Anfang der Achtziger als ihren Freund nach Hause bringt: ein weißer, blonder Möchtegern-Rasta, die Verkörperung jeglicher Form von kultureller Aneignung, der Barry beim Antrittsbesuch mit „Greetings and salutations, Mr. Walker“ begrüßt, ein aufgesetztes, übertriebenes Jamaikanisch spricht und sich insgesamt komplett unmöglich macht. Eine halbe Buchseite dauert sein ironisch überspitzter Auftritt, und er führt sich dabei selbst ad absurdum, wird aber von seiner Autorin bei aller Bissigkeit trotzdem liebe- und respektvoll behandelt23, wie sie überhaupt jede noch so kleine Nebenfigur mit wenigen Strichen plastisch, individuell und einfühlsam zeichnet. Das hat mir schon bei Mädchen, Frau etc unglaublich gut gefallen und zieht sich durch ihr ganzes Werk.

Neben den „Hauptgebäuden“, die das Buch ausmachen, gilt es also noch viele kleine Stimmen-Nebengebäude zu errichten, Kurz-Milieustudien zu betreiben24 – und im Fall des karikierten Patois auch deutlich dicker aufzutragen als bei dem, das Barry, Carmel und die anderen antiguanischen Figuren sprechen.

Exkurs II: Titel und Titelbilder

Als der Übersetzungsauftrag für Mr Loverman kommt – der Verlag und ich sind gerade beim Lektorat von Mädchen, Frau etc –, habe ich mir bereits alle Backlist-Titel von Bernardine Evaristo beschafft. Fast alle liegen schon in der neuen Taschenbuch-Werkausgabe vor, die der englische Verlag nach dem Booker Prize in Angriff genommen hat und die sich gestalterisch an Girl, Woman, Other orientieren: abstrakt gehaltene, grafische Titelbilder im gleichen Stil, mit der gleichen Schrifttype und im gleichen Format.

Mit zwei Ausnahmen: Lara, Bernardines erstem Versroman, dessen Cover das reale Hochzeitsfoto der Eltern der Autorin zeigt ...

... und dem unmittelbaren Vorgänger des Booker-Buchs, Mr Loverman. Auch auf diesem Cover ist ein Foto. Es zeigt einen mutmaßlich karibischen Gentleman, im dreiteiligen Anzug und mit Hut, der ziemlich genau der Beschreibung des Passfotos entspricht, das die Autorin zu Barry inspiriert hat.25 Zunächst mache ich mir darüber keine weiteren Gedanken – es ist eben noch die alte Ausgabe, die anders aussah, und ich finde sie schön und liebevoll gemacht. Erst als ich das Cover der Neuauflage sehe, das Tropen auch für die deutsche Ausgabe verwendet und das nur noch einen grafisch gestalteten Hut zeigt, wird mir klar, wie sehr mich das ursprüngliche Foto beeinflusst hat: Mein innerer Barry ist der unbekannte Mann auf dem Cover, den ich beim Lesen und Übersetzen die ganze Zeit gesehen habe – fast ein bisschen so wie bei Bernardines Begegnung mit ihrem Ur-Barry.

Cover der ersten Ausgabe: Bernadine Evaristo, Mr Loverman, Penguin, 2013

Und ich denke nicht zum ersten Mal darüber nach, was für eine Macht Cover und Titel doch ausüben, wie sehr sie bestimmte Erwartungen schüren und den Leseeindruck prägen. Ich mag das abstrakte Cover und finde es eindeutig die bessere Wahl, weil es viel mehr Raum für einen individuellen, persönlichen Leseeindruck lässt. Aber nach der vielen Zeit, die wir miteinander verbracht haben, hänge ich irgendwie auch an „meinem“ sehr konkreten Mr. Loverman, der meinem persönlichen Barry sein Gesicht geliehen hat.

Mindestens so machtvoll wie das Titelbild ist natürlich der Titel selbst – vor allem, wenn es nicht so eindeutig ist wie in diesem Fall: Mr Loverman bleibt natürlich auch auf Deutsch Mr. Loverman – er gewinnt nur, entsprechend der Konvention im deutschen Sprachraum, einen Punkt hinzu. Wer dabei automatisch diesen Song im Ohr hat, liegt übrigens ganz richtig: Die Assoziation ist gewollt, der Song spielt eine Rolle im Buch – und entfaltet im Zusammenhang mit dem ursprünglichen Coverbild natürlich auch eine spannende ironische Brechung, die mit der abstrakteren Variante meines Erachtens entfällt: Bei Mr Loverman denkt man erst mal nicht an einen distinguierten Herrn mit Anzug und Uhrkette, sondern an Shabba Ranks und seinen – im Buch auch durchaus kritisch thematisierten – Männlichkeitsgestus.

Jenseits solcher klaren Sachlagen aber ist die Titelfindung ein schwieriges Geschäft: Der deutsche Titel von Girl, Woman, Other ist dafür ein gutes Beispiel. Auf Deutsch heißt das Buch Mädchen, Frau etc – was Anlass zu einiger Kritik bis hin zum Vorwurf politischer Uninformiertheit hinsichtlich der Bedeutungsebenen des Wortes other gab. Dabei entstand der Titel im Verlag gerade aus der Überlegung heraus, dass wir den vielfältigen und vieldeutigen Hallraum, den das englische Wort über das politische Othering von People of Colour hinaus noch hat, im Deutschen nicht wiedergeben können: Alle Versuche mit „anders“, „andere“, „divers“ oder „fremd“ legten zu sehr fest, verschoben die Bedeutung zu sehr in eine Richtung und verloren die Vieldeutigkeit, die uns und der Autorin wichtig war. Der Titel sollte die Fülle, das Episch-Panoramische des Buches abbilden, das sich zeitlich über mehr als hundert Jahre erstreckt und neben den zwölf Hauptfiguren auch noch etliche weitere umfasst, das zahllose und durchaus wechselnde Identitäten, Zugehörigkeiten und Zuschreibungen erzählt, selbstverständlich in Bezug auf Race, aber eben auch auf Kategorien wie Class und Gender oder auch Lebensalter. Etc war also nicht als Wertung gedacht, geschweige denn als Abwertung, sondern sollte zusätzliche Räume ganz unterschiedlicher Art eröffnen – nicht im Sinn von „ferner liefen“, sondern im Sinn von „und noch so viel mehr“. Genau so wurde es auch Autorin, Agentur und Originalverlag erklärt, die alle damit einverstanden waren und den Titel befürwortet haben.

Im Nachhinein wäre es womöglich besser gewesen, den Originaltitel zu behalten, wie es bei Kinofilmen schon lange üblich ist – manchmal versehen mit einem deutschen Untertitel, sehr oft aber auch nicht – und auch bei Büchern immer mehr um sich greift.26 Dieses Phänomen zu erörtern geht wohl über die Grenzen dieses Journals hinaus. Aber ich kann mir nicht helfen: Ich finde es schwierig – nicht zuletzt aus marketingtechnischen Gesichtspunkten, weil man, da ja oft auch das Coverbild mit übernommen wird, die deutsche und die englische Ausgabe dann kaum noch voneinander unterscheiden kann. Und ist es nicht auch in gewisser Weise eine Entwertung der deutschen Ausgabe, wenn man ihr nur mit einem englischen Titel die nötige ...ja, was? Legitimation, Coolness oder was es auch sein mag, verleiht? Ein Bereich, den es noch auszuloten gälte.

Zum Schluss: Persönliches

Zum Abschluss des Journals, das ja so etwas wie ein Blick in den Kopf der Übersetzerin sein soll, noch zwei persönlichere Aspekte.

© privat

Zu den Sternstunden des Übersetzerinnendaseins gehören für mich die Begegnungen mit „meinen“ Autorinnen und Autoren. Meistens geschieht das nach dem ersten Buch, im Rahmen einer Lesereise in deutschsprachige Gefilde. Aber als ich gerade mit der ersten Evaristo-Übersetzung begonnen hatte, begann nur wenig später auch die Pandemie und verhinderte alle Reisen der Autorin. Die Buchpremiere von Mädchen, Frau etc im Februar 2021 fand digital per Live-Stream statt: Moderatorin Jackie Thomae, Schauspielerin Constanze Becker27 und Jazz-Sängerin Joy Denalane saßen in Berlin ohne Publikum auf der Dussmann-Kulturbühne, Bernardine war hybrid aus London zugeschaltet, und ich saß in München vor meinem Rechner. Auch als 2022 dann Manifesto erschien, waren im ersten Halbjahr noch keine Live-Veranstaltungen möglich.

Dann aber, im September letzten Jahres, war Bernardine Evaristo in Berlin beim Internationalen Literaturfestival zu Gast, und wir sind uns endlich begegnet, nach ihrem Auftritt28 und am nächsten Abend bei einem vom Tropen Verlag organisierten Essen im kleinen Kreis. Sie zu erleben, mit ihr zu reden, mich mit ihr über ihre Bücher auszutauschen, den Rhythmus ihrer Sprache live zu hören – auch das sind Aspekte, die letztlich in mein Übersetzen einfließen, die es mir leichter machen, ihre Autorinnenstimme zu „channeln“, so wie sie ihren Ich-Erzähler Barrington. Denn auch das ist ja eine Stimme, die ich zimmern muss: der Evaristo-Sound auf Deutsch. Insofern bin ich schon gespannt auf ihre Auftritte im Zusammenhang mit Mr. Loverman: Die Lesereise im März 2023 ist bereits geplant.

Zudem bin ich im Journal eine Stimme, eine Figur schuldig geblieben, die sich nur vermittelt äußert, das Buch aber letztlich zu dem macht, was es neben allem anderen auch ist: die wunderschöne, anrührende Geschichte einer großen, lebenslangen Liebe. Bernardine Evaristo schreibt über Morris in ihrer bereits mehrfach zitierten Dissertation:

[...] if there is an Everyman in its pages then it is Morris. Morris is fair minded, down to earth and speaks good sense. He is braver than his lover, and kinder. He doesn’t share Barrington’s insecurities and anxieties but does retreat into himself when hurt. The power balance in their relationship might appear to be in Barrington’s favour as he is the larger, more dominant personality, but it is really Morris who exerts more control over his lover than vice versa, who deflates Barrington’s pomposity and ego, thereby anchoring him.29

Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dieser Morris mit all seiner Menschenfreundlichkeit, Klugheit und Wärme verankert und erdet das ganze Buch. Und die Beziehung der beiden, ihr Geplänkel, ihr bantering – hinter dem vor allem Barry die Tiefe seiner Gefühle oft verbirgt und das Morris ihm eins zu eins zurückgibt, das er aber auch einhegt, ihm klare Grenzen setzt –, ihre seelische wie körperliche Nähe, ihre Auseinandersetzungen und Versöhnungen – das ist alles so schön, so wahr, so menschlich, dass es bei allen Brüchen, Schwierigkeiten und Ecken und Kanten des Protagonisten eine einzige Freude ist, diese Liebesgeschichte zu lesen. Und als Barry einmal kurz davor steht, sein langjähriges Geheimnis preiszugeben, formuliert er für sich eines der schönsten literarischen Liebesbekenntnisse, das ich kenne. Damit gebührt ihm, dem großen Schwadroneur, auch hier das letzte Wort:

Ich wollt ihr von Morris erzählen.

Seinen Namen in die Nacht raussingen.

Sein Name ist Morris. Er ist mein Morris, und er war immer schon mein Morris. Er ist ein herzensguter Mann, ein ganz besonderer Mann, ein sexy Mann, ein Mann, der Geschichte liebt, ein loyaler Mann, ein Mann, der was für gute Witze übrig hat, ein Mann mit vielen Launen, ein trinkfreudiger Mann, ein Mann, mit dem ich ganz und gar ich selbst sein kann.30

17.02.2023
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©Anja Kapunkt

Tanja Handels lebt und arbeitet in München, wo sie vor allem zeitgenössische Literatur aus Großbritannien, den USA und anderen englischsprachigen Kulturen übersetzt, beispielsweise Werke von Zadie Smith, Bernardine Evaristo, Kopano Matlwa, William Finnegan, Charlotte McConaghy und Nicole Flattery. Außerdem unterrichtet sie angehende Literaturübersetzer·innen an verschiedenen Universitäten und ist Vorsitzende des Münchner Übersetzer-Forums. 2019 wurde sie mit dem Heinrich-Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

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