Journale Prosa „Aus dem Anderslusischen oder auf Irwegischem überwitzend“

„Aus dem Anderslusischen oder auf Irwegischem überwitzend“

Multiple Joyce. Auf dem Weg zu einem deutschen Finnegans Wake

„Je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser.“
(Goethe, Gespräche mit Eckermann, 6. Mai 1827)

„Welch eine Mäandertalkschau ergäbe das und mit welchem Ziel vor Augen“ (FW 19.25f.1): Der Text als Labyrinth

Nachdem am 2. Februar 1922 der Ulysses veröffentlicht worden war, begann James Joyce die Arbeit an einem neuen Werk, das 1939 als Finnegans Wake gedruckt wurde. Schon 1929 lancierte er einen Aufsatzband von zwölf Aposteln unter der Ägide Samuel Becketts2: ein frühes Beispiel von Product Placement und wohl der einzige Fall der Literaturge­schich­te, dass Sekundärliteratur mehrere Jahre vor dem Primärtext erschien. Bemerkenswert an der siebzehnjährigen Arbeitszeit ist, dass sich die Gesamtstruktur bereits nach wenigen Jahren herauskristallisiert hatte, denn schon am 21. Mai 1926 schrieb Joyce seiner Mäzenin Harriet Shaw Weaver: „Ich habe den Plan des Buches jetzt so ziemlich fertig im Kopf“3, und im November 1926 war etwa die Hälfte des Romans geschrieben. Von da an erweiterte er den vorliegenden Text und reicherte ihn mit zusätz­lichen Materialien an, weil er „alle Leute, Orte und Dinge im Chaosmos von Everything“ (FW 118.21) darin aufbewahren und einen Hallraum der Sprachen und Kul­tu­ren der ganzen Welt erschaffen wollte. Er improvisierte den Text nicht spontan, sondern kon­stru­ierte ihn Zug um Zug:

Von den [...] Exzerpten greift er [...] einige auf, die er thematisch seinem eigenen Szenario einverleibt. Schrittweise werden diese Auf­grif­fe sodann zu größeren Einheiten kombiniert, [...] im Zuge eines mehrstufigen Revi­sions­pro­zesses sowohl punktuell modifiziert als auch durch nachträgliche Einschübe erweitert. Die ursprüngliche Ausgangsbasis des Satzes wird dabei zunehmend überwuchert von zusätz­lichen Bedeutungsschichten, und offensichtlich kommt es Joyce gerade auf diese Ent­gren­zung an. [...] Abzuzielen ist bei derartigen Unter­su­chungen nicht auf eine relative Fixierung des Textsinns, vielmehr auf die Erkenntnis dessen ständiger Expansion.4

Die ursprünglich noch erkennbare Geschichte um den Dubliner Kneipier Humphrey Chimp­den Earwicker und seine Familie ging im Lauf dieses Akkumulationsprozesses fast verloren. Auf syntakti­scher Ebene führten die Anreicherungen zu manchmal seitenlangen Satz­konstruktionen mit unüber­sicht­lichen Neben­sätzen, Appositionen, Abschweifungen und Listen.

Finnegans Wake bildet den Gipfel­punkt der klassischen Moderne und hat die Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg so nachhaltig geprägt wie kaum ein anderes Einzelwerk. Seit den sechziger Jahren wurde Joyce zum geistigen Ziehvater für Schriftsteller·innen wie Philo­soph·innen der Postmoderne.

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Anthony Burgess — Lots of Fun at Finnegans Wake (1973)

Der Autor, der die Verschmelzung von Sprache und Musik weiter vorangetrieben hat als je ein Romancier vor ihm, stieß auch bei Komponisten ‒ am nachhaltigsten bei John Cage ‒ auf Resonanz. In der Alltagskultur schließlich ließen sich Werbetexter von seinen Wortneuschöpfungen inspirieren. Trotz dieser Wirkungs­geschichte konnte sich eine deutsche Leserschaft einem Verständnis von Finnegans Wake bisher kaum annähern, denn noch achtzig Jahre nach seiner Veröffent­lichung gibt es keine überzeugende deutsche Gesamtüberset­zung.5 Ansätze gab es immer wieder, von denen ich nur Wolfgang Hildesheimer und Hans Wollschläger nennen möchte, die Mitte der sechziger Jahre gebeten wurden, das Anna-Livia-Kapitel zu übersetzen. Ihre Versionen erschienen 19706 und sind die meines Erachtens bis heute gelungensten Übertragungen von Passagen aus Finnegans Wake, in deren Tradition ich mich stelle und deren Text- und Übersetzungsverständnis ich aufnehmen und weiterführen möchte. Hildesheimer und Wollschläger haben meiner Meinung nach am überzeugendsten die Bedeutungsfülle von Finnegans Wake mit der schieren Sinnlichkeit und Musikalität dieser Prosa verschmolzen.7 Nun hält sich der Furor des Verstehenwollens ebenso hartnäckig wie „die fruchtbare Illusion der Übersetz­bar­keit“.8 Die Verlockung des Unmögli­chen scheint gerade den Reiz auszu­machen. Vielleicht kann man an diesem Werk nur scheitern, aber man kann besser scheitern, wie Samuel Beckett in Worstward Ho schrieb. Man kann weit mehr erreichen, als bisher erreicht worden ist. Die vollständige Rekonstruktion aller Bedeutungsgehalte des Originals im Deutschen mag eine Utopie bleiben, aber als regulative Idee muss man nicht auf sie verzichten. In den folgenden Abschnitten möchte ich einige der Verfahren heraus­prä­parieren, die die literarische Besonderheit von Finnegans Wake ausmachen, und mit Beispielen aus dem Original und der Übersetzung veranschaulichen.

“Wärst du doch bloß da, um den Sinn zu erläutern, bester Mann” (FW 28.10f.): Komplexe Literatur für eine komplexe Welt

Finnegans Wake wird regelmäßig genannt, wenn es um avancierte Prosa geht, bei deren Lektüre sich vor einer unlesbar gewordenen Welt kein ‚Vorhang der Buchstaben mehr aufziehen’ lässt.9 Entwirft Ulysses im Kaleidoskop seiner Stile noch eine Vielzahl mög­li­cher Welten, so ist in Finnegans Wake gar keine Realität ‚hinter’ dem Text mehr zu erken­nen. Die über­se­man­ti­sier­te Sprache versperrt den Blick auf ein eventuell erzähltes Univer­sum. Joyce war das bewusst, und um seine Leser·innen bei der Stange zu halten, stellte er im Text gele­gent­lich meta­fik­ti­ve Warnschilder auf, die dem orientierungs­losen Leser nicht nur klarmachen, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, sondern auch die daraus resul­tierende Frustration vor­weg­nehmen:

You is feeling like you was lost in the bush, boy? You says: It is a puling sample jungle of woods. You most shouts out: Bethicket me for a stump of a beech if I have the poultriest notions what the farest he all means. (FW 112.03-06)

In meiner Übersetzung lauten diese Sätze mit ihrem Cluster aus Vegetationsausdrücken gegenwärtig so:

Fühlste dich, als hättste dich föhrlaufen, Bübchen? Sagste: Das ist dorn reinstes Baumel­welsch. Brüllste fast schon: Bestrüpp mich wer für Buchenstubben, wenn ich den bless­huhn­sten Schimmer hab, was er im entforstesten meint.

„Hört dein Auge, was mein Ohr sieht?“ (FW 193.10): Schriftbild und Klangbild

Aber was heißt „übersemantisierte Prosa“ oder „wilde Semiose“ überhaupt? Joyce lädt seine Prosa durch Wortneuschöpfungen, Überblendungen, Mehrsprachigkeit, Tee­kessel­chen, Stabreime, Gleichklänge und Abwei­chun­­gen von den orthographischen Kon­ven­tionen zu einer vieldeu­tigen mythischen Ursprache der Menschheit auf, wie sie vor der Sprachen­zerstreuung beim Turmbau zu Babel gesprochen worden sein könnte.10 Durch diese Vieldeutigkeit des Texts kommt bei dessen Lektüre eine anarchische Assoziationsmaschinerie auf Touren, die Bedeutungen heraus­kitzelt, die der Autor gemeint haben kann, aber nicht muss: Multiple Joyce. Charakteristisch ist, dass wilde Semiosen ein und derselben Leserin bei jeder Lektüre neue und andere Bedeutungskonstruktionen erlauben oder generieren. Heraklits Apho­rismus abwandelnd, könnte man sagen, bei Finnegans Wake schlage man nie zwei­mal dasselbe Buch auf. Einige dieser Ver­fah­ren der Sinnpotenzierung möchte ich im Fol­gen­den vorstellen und die Pro­bleme veran­schau­lichen, die sie beim Übersetzen aufwerfen. Es gibt in Finnegans Wake nur noch musikali­sierte Stimmen, und um das Werk zu verstehen, muss man oft vorbei­schielen an dem, was da auf der Seite steht. Der habituelle Wortspieler braucht eine spezi­fische déformation professionelle, nämlich eine Schwäche in der Wahr­neh­mung der Iden­ti­täts­­grenzen zwischen den Wörtern. Je nachdem, wie man diese hin- und herdreht, entdeckt man in ihnen verschiedene Sinn­schich­ten. Ein „Godsoil­man“ (FW 71.14) kann für ‘God’s oilman’ (‘Gottes Ölmann’), aber auch für ‘God-soil-man’ (‘Gott-Schollenmann’, einen from­men Bauern) stehen. Das kann ich im Deutschen mit „Gottesackermann“ nach­ahmen, denn je nachdem verstehe ich unter einem solchen eben­falls einen ‘frommen Bauern’, nämlich ‘Gottes Ackermann’, oder aber einen Totengräber (einen ‘Gottesacker-Mann’). Wenn ich weiter und wilder drauflos assoziiere, kann ich aus dem Wort soil (‘sich schmutzig machen’) auch einen Anklang an Vers 3.19 der Genesis hören. Als Gott Adam und Eva nach dem Sündenfall aus dem Garten Eden vertrieb, sagte er: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest“.

Verball­hor­nun­gen in Finnegans Wake können auch politische Subtexte enthalten: Wenn ich das Wort „awe­thorrorty“ (FW 516.19) ausspreche, höre ich das zugrundeliegende Wort authority, sehen kann ich aber auch „awe“ (‘Scheu, Ehrfurcht’), „horror“ und „Thor“, den nach Odin mäch­tigsten und meistgefürchteten Gott der nordischen Mythologie. Durch den Eingriff ins Schriftbild wird Autorität mit Assozia­tio­nen von Gewalt und Entsetzen aufgeladen.

„Die formvariable Graphie ist selbst ein Polyeder heiliger Schrift“ (FW 107.08): Finnegans Wake als Vexierbild

Nun kann man einwenden, dass bei Joyce doch aber ein ‘Ölmann’ und kein ‘Toten­gräber’ steht, ich mir also ungebührliche Freiheiten herausgenommen habe. Freiheiten nehme ich mir tatsächlich heraus, sie sind aber nicht ungebührlich, sondern notwendig und gefordert. Ich möchte veranschaulichen, was Joyce da eigentlich veranstaltet, ich möchte zeigen, wie wilde Semiose funk­tioniert, ich möchte der deutschen Leserschaft eine Ahnung davon ver­mit­teln, wie Sinnenergien Synergien generieren. Übersetzungen komplexer Werke wollen deren literarische Spezifika nach­voll­zieh­bar machen. Ich halte es für meinen Auftrag, mit den Mitteln und Möglichkeiten der deutschen Sprache das nachzuahmen, was Joyce mit den Mitteln und Möglichkeiten der englischen vorgebildet hat. Ich muss mich dem Ori­gi­nal mit dem Assoziationspotential meiner Mutter­sprache nähern. Beim Übersetzen von Finne­gans Wake geht es oft erst in zweiter Linie darum, die Sachgehalte des Texts wieder­zu­geben, oder wie Hans Woll­schlä­ger über seine Übertragung des „Anna Livia Plura­belle“-Kapitels11 schrieb: „[M]an kann kaum anderes als Äquivalente bilden, und das Wört­liche ist gar nicht so wichtig.“12 In erster Linie gilt es, wie gesagt, die Verfahren zu rekonstruieren, mit denen Joyce im Text die “semio­gene­ti­schen Orgasmen” auslöst, wie Fritz Senn einmal schrieb.13 „Godsoilman“ und „Gottes­acker­mann“ haben eine Scharnier­technik gemeinsam. Die Ausdrücke ändern ihre Bedeu­tung je nachdem, ob ich im Engli­schen das „‑s‑“ und im Deutschen das „‑acker‑“ den voran­ste­hen­den oder nachfolgenden Wort­elementen zurechne. Joyce macht seine Wörter, wie gesagt, zu literarischen Kipp­bildern, wie man sie aus der bildenden Kunst kennt:

Kopf oder Berg?
Wenzel Hollar: Landschafts-Kopf

“Unser juxender Tintenfex“ (FW 433.08f.): Die Komik von Finnegans Wake

In den vergangenen achtzig Jahren sind Unmengen an literaturwissenschaftlichen Arbeiten erschienen, die philosophische, historische, geographische, politische, literarische, autobio­gra­phische, popu­lär­kulturelle und technologische Bedeutungsgehalte von Finnegans Wake erschließen. Trotzdem dürfte es eine Utopie bleiben, sämtliche Bedeutungsgehalte des Ori­gi­nals zu dechiffrieren: Das skeptische Résumé meines Anglistikprofessors in den neun­zi­ger Jahren ‒ „Aller Wissens­zuwachs in Detailfragen hat nicht den erhofften Erkenntnis­fort­schritt zu einem besseren Verständnis des Werk­ganzen gebracht“14 ‒ hat seine Gül­tig­keit auch nach einem weiteren Drittel­jahrhundert nicht verlo­ren. Bei der Konzentration auf die galop­pierende Sinn­flation von Finnegans Wake droht aber ver­lo­ren­zugehen, dass das Werk bei allen Verständnis­schwie­rigkeiten ein komi­sches Buch ist. Es verbreitet gute Laune. Das verdankt sich nicht nur Aphorismen wie „Gruppen­trinker geben grobe Denker“ (FW 312.31), Pseudosprichwörtern wie „Vom Knabbern am Abend wirst du Stuhlgang haben“ (FW 106.29f.) oder Persiflagen auf geflügelte Worte wie „ʼn Appel sehen und färben“ (FW 106.24). Bei den Lesegruppen der Finneganov·innen in aller Welt stellt sich beim Vorlesen vielmehr oft und schnell ein Schmunzeln ein, auch wenn man nicht versteht, wovon die Rede ist. Die Nobel­preis­trägerin Toni Morrison hat ihren Lektüreeindruck so beschrieben:

Joyce ist manchmal urkomisch. Ich habe Finnegans Wake erst nach dem Stu­dium entdeckt und hatte das große Glück, es ganz ohne Anleitung lesen zu können. Gut möglich, dass ich es nicht richtig gelesen habe, aber es war urkomisch! Ich habe ununter­brochen gelacht! Oft wusste ich ganze Absätze lang nicht, worum es ging, aber das war egal, ich wurde ja nicht dafür benotet.15

Beim Übersetzen geht es mir darum, diese Komik des Unverstandenen, aber auch die Musikalität, den Rhythmus, den flow von Joyces Prosodie und die Sinnlichkeit des konkre­ten Wortmaterials nach­zu­er­schaffen. Meiner Meinung nach merkt man dieser Prosa ihre Herkunft aus irischen Pubs an. Veranschaulichen lässt sich das an einem kurzen Ausschnitt einer Passage im 4. Kapitel des I. Buchs, die in der Sekundärliteratur als „The Trial of Festy King“ bekannt ist, eine Art Kreuzverhör oder „hochrotkleinliche Befragung“, wie der Text sie nennt (FW 87.34):

Nicht unangetrunken, integrer Zeuge? Völlig bischoffen. Gefragt, ob’s sie schlauche, wenn er rauche? Nicht wenn er dann qualstwo huste. Abhebend auf seine Ajacxulationen in seine Crosskann Lohn, cossa? Das war Corso in cursu und wieder Korsar. Das gnädige Fräulein war, wie nicht wir bezweifeln, empfänglich dafür, wie die Yellowatte am Forx verschnitten wurde? Sie fand es esaulich, und nie sollt es mir behagen! Betreffs seiner Religion, falls eine? Das war die Bis-Sonntag-dann-Sorte. Was genau meinte er mit Strammsamenstau? Herrjemine, bloß ein Torstenbier. Und ist ein mittelklassiger Portavore vielleicht ein erböti­ges Tier? Nachts so nötig wie Kotze für einen Geschorenen. Ob er ihr Gkriegs­gewicht dtole­riert hätte? An ndem Dtag von allen Dtagen hatte er das. Linsendelly, Koks und Kilos, schreib mal Garten ohne Ganter. (FW 89.08-19)

Durch die schnelle Abfolge von Fragen und Antworten bekommt die Passage die expres­sive und dia­lo­gi­sche Qualität von Sprücheklopfern in der Kneipe, die immer noch einen draufsetzen wollen. Dass die Gesprächspartner aneinander vorbeireden, ist ebenso sekun­där wie die verhandelten Themen.

„Liederadour“16: Musik in Finnegans Wake

Finnegans Wake bringt seinen eigenen Soundtrack mit. Unmengen von irischen Volks­- und Kinderlie­dern, Gassenhauern, Straßenballaden, Music-Hall-Songs und Ope­ret­ten­arien sind in den Text verwebt. Wörtlich übersetzt, würde diese musikalische Qualität im Deut­schen oft verloren gehen. Mein Ideal ist es, dass man auch beim Lesen der Über­set­zung aufhorcht, weil Echos von Bekanntem in ihr mit­schwingen, und darum suche ich für solche Stellen motivisch ähnlich gelagerte deutsche Pendants. Aus „The Irish Jaunting Car“ (einem Song über einen Ausflug mit einer einspän­ni­gen Kutsche) kann dann „Hoch auf dem gelben Wagen“ werden, für „When Mid­night is Striking the Hour“ schreibe ich, da die genaue Uhrzeit im Kontext keine Rolle spielt, „(Hört ihr Leutʼ und lasst euch sagen) unsre Glockʼ hat eins geschlagen“, und aus dem Vers „When the myrtle of Venus joins with Bacchus’ vine“ aus „The Anacreon Song“ wird Franz Schuberts Trinklied „Bachus feister Fürst des Weins, / Komm mit Augen hellen Scheins“.

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The Irish Jaunting Car

Die Devise der Ersetzung englischen Liedguts durch deutsches kann ich allerdings nicht konsequent anwenden. Songs über irische Geschichte im Allgemeinen und den Oster­auf­stand des Jahres 1916 im Besonderen sollten den irischen Kontext behalten, denn hier wird die zeitgeschichtliche Anspielungsebene wichtiger als die musikalische.17 Der von Joyce nur wenig verfremdete Song „Shall the Harp Then be Silent?“ (FW 100.02f.) beklagt die für die irische Unabhängigkeit gefallenen Iren. Hier habe ich nicht nach einem deutschen Lied gesucht, in dem Harfen erwähnt werden, sondern recht wörtlich übersetzt: „Soll die Harfe verstummen?“. In einem glücklichen Einzelfall konnte ich allerdings bei einer verball­horn­ten Form des Songs „The Foggy Dew“ (FW 116.12) den Kontrast zwischen der natur­idylli­schen Morgenstunde und den von englischen Soldaten erschossenen irischen Rebellen rekonstruieren als „Im Frühtau zum Sterben“.

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Shall the Harp then be Silent sung

„Im Anfang war’s verworrt“ (FW 487.20f.): Im Spiegelkabinett der Kontranyme

Joyce hat der Struktur von Finnegans Wake verschiedene Model­le zugrundegelegt, darunter das von Nikolaus von Kues im Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit ersonnene und von Giordano Bruno dann weiterentwickelte Konzept der coincidencia oppositorum, also des Zusammenfalls der Gegensätze zu einer Einheit, in der die scheinbar unvereinbaren Widersprüche fusionieren. Joyce variiert dieses Konzept auf der Figurenebene (Earwicker und sein Kontrahent, der Cad, scheinen im 3. Kapitel des I. Buchs zu einer Person zu verschmelzen), projiziert es aber auch in den Mikrokosmos einzelner Wörter und Wendungen und produziert sogenannte Kontranyme oder Janus­wörter, also Ausdrücke mit gleicher Schreibweise bei gegensätzlichen Bedeutungen. Ein bekanntes Beispiel im Deutschen ist das Wort „Untiefe“, das zugleich seichte und sehr tiefe Gewässer bezeichnet. Joyce denkt sich am laufenden Meter Kontranyme aus. Manch­mal verschiebe ich die Verschreibung im Satz wie im Fall von „enjoining such wicked illth“18 und schreibe „erfreute sich pester Gesundheit“ (FW 60.08), manchmal habe ich Glück, kann auf Lehnwörter ausweichen und übersetze „ail’s well“19 als „Malaisse gut“ (FW 418.34), und manchmal gelingen komprimierte Neologismen: Die „socialights“, in denen socialites (‘Schicke­ria­typen’, ‘Salonlöwen’) und socialists amalgamiert werden, konnte ich als „Promitarier“ übersetzen (FW 32.09).

„Erbroguen Irrisch myth Brockendütsch“ (FW 70.04): Aspekte der Mehrsprachigkeit

Joyce verwirklicht in Finnegans Wake das Ideal einer universalen Kreo­li­sie­rung der Kulturen.20 Er löst ‘das utopische Versprechen einer pfingstischen Sprache’ ein, von dem die Lyrikerin Uljana Wolf in anderem Zusammenhang spricht.21 Nach jüngeren literatur­wis­sen­schaft­lichen Zählungen sind Wörter aus sechzig verschiedenen Sprachen in sein „Poly­glot­turno“ (FW 117.13) eingegangen. Dabei kann es zu Cluster-Bildungen kommen, also wie mit der Gießkanne über einzelne Seiten verteilten Ausdrücken etwa aus dem Romani (FW 56), dem Holländischen (FW 75f.) oder dem Ungarischen (FW 88), es gibt aber auch leitmotivische Wendungen wie den Satz ‘Wie geht es Ihnen, mein dunkler Herr?’, der in verschieden stark verkürzten und/oder verballhornten Formen der verschiedensten Spra­chen (Französisch, Schwedisch, Irisch, Dänisch, Rus­sisch, Latein, Esperanto, Griechisch, Italienisch und Deutsch) auftaucht. Das ist noch ver­hält­nismäßig einfach zu übersetzen, denn manchmal muss ich nur die Graphie den Transkriptionsregeln des Deutschen anpassen. Mit einem Begriff von M.A.K. Halliday habe ich es hier mit Glossodiversität zu tun22: Verschiedene Einzel­sprachen treten ‘unin­fek­tiös’ nebeneinander auf und erzeugen eine mehrsprachige Polyphonie. Von der englischen Textumgebung deutlich geschieden steht da beispielsweise der Satz „Hwoorledes har Dee det?“ (FW 54.11), der sich kaum vom dänischen Satz „Hvordan har De det?“ (‘Wie geht es Ihnen?’) unterscheidet.

Einigermaßen nachvollziehbar sind auch homophone Oberflächenübersetzungen: Ein Ire wünscht frohe Weihnachten, der Wunsch ‘with best wishes for a very merry christmas’ wird aber graphisch ‘gälisiert’: „mhuith peisth mhuise as fearra bheura muirre hriosmas“ (FW 91.04f.). In der Übersetzung habe ich den Basissatz ‘Mit den besten Wünschen für ein fröhliches Weihnachtsfest’ in eine ähnlich gälisch aussehende Formel gebracht: „Muith déan peistain bhfuinsean fúar éin frólachus Bhfaidhnoghtsfést“.23

Schwieriger wird es im Fall der von Halliday so genannten Semiodiversität, wenn Wörter oder Sätze in diesem Traumbau zu Babel24 zwischen mehreren Einzelsprachen angesiedelt werden, diese inter­agie­ren lassen und so in ihren Semiosen, in der Dynamik ihrer Bedeu­tungs­­pro­duk­tio­nen, destabilisieren. Bei Sprichwörtern etwa wirbelt der Glottophage Joyce erstens ver­schie­dene Bildwelten, zweitens mehrere Sprachen und drittens homo­graphe, aber bedeu­tungs­differente Wörter durchein­ander. Er schreibt etwa „one fellow’s fetch being the other follow’s person“ (FW 85.28f.). Darin klingt zum einen das Sprich­wort „One man’s meat is another man’s poison“ an, das dem deutschen „Des einen Freud ist des anderen Leid“ entspricht. Phonetisch erlaubt der Satz aber auch die Lektüre ‘One man’s fish is another man’s poisson’, satzintern wird also ein englischer Fisch in einen franzö­si­schen verwandelt. Hier kommt es zu dem seltenen Glücksfall, dass ich mit „Des einen Gift ist des anderen Gabe“ das translinguale Bäumchen-wechsle-Dich-Spiel des Autors fort­set­zen kann, denn das englische gift entspricht dem deutschen ‘Geschenk’ oder der ‘Gabe’, das deutsche Gift dagegen heißt auf englisch poison und hat damit graphische Ähnlichkeit mit dem französischen poisson.25

„Jedes Wort im Buch von Dopplends Riese wird auf siebenzig topaktypische Bedeutungen verpflochten“ (FW 20.14ff.): Zur Frage der Wortarten

Ein Problem beim Übersetzen aus dem Englischen ergibt sich daraus, dass form­identische Lexeme im Englischen nominal und verbal gebraucht werden können und dass das Englische außer bei Eigennamen und Wörtern am Satzanfang keine Groß­schrei­bung kennt, während Wortarten im Deutschen durch die Großschreibung von Substantiven diffe­ren­ziert werden. In dem Satz „All our fellows at O’Dea’s sages with Aratar Calaman he is a cemented brick, buck it all!“ (FW 59.23f.) gibt es auf den ersten und auch auf den zwei­ten Blick kein Verb: Nach der Stellung im Satz zu urteilen, müsste „sages“ das Verb sein, da das Satzsubstantiv „fellows“ aber im Plural steht, kann es kein Verb mit der Singular markierenden Flexionsendung „‑s“ nach sich ziehen. Auch die Annahme, Joyce habe hier einfach zum deutschen Verb ‘sagen’ gegriffen, muss ich wieder verwerfen, denn auch das deutsche Verb bräuchte die Pluralendung, also „‑en“. Der Satz geht grammatisch einfach nicht auf. Im Deutschen kann ich ähnliche Verwirrung stiften, wenn ich bewusst gegen die Duden-Regel der Kleinschreibung von Verben verstoße: Bei der Schreibung „All unsre Kollegen bei O’Dea’s Weisen mit Aratar Calaman darauf hin, dass er ein Dachpappkopp ist, Sack­zement!“ versteht die mit dem Duden groß gewordene geneigte deutsche Leserin „OʼDeas Weisen“ automatisch als ‘die Weisen von O’Dea’, und erst wenn sie lesend beim „hin“ angekommen ist, rollt sie den Satz vom Ende her noch einmal auf und versteht „Weisen“ als Verb.

„Und zu guter Erst die Weber“ (FW 313.01): Motivische Netzwerke

Das Übersetzen von Finnegans Wake ist ein mehrdimensionaler Prozess. Zum einen über­setze ich konventionell linear oder horizontal, d.h. einen Satz nach dem anderen. Zum anderen muss ich aber gewissermaßen vertikal, quer zum Text übersetzen. Finnegans Wake zeichnet sich durch ein dichtgewebtes Netzwerk variierter Motive aus. Es gibt Grundwörter und ‑wendungen, die im Verlauf des Buchs Echos bilden und in mehr oder weniger abgewandelter Form immer wieder auftauchen. Das Zürcher Frühlingsfest Sechse­läuten erscheint beispielsweise als „seeks alicence“ (FW 32.03), „saxonlootie“ (FW 58.24), „Sexaloitez“ (FW 213.19), „saxy luters“ (FW 492.14f.), „silks alustre“ (FW 528.19) usw. Ich muss im Hinterkopf behalten, dass ich das Grundwort „Sechseläuten“ im Lauf des Übersetzens mit Lizenz, Sachsen, Beute, Sex, Seide und Lüster verschmelzen können sollte. In der Regel behält Joyce die Lautfolge ‘s-x-l-t’ bei und variiert nur die Vokale. Zum Glück für mich ist er dabei nicht ganz konsequent, so dass auch ich mir begründete Abweichungen von der schematischen Vorgabe erlauben darf. Im Fall von „saxonlootie“ habe ich der Formerhaltung die Inhaltswiedergabe vorgezogen, weil mir das postkolo­nia­li­sti­sche Argument wichtig war, dass Irland nicht erst von den Engländern, sondern ab dem Jahr 795 schon von den Wikingern erobert worden, also zur „Säxebeutie“, zur ‘Beute der Sachsen’ (mit einem optischen Anklang an ‘sächsische Bestien’) geworden war.

Ich hoffe, diese Erläuterungen machen ansatzweise nachvollziehbar, was beim Übersetzen von Finnegans Wake eigentlich stattfindet, und mein Wunsch wäre, dass man mit den Wor­ten des Romans selbst irgendwann resümieren kann: „Genug habe ich jedenfalls davon gelesen [...], um im Sauseschritt der Zeiten zu verheißen, dass es die weiteste Verbreitung und einen mit seinen Meriten koextensiven Leumund erheischen wird“ (FW 356.26-28).

John Vernon Lord:'The Fall', Finnegans Wake by James Joyce.
In dem irischen Volkslied „Finnegan’s Wake“, das Joyces Romantitel zitiert, fällt ein betrunkener Maurer von der Leiter und bricht sich das Genick. Beim Leichenschmaus kommt es zur Prügelei, eine Whiskeyflasche zerbricht über dem Kopf des Aufgebahrten, der Whiskey läuft ihm in den Mund und erweckt ihn wieder zum Leben.

09.06.2023
Fußnoten
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PDF

©Sibylle Brändli

Ulrich Blumenbach lebt als Übersetzer in Basel. Er übersetzte zahlreiche Texte aus dem Englischen, von Autoren wie Stephen Fry, James Joyce, Arthur Miller, Raja Rao, Will Self, Joshua Cohen und Tobias Wolff. Für seine Übersetzung von David Foster Wallaces Infinite Jest (Unendlicher Spaß, 2009) erhielt er 2010 den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse.

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