Traumtagebuch
Zur Übersetzung von Clemens Meyers Als wir träumten
Frühjahr 2006: Der Fischer Verlag veröffentlicht Clemens Meyers Erstling Als wir träumten. Ich habe ein vierjähriges Kind in der Kita und träume davon, Literaturübersetzerin zu werden. Meyers Buch fesselt mich so, dass ich beim Lesen die Tram-Haltestelle verpasse und zu spät zum Abholen meines Kindes komme. Ich kontaktiere den Verlag und frage, ob sie eine Übersetzungsprobe für ihre Foreign-Rights-Abteilung brauchen. Jemand anderes schickt ihnen eine gratis. Die Übersetzungsrechte für das UK werden nicht verkauft.
Frühjahr 2008: Clemens Meyer gewinnt den Preis der Leipziger Buchmesse mit seiner Kurzgeschichtensammlung Die Nacht, die Lichter. Ich liebe sie und wieder übersetze ich ein paar Geschichten, um sie Zeitschriften anzubieten. Ohne Erfolg.
Herbst 2009: Eine Kollegin gibt meine Kontaktdaten an einen Journalisten vom Guardian weiter, der eine Reihe europäischer Kurzgeschichten herausgeben möchte. Er sucht sich „Von Hunden und Pferden“ aus, eine meiner liebsten. „Of Dogs and Horses“ ist Clemens Meyers erste Veröffentlichung auf Englisch und ein echter Glücksfall; der Guardian veröffentlicht eigentlich keine Literatur, und übersetzte schon gar nicht.
Sommer 2011: And Other Stories veröffentlicht meine Übersetzung von Die Nacht, die Lichter. Der Titel kann nicht 1:1 übersetzt werden, da er sich reimen würde; während ich mich durch das Buch arbeite, kommt mir der Titel-Einfall: All the Lights. And Other Stories ist ein neuer Verlag, den ein mir bekannter Übersetzerkollege als Gemeinschaftsprojekt gegründet hat. All the Lights gehört zu ihren ersten beiden Titeln. Clemens und ich werden zum Internationalen Buchfestival nach Edinburgh eingeladen; ich bin sehr nervös, aber alles läuft gut. Wir enden in einigen Pubs; ich lerne Whisky schätzen, und Clemens macht Bekanntschaft mit einem ehemaligen Matrosen, der uns von indonesischen Ladyboys erzählt. Clemens ist jemand, der andere Menschen im Pub kennenlernt. Wir sind jetzt Freunde.
Herbst 2017: Fitzcarraldo Editions veröffentlicht meine Übersetzung von Im Stein. Wieder sperrt sich der Titel einer einfachen Übersetzung: Aus Im Stein wird Bricks and Mortar. In einem Londoner Pub, in dem es verboten ist zu fluchen, was wir natürlich ignorieren, erzählt uns der Verleger Jacques Testard, er wolle alle von Clemens Büchern machen.
Frühjahr 2020: Jacques zieht die Sache durch und bringt meine Übersetzung von Die stillen Trabanten heraus, wieder Kurzgeschichten. Direkt übersetzt würde der Titel wie ein Song von Alanis Morissette klingen, wir entscheiden uns für Dark Satellites. Das passt.
Frühjahr 2021: Clemens und ich überzeugen Jacques, dass er mich Als wir träumten übersetzen lässt. Ich lese das Buch noch einmal, und es hat nichts von seiner Kraft verloren; wieder verpasse ich meine Haltestelle.
While We Were Dreaming: Der Roman spielt in Leipzig, vor und nach 1989. Der Erzähler, Dani, ist nicht sehr verlässlich, doch wahrscheinlich ist mehr Verlass auf ihn als auf spätere von Meyers Figuren. Er und seine Freunde wachsen zusammen auf, und wenn sie anfangs in der Schule nur ein paar Tischtennisbälle klauen, so betreiben sie später einen illegalen Techno-Club und dealen mit Drogen. Der Aufbau ist nie chronologisch, sondern immer bewusst verwirrend. Erzählt werden ganz gewöhnliche ostdeutsche Lebenswege; einige der Figuren sitzen im Gefängnis, andere nicht, einige haben Suchtprobleme. Der Roman hat nicht die Absicht, irgendetwas zu erklären, und beschuldigt für Sachen, die mit den Jungs passieren, nicht das System. Ich finde, er liest sich wie das literarische Testament gelebter Leben. Andreas Dresen und Wolfgang Kohlhaase verdichteten die Figuren und den Plot zu einem Film, den ich großartig fand. Was Buch und Film gemeinsam haben, sind die Gewalt, die tranceartigen Szenen und die Zuneigung zwischen den Figuren. Die übersetzen, habe ich immer gewollt.
Sommer 1996: Ich habe meinen Abschluss als Germanistin im UK gemacht, schenke mir aber die Abschlussveranstaltung und ziehe direkt zurück nach Berlin, zu meinem damaligen Freund nach Friedrichshain. Wir wohnen zusammen in seiner Einraumwohnung mit Kachelofen; die Kohle müssen wir aus dem Keller holen, rechteckige Briketts, die in metallenen Trägern gestapelt werden, schleppen je einen Träger in jeder Hand. Wenigstens hat die Wohnung ein Bad. Mein Freund macht eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner. Er kauft seine Drogen von seinen Freunden G. und B.; sie machen eine Kochausbildung und kennen sich von der Arbeit.
Obwohl B. eine eigene Wohnung hat, ist er bei G. eingezogen, da sie zusammen zwei Plattendecks und einen DJ-Mixer besitzen. In einer Ecke des Raums steht ein Doppelstockbett, dann sind da noch ein braunes Kunstleder-Sofa und ein langer Tapeziertisch mit den Decks darauf und den Platten darunter. Wir verbringen viele Nachmittage bei ihnen, trinken Dosenbier und rauchen Joints, während sie das Abspielen von Techno-Platten üben. Sie erzählen uns davon, wie sie früher auf der Arbeit einmal eine Bong aus einem langen weißen Rettich geschnitzt haben. Ihr Plan war es, gegenüber vom Restaurant eine Techno-Nacht aufzuziehen. B. hat seinen eigenen Graffiti-Tag und eine jüngere Schwester. G.s Vorderzähne werden langsam schwarz und faulen weg; mein Freund sagt, das sei, weil er sich nicht mehr die Zähne putzt. Ich höre auf zu kiffen – die deutschen Drogen sind viel stärker als das, was ich gewohnt bin, und wenn ich gekifft habe, kann ich nicht mehr Deutsch sprechen. Das wird schnell langweilig. Als mein Freund mich verlässt, bietet B. an, mir seine Wohnung unterzuvermieten und ich ziehe dort ein; da gibt es ein Klo aber keine Dusche, und ein paar Wochen später ziehe ich wieder aus, als er immer mehr Briefe wegen Mietrückständen bekommt. Meine nächste geteilte Wohnung hat eine Dusche in der Küche; die Toilette ist auf halber Treppe. Wieder Kohlentragen über fünf Stockwerke.
Architektur: Wie werden sich die Leser·innen die Gebäude vorstellen, in denen die Romanfiguren leben? Bei der Durchsicht des Lektorats wird mir klar, wie schwer es wird, dass die britischen Leser·innen nicht ihre eigenen Vorstellungen auf Meyers Leipzig übertragen. Werden sie verstehen, dass dies Mietshäuser mit gemeinsamen Treppenhäusern und Kellern sind und nicht Reihenhäuser mit viktorianischen Vorbauten oder moderne Wohnblöcke? Im Lektorat passen wir einige Stellen an und liefern möglichst unauffällig Details zu den Räumlichkeiten, damit nachvollziehbar wird, dass eine der Figuren im Kohlenkeller weint oder jemand in der Küche duscht. Letztlich bin ich aber froh über den traumähnlichen Erzählstil des Autors, durch den es weniger schlimm ist, wenn meine Leser·innen sich nicht genau zurechtfinden.
Winter 1999: Ich treffe eine Frau namens L., die aus Leipzig stammt. Sie ist ein paar Jahre jünger als ich, hat eine Ausbildung abgebrochen, da sie mit 18 oder 19 ihr erstes Kind bekam, und geht jetzt zur Abendschule, um einen Abschluss zu machen. L. erzählt mir, wie sie früher die Schule schwänzte, in die Bibliothek ging und dort Bücher über die amerikanischen Erstbewohner las. Oder sie ging nach Connewitz und hing mit den Leuten in den besetzten Häusern herum. Um die Zeit kenne ich in Ost- und in Westberlin Leute, die in besetzten Häuser wohnen und gehe oft zu Konzerten in ihren Bars. Die besetzten Häuser im Westen waren älter und sauberer, hatten Infrastruktur wie Türklingeln und Pizzaöfen; die in Ostberlin waren dunkel, provisorischer. Punks stehen davor und betteln, bringen mich zum Lachen, wenn sie sagen, sie brauchen Geld für Bier und Drogen. Wer ein Gefühl für diese Orte bekommen möchte, von denen es die meisten nicht mehr gibt, sollte ins Supamolly in Friedrichshain gehen. Das schaue ich mir für das Kapitel, in dem Dani nach Connewitz geht, vor dem inneren Auge an.
Subkulturen: Die Jugendlichen im Buch sind ganz normale Kinder aus der Arbeiterklasse, gehören nicht irgendeiner Subkultur an. Politik ist ihnen egal; sie interessieren sich für Alkohol, Drogen, Techno und Sex. Doch sind sie von Subkulturen umgeben, von Kirchengängern vor dem Mauerfall bis hin zu Nazi-Skins auf der Rollschuhbahn und Zecken in den besetzten Häusern danach. Hippies, Punks und Besetzer werden Zecken genannt – mit all den parasitischen Assoziationen, die der Begriff auslöst. Es gibt eine Oi-Punk-Band mit dem Namen Zeckenterror, aber im UK gab es kein vergleichbares Wiederaufkommen von Hausbesetzern und Old-school-Punks wie in Deutschland nach 1989. Wie kann ich den Begriff Zecken übersetzen und den Aspekt einer dreckigen Subkultur bewahren? Die britischen Crusties waren nicht vergleichbar – doch gab es sie im UK in den 1990ern und viele Leute haben sie gehasst, also muss der Begriff herhalten.
Sommer 1992: Ich bin gerade mit der Schule fertig, arbeite als Aupair in Berlin und kenne niemanden außer der sehr reichen Familie, die mich engagiert hat; wir kommen nicht gut miteinander aus. Doch abends und am Wochenende erkunde ich die Stadt, und während ich am Nollendorfplatz auf den Nachtbus warte, lerne ich N. und einen Freund von ihm kennen. Sie sind ein, zwei Jahre älter als ich und hören Psychobilly. Sie bieten mir etwas von dem an, was sie trinken: eine Flasche Apfelkorn. Das Zeug brennt und schmeckt nach künstlichem Apfelaroma. N. und ich telefonieren ein paar Mal miteinander, hängen ein Mal am Breitscheidplatz ab und schlagen Schimpfwörter im Wörterbuch nach. Vermutlich ist das nichts, was N. großen Spaß macht, und er ruft nicht mehr an. Aber einmal gehen wir aus, in den Knaack Club im Prenzlauer Berg, ein düsteren Bau mit rot-brauner Fassade, vor dem wir zunächst abhängen und eine Flasche Apfelkorn leeren; N. schiebt die Flasche dann durch ein leicht geöffnetes Fenster eines in der Nähe geparkten Trabis. Ich verabschiede mich bald – N.s irgendwie-Freundin kommt zur Sprache und er erzählt mir, sie sei am Ende, sei in Pflege, sei erst sechzehn und er glaube, dass er sie liebt. Als ich am Alex auf den Nachtbus warte, hält neben mir ein Auto voll junger Männer, die mir anbieten, mir zu einem tollen Abend zu verhelfen. Ich sage nein danke, und das scheint ihnen nichts auszumachen.
Wodka, Korn oder Brandy: Schon früh beginnen unsere Helden damit, Korn zu trinken – Apfelkorn, um genau zu sein. In dem Roman wird überhaupt viel und oft getrunken, der Erzähler spricht dann einfach von Schnaps. Aber was die Figuren trinken, verrät uns etwas über sie: Apfelkorn ist ein apfeliges Getränk für Jugendliche und alte Damen, es ist süß und knallt ordentlich – auch wenn es nur halb so stark ist wie andere Alkoholika. Später wechseln unsere Helden zu Bier und hochprozentigem Korn, oder Wodka oder Brandy, oder speziellen Ost-Cocktails mit Brandy, Korn, Jägermeister und Orangensaft. Ich denke eine Zeitlang darüber nach, Korn durch Wodka zu ersetzen: Schließlich werden beide aus Getreide gebrannt und meine Leser·innen hätten eine Referenz, mit der sie etwas anfangen können. Eine zum Zeitvertreib auf Twitter durchgeführte Befragung beschwört eine Flut von Einwänden herauf – etwas, das die Deutschen einen Shitstorm nennen würden. Nein, nein, nein, erklären mir wildfremde Menschen, Meyers Figuren würden niemals Wodka trinken, immer nur Korn. Ich bin beleidigt; wenn irgendjemand sein Werk kennt, dann ich. Doch dann entscheide ich, dass die Herkunft der Figuren ein wesentlicher Bestandteil des Romans ist, und ihre Getränkevorlieben zu verändern, nur um es meinen Leser·innen einfacher zu machen, würde ihnen unnötigerweise etwas nehmen. Sie trinken Korn; so sei es.
Die Schnaps-Frage ist schwieriger: Im Deutschen wird das Wort umgangssprachlich für alles benutzt, dass man aus einem „Schnapsglas“ trinkt. Die korrekte Übersetzung wäre spirits (Spirituosen), aber hat das irgendjemand mal in einem Gespräch gesagt? Und das englische schnapps ist etwas anderes, ein Likör mit Pseudo-Pfirsichgeschmack für Jugendliche und alte Damen. Ich löse das Problem, indem ich entscheide, was bestimmte Figuren trinken und führe eine Liste. Der Trinker-Thilo ist ein Wodka-Mann; Danis Mutter trinkt am liebsten Brandy. Die Jungs selbst werden für Korn irgendwann zu alt und wechseln zu Whiskey oder Wodka, aber das ist im Text schon so angelegt.
Kinderspiele: Ich hatte das Eröffnungskapitel schon vor vielen Jahren übersetzt, machte es nun aber noch einmal, da ich weiß, dass ich heute eine bessere Übersetzerin bin. Der Titel „Kinderspiele“ (wortwörtlich „Children’s Games“) wird zu „Child’s Play“ – ich weiß jetzt, dass ich mir bei der Bedeutung zugunsten des Klangs Freiheiten erlauben darf, und ich weiß, welchen Sound Clemens Schreibe bei mir haben soll: gewagt, gewitzt, melancholisch. Am Anfang des Romans erinnert sich der Erzähler an die gute alte Zeit – das tut er irgendwo anders, vielleicht im Gefängnis, vielleicht im Krankenhaus; er ist offensichtlich beeinträchtigt. Er und seine Freunde waren fünfzehn, die Mauer fiel und sie nahmen Kontakt zum Westen auf, in Form von Holsten Pilsener und Jägermeister, Spritztouren auf Pillen, Autoskaputtfahren und am nächsten Morgen direkt von der Polizeiwache zur Schule gehen. Hier hören wir erstmals den Ton, lernen die Figuren kennen, bemerken die Unzuverlässigkeit des Erzählers. Für mich sind diese Jugendlichen N. und seine irgendwie-Freundin, G. und B. und L. Sie haben Träume und verknallen sich auch, aber meistens wird nichts draus. Ich möchte ihnen gerecht werden. Den richtigen Ton zu treffen, ist das Schwierigste daran.
Danny und Mike: Zwei Namen bereiten mir von Anfang an Kopfzerbrechen: der des Erzählers Dani und der eines anderen Jugendlichen namens Maik. Im Schriftbild unterscheiden sich beide stark von den englischen Äquivalenten: Dani ist im Englischen ein Mädchenname, und Maik ist im Englischen nur eine zufällige Aneinanderreihung von Buchstaben – ironischerweise ist es einer der ostdeutschen Vornamen, die weit entfernte Gefilde heraufbeschwören, wie bei Rico, der auch im Text vorkommt; bei Maik handelt es sich um eine erfundene Schreibweise von Mike. In meiner Übersetzung von Im Stein (Bricks and Mortar) habe ich aus ähnlichen Gründen den Namen einer Figur verändert. In diesem Roman möchte ich die beiden Danny und Mike nennen – Danny ist ein klassischer Name für einen männlichen Helden. Ich denke an Danny the Champion of the World, einen weiteren Jugendlichen mit großen Träumen. Außerdem hat auch ein Kind in meiner Klasse Danny geheißen. Ich mache eine Online-Recherche zu ihm: ein Treffer auf der Website eines Amateur-Snookerspielers. Das passt, und Clemens gibt sein Einverständnis, sagt aber auch, dass Maik Maik bleiben muss. Clemens hat Recht, der Name ist zu ungewöhnlich, um geändert zu werden.
Boxen: Eines meiner Lieblingskapitel, das mir nach dem ersten Lesen noch über Jahre in Erinnerung geblieben war, das ich zuvor aber nie zu übersetzen gewagt hatte, ist „Die großen Kämpfe“. Danny und Rico schauen sich in einer Bar im Fernsehen einen Boxkampf an, während Danny sich an Ricos große Chance im Boxring erinnert, bevor es mit ihm bergab ging, bevor er mit den Drogen anfing. Stimmig übers Boxen zu schreiben ist schwer; man muss schnell und schlagfertig sein, den Schmerz muss man fühlen, den Schweiß riechen. Und hier benutzt Meyer erstmals eine Technik, die er immer weiter perfektioniert: zwei Szenen miteinander verschränken, uns verwirren, den Rhythmus steigern, bis uns die Wörter um den Kopf schwirren und Zeit keine Bedeutung mehr hat. Ich liebe das. Doch habe ich auch einen Riesenrespekt davor, diese Stellen zu übersetzen.
Es ist der Kampf von Henry Maske gegen Rocky Graciano – den gibt es auf YouTube. Ich finde ein Video mit amerikanischen Kommentatoren und stehe vom Schreibtisch auf, schaue es mir am Küchentisch an. Ich versuche Notizen zu machen, ohne viel auf Pause zu drücken, will das Tempo halten. Ich bin nicht gut vorbereitet, habe nur kleine Zettel für Einkaufslisten, circa 5x5 cm, und einen dieser kurzen IKEA-Bleistifte. Das macht es nur noch aufregender. Ich notiere Satz für Satz, Schlagwort für Schlagwort: trailing slightly (leicht zurückliegen), watch your head (seinen Kopf decken), pulled into brawl (in die Nahdistanz gehen), outside shot (Außenschwinger), go to the body (auf den Körper gehen), going underneath the jab (unter die Führhand kommen), do not wanna be on the outside (will mich nicht abdrängen lassen), can’t sustain attack (muss die Attacke abbrechen), good left uppercut stuns Henry Maske (guter linker Uppercut bringt Henry Maske zu Fall), the eyes are starting to look very bad (die Augen sehen langsam schlimm aus)… Ein Geschenk des Himmels. Das Video sehen und Notizen machen, fühlt sich für mich auch wie ein Kampf an, und nachdem ich das vom Erzähler beschriebene Originalmatch gesehen habe, verstehe ich genau, was passiert. Ich frage mich, ob Clemens ebenso vorgegangen ist.
Fluchen: Beim Lektorat von Bricks and Mortar haben die Leute vom Verlag und ich das Fluchen noch ordentlich hochgefahren. Deutsche Schimpfwörter wirken so zahm, und diese Jugendlichen würden im Englischen mit dem F-Wort wahrscheinlich um sich werfen wie mit Konfetti. Aber der Roman erzählt die Geschichte nicht chronologisch; er springt vor und zurück, manchmal wissen wir, dass eine Figur sterben wird, irgendwann aber nicht jetzt, manchmal hören wir den Nachhall vergangener Ereignisse, von denen wir aber noch nichts gelesen haben. Ich möchte, dass die Sprache der Figuren sich, während sie älter werden, leicht verändert, von kindlichem zu jugendlichem Geprotze bis hin zu altgedientem Machismus. Das Fluchen, so denke ich mir, sollte einer Kurve folgen: Für die Jugendlichen muss es gewagt sein, fast beängstigend, so böse Wörter zu benutzen, dann fällt die Mauer und das System um sie herum kollabiert, Schimpfwörter sind normal und allgegenwärtig, werden im Erwachsenenalter allerdings wieder etwas seltener benutzt, nur zu besonderen Hervorhebungen. Das ist schwierig, weil ich sie selbst anders verwenden würde, während ich beim restlichen Text ganz meinem Instinkt folgen kann; ich muss mich also hinsetzten und aufschreiben, wie alt die Figuren in jedem Kapitel sind, und ich muss Wörter finden, die derber als die deutschen klingen.
Sommer 1989: Ich bin sechzehn und bin in den Sommerferien bei uns im Stadtteilzentrum Teamerin bei einer Freizeit für Kinder aus obdachlosen Familien. Sie sind nicht viel jünger als ich, aber sie haben ein hartes Leben. Wir holen sie von Hostels und B&Bs in der Umgebung ab, mit einem Minibus, der von meiner Chefin gefahren wird, wahrscheinlich der ersten jungen Deutschen, die ich kennenlerne. Wir bieten dann einige Unternehmungen an, damit die Kinder nicht den ganzen Tag mit ihren Familien in dem einen Raum verbringen müssen. Von der Zeit an arbeite ich fast in jeden Ferien mit Kindern und Jugendlichen. Dies sind wahrscheinlich die am wenigsten schwierigen Kids, mit denen ich je zu tun hatte; sie sind dankbar, bei uns zu sein. Eine der wichtigsten Fertigkeiten, die ich hier lerne, ist es, Streitfragen beim Billard zu klären. Ich selbst bin keine Billardspielerin, aber ich lerne die Regeln, um Streitereien zu verhindern. Das ist nützliches Teamerwissen.
Billard: Im Roman gibt es ein langes Kapitel über eine Beerdigung, gefolgt von einem Billardspiel, bei dem es zu einem schweren Bruch in der Freundschaft zwischen den Jugendlichen kommt. Doch anstelle der roten und gelben Kugeln, wie ich sie kenne, liegen auf dem Billardtisch bunte Kugeln mit Nummern. Meine Recherchemöglichkeiten haben ihre Grenzen und ich komme nicht weiter – ich verstehe das Spiel nicht gut genug, um es konsistent zu beschreiben; die Jugendfreizeiten sind zu lange her. Da erinnere ich mich, dass ich einmal ein Treffen mit einem befreundeten Übersetzer in einer Billardhalle hatte, für einen Absacker. Es stellt sich heraus, dass Tim Mohr sich mit Billard hervorragend auskennt, wenn auch eher mit den amerikanischen Begriffen als den britischen. Ich bin ihm sehr dankbar für seine Durchsicht des Kapitels, die mir das nötige Zutrauen gibt, um das endlose Herumgeschiebe von Versatzstücken zu beenden und frei zu formulieren.
Frühjahr 2023: Das Buch erscheint im UK am 30. März. Schon zwei Wochen davor steht es auf der Longlist für den Internationalen Booker Prize. Clemens und ich träumen, dass wir ihn kriegen.