Dazwischen
Journal zum Übersetzen des Gedichtbandes »Tagesgedichte« von Miljana Cunta im Tandem mit Matthias Göritz
Zum Übersetzen der »Tagesgedichte« von Miljana Cunta. Im Tandem mit Matthias Göritz. Erschienen im Dezember 2022 bei der Edition Thanhäuser mit Kirschholzschnitten von Christian Thanhäuser. Die Übersetzungen sind im Zeitraum zwischen dem Sommer 2020 und dem Herbst 2022 entstanden, das Übersetzungsjournal zwischen dem Sommer 2022 und dem Januar 2023, vor allem in zwei Phasen – vor und nach dem Treffen des Netzwerkes Lyrik in Dresden Ende Oktober 2023, wo ein erster Entwurf des Journals im Gespräch mit Alida Bremer vorgestellt und auch einige Gedichte vorgetragen wurden.
Die slowenische Dichterin Miljana Cunta wurde 1976 in Šempeter pri Novi Gorici an der italienischen Grenze geboren und zog 1995 nach Ljubljana, wo sie Vergleichende Literaturwissenschaft und Englisch studierte. Sie war Programmdirektorin des Vilenica und des Fabula Festivals, Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Englischen und Italienischen. Seit 2022 ist sie freischaffende Künstlerin. Bisher sind drei Gedichtsammlungen von ihr erschienen: „Zur Hälfte des Himmels“ (Za pol neba, 2010), „Tagesgedichte“ (Pesmi dneva, 2014) und „Licht von Draußen“ (Svetloba od zunaj, 2018). Ihre Gedichte wurden in acht Sprachen übersetzt.
Amalija Maček
»Die Poesie ist eine Tochter der Erinnerung«, sagte der slowenische Dichter Milan Dekleva bei einer Lesung anlässlich des Erscheinens seines zweisprachigen Bandes »Die Schnittmenge der Schönheit«. Auch Miljana Cuntas Poesie ist eine Tochter der Erinnerung, noch konkreter: eine Enkeltochter, die sich an ihre Großmutter erinnert. Im Gedichtband „Tagesgedichte“ verdichtet sie Bilder aus ihrer Kindheit, die sie mehr als zwanzig Jahre in sich trug und immer wieder versuchte, in Worte zu fassen – mal als Romanentwurf, mal als Kurzgeschichte, mal als Gedicht in kurzen Versen. Erst als sie eine Anthologie slowenischer Prosadichtung las, erkannte sie in dieser Gattung die Form, die ihr entsprach. Während ihrer ersten Schwangerschaft arbeitete sie jeden Tag zwei Stunden im Café des alternativen Kulturzentrums Kino Šiška an diesen Texten; das Manuskript entstand innerhalb weniger Monate. Schwangerschaft wie auch Kindheit sind Zustände des Träumens, des Lauschens und der Versunkenheit in den eigenen Körper.
Es handelt sich um eine dichterische Suche nach einer fast architektonischen Erzählstruktur. Nach drei einleitenden Gedichten, die eine Art Rahmen bilden, damit verständlich wird, dass wir es mit einem kleinen Mädchen und ihrer Großmutter, einer Schneiderin in einem alten Haus zu tun haben, folgen Gedichte zu den Tagesstunden. Der Zyklus beginnt um sechs Uhr morgens und endet um fünf Uhr früh am nächsten Tag. Von Alba zu Alba, sozusagen. Das kleine Mädchen besucht die alte Frau, sieht ihr bei der Arbeit zu, geht mit ihr ans Meer, schläft und träumt an ihrer Seite, spürt aber auch ihre Todesangst. Das Be- und Verkleiden spielt eine wichtige Rolle in den Texten, wie auch Ängste und Warnungen. In den Gedichten stockt die Stimme, auch der Schritt, alles kommt zum Stillstand, sogar die (Lebens-) Zeit, obwohl die Stunden fortschreiten.
6:00
Jutro je svetli smeh bele neveste, ukinja žalost zapuščenih teles.
Ulica s sebe spira sajast hrup, le še vijugavi povratki proti
domu ostajajo od noči. Stara hiša se okorno izvija iz obleke
teme, nakazana svetloba že razkriva gube sten. Hišna številka
je edino, iz časa izvzeto znamenje začetka. Večno mlada se
prebuja v novi dan. Tam blizu, tam daleč, v votlem kotu stare
hiše globoko diha sobica svoj mir. V ta prostor vstopam otrok
in z jezikom, ki ga še ni. Ker ni predmetov, so odtisi spomina,
ki drsi. Kot ko nihče ne posluša, kot ko nikogar ne skrbi –
zaslišim razvezati se glas. Prva molitev je kakor razprta dlan
in v simetričnem prostoru darovanja se strnjeno nalaga
upanje. Sem pa tja le spotik ob pozabljeni besedi, opotekav
priklic izgubljenega, in naprej, do neizogibnega tako je. Postarano
telo je zgolj ena od reči, ki prebivajo ta zgodnji čas, vse
bolj upognjeno, vse bolj proti skrivnosti. Enako je negibno
kot prižgana lučka, ki počasi izgublja svoj namen.
6 Uhr
Der Morgen hat das helle Lachen einer Braut in Weiß; er
vertreibt die Traurigkeit der verlassenen Körper. Die Straße
wäscht den Ruß des Lärms von sich ab, und alles, was von
der Nacht übrigbleibt, sind gewundene Heimwege. Ungelenk
befreit sich das alte Haus aus dem Gewand der Dunkelheit,
das sich andeutende Licht lässt bereits Falten in den Wänden
erkennen. Die Hausnummer ist das einzige, von der Zeit
verschonte Zeichen des Anfangs: ewig jung erwacht sie in
den neuen Tag. Ganz in der Nähe, weit weg, in einer hohlen
Ecke des Hauses, atmet das kleine Zimmer in langen, tiefen
Atemzügen in Frieden. Ich betrete diesen Raum als Kind, mit
einer Sprache, die es noch nicht gibt. Es gibt keine Gegenstände,
nur die Spur der Erinnerung, die gleitet und gleitet.
Als ob niemand zuhört, als ob es niemanden kümmert, höre
ich den Klang einer Stimme, die sich loslöst. Das erste Gebet
wie eine geöffnete Handfläche, auf der sich die Hoffnung
kompakt in einem symmetrischen Raum der Hingabe stapelt.
Hin und wieder verursacht ein vergessenes Wort ein Stolpern,
ein Schwanken, um das Verlorene wiederzufinden, und dann
geht es weiter, bis zum unvermeidlichen Amen. Der gealterte
Körper ist nur eines der Dinge, die dieser frühen Morgenstunde
innewohnen, immer gebeugter, immer mehr dem
Geheimnis zugeneigt. So unbeweglich wie eine eingeschaltete
Lampe, die langsam ihren Zweck verliert.
Zwischen halbgeschlossenen Augenlidern, die wie mediterrane Jalousien das Licht und die äußeren Eindrücke filtern und mit inneren Fantasiebildern vermischen, fließen das Mädchen und die alte Frau als Gestalten ineinander, verschmelzen nicht nur miteinander (»und nur wir zwei wissen, wer wer ist«), sondern vereinen sich auch mit dem Haus (»wir sind mit dem Haus verwachsen«). Es entsteht das mächtige Bild eines Körper-Hauses oder eines Haus-Körpers (»durch die Poren des Hauses dringt«), des nach Innen und nach Unten-Gehens. Dieses in die Tiefe gehen bildet den Kern der Poetik von Miljana Cunta, die von einer Transzendenz beseelt ist, die selten ist in der zeitgenössischen slowenischen Lyrik. Es gehört zu den Paradoxien der postsozialistischen slowenischen Literatur, dass vor allem Autoren und Autorinnen, die als Kinder überzeugter Kommunisten nichtreligiös erzogen wurden, nach der staatlichen Unabhängigkeit Sloweniens die Transzendenz, oft in der Form einer christlich inspirierten Mystik für sich entdeckt und auch öffentlich zur Schau gestellt haben, während die christlich Erzogenen in Zeiten des aufkommenden Turbokapitalismus eher davon abkamen oder sich ihres Glaubens schämten.
12:00
Dolga lestev kot urin kazalec se dviga in naznanja, da prihaja
novi red. Svetloba je mogočen plašč tujstva, ki bo zajel najina
zaslepljena pogleda. Od daleč slutiva glasove, ki rastejo proti
nama, podjetno in neustrašno. Dolge sveče rok že prižigajo
tolažbo. Prepleskale bodo počivališče, prezračile omare, oprale
posteljnino, pogrnile mizo in blagoslovile pohištvo. Od
hvaležnosti se stisneva v kot in sva majhni kakor neodkrita
smet in tihi kakor ugasnjen lestenec. Priredili bodo zabavo,
da proslavimo preureditev, a zraščeni s hišo ne moreva stran.
Noge, daljše, vse bolj čudno mehke, vse bolj mučno prožne
poglabljajo pripadnost, se zapletajo v koreninasto zaroto,
s prsti zatipajo usta globin. V mešanju časov hlad vrtinčasto
narašča, vdihnem drug dih, namesto svojega zatipam drug
obraz, v čudno sključenem telesu sem – a kot da se privajam.
Kot da se vidim stopati navzdol, v temo kleti, končno pripravljena,
da slišim svoj utrip. Napočil je čas za slovo. Zdaj zdaj
zapustijo naš dom; zadovoljni z izgledom, a z nepojasnjenim
občutkom malodušja se spustijo po lestvi, tik preden hiša
vzame vase preostanka sprepletenih teles.
Mittag
Wie der Zeiger einer Uhr erhebt sich die lange Leiter und
verkündet die Ankunft einer neuen Ordnung. Das Licht ist
ein mächtiger Mantel der Fremdheit und wird unsere geblendeten
Blicke einfangen. Aus der Ferne hören wir Stimmen,
die sich uns nähern, unternehmungslustig und furchtlos.
Schon spenden die langen Kerzen der Arme Trost. Sie werden
den Rückzugsort des Wohnzimmers neu streichen, die
Schränke auslüften, das Bettzeug waschen, den Tisch decken,
die Möbel segnen. Aus Dankbarkeit verziehen wir uns in
eine Ecke und sind so klein wie ein Stück unentdeckter
Müll, still wie ein erloschener Kronleuchter. Man wird ein
Fest organisieren, um das neue Arrangement zu feiern, aber
wir sind mit dem Haus verwachsen und können nicht fort.
Unsere Beine, länger und immer seltsamer weich, schmerzhafter
biegsam, vertiefen die Verbindung, verheddern sich in
eine Wurzelverschwörung, die Zehen berühren den Mund
eines Abgrunds. In der Vermischung der Zeiten nimmt die
Kälte wirbelnd zu; ich atme den Atem eines anderen ein,
berühre ein Gesicht, das nicht das meine ist, bewohne einen
Körper, der seltsam verbogen ist – aber es ist, als ob ich mich
daran gewöhne, als ob ich mich in die Dunkelheit des Kellers
hinabsteigen sehe, endlich bereit, meinen eigenen Puls zu
hören. Die Zeit des Abschieds ist gekommen. Sie sind dabei,
unser Haus zu verlassen. Erfreut über das Renovierte, aber
mit einem unerklärlichen Gefühl der Niedergeschlagenheit,
steigen sie die Leiter hinunter, kurz bevor das Haus den Rest
der ineinander verschlungenen Körper aufnimmt.
Man kann Miljana Cunta als Dichterin mit einem Satz von Matthias Göritz auch so charakterisieren: »Sie meint es ernst.«
Die Übertragung
Die Arbeit an der Übersetzung dieses Gedichtbandes verlief langsam, nach und nach, was für mich die einzig akzeptable Arbeitsweise beim Übersetzen von Gedichten ist. Da die Texte von Miljana Cunta extrem dicht sind, kam es mir manchmal nach Monaten der Arbeit so vor, dass dort bestimmte Bilder hervortraten, die ich noch nie gesehen zu haben glaubte, obwohl ich die Gedichte seit Jahren kannte.
Was sich kaum angemessen übertragen lässt beim Übersetzen aus dem Slowenischen ins Deutsche, ist die grammatische Form des Duals, eine archaische Form, bei der die Verben, aber auch die Adjektive und Substantive bestimmte Endungen annehmen können, wenn es sich nur um zwei Personen handelt, die sich vom Plural unterscheiden. Das verleiht dem Slowenischen eine einzigartige Möglichkeit, Zweisamkeit Intime, auszudrücken. In unserem Fall ist an den slowenischen Pronomen, Verben und Adjektiven sofort ablesbar, dass es sich um zwei Frauen handelt, was man im Deutschen nicht wiedergeben kann, ohne dass es bei manchen Gedichten, läse man sie ohne Kontext, erotisch konnotiert wäre.
Von den unübersetzbaren Worten möchte ich eins hervorheben – das Adjektiv „priprto“ oder als Verbform „pripreti“. Im Deutschen könnte man es etwa als halbgeschlossen, halboffen, als angelehnt usw. übersetzen und es funktioniert im Slowenischen wie im Deutschen als Attribut sowohl für Augenlider als auch für Türen. Das slowenische Wort hat für mich allerdings noch etwas Behutsameres an sich, etwas Zärtliches, das ich weder erklären noch übersetzen kann.
17:00
V času dneva, ki ga zamenjujejo za noč, v brenčanju sopare,
skozi priprta vrata sobe otrok gleda brezčasje sprehajati se
po dolgih hodnikih hiše. Prostor je izpraznjen vseh odvečnih
šumov, le korak v čisto svojem, mehkem ritmu meri čas. Tiho
mora biti, da ne zmoti usodnih premišljevanj. Od zadrževanja
diha se mu vrti v glavi in pred očmi je vedno več temin.
Glas, ki ga zgrabi za lase in ga z odločnim potegom dvigne na
površje, je zelen in diši po vlažnih gozdnih tleh.
Namesto oči, od priklicevanja živih in sijočih, otrok zagleda
ozko potko skoz vinograd, po kateri majhni koraki drobijo
svoje hrepenenje po neznanem. Vstopi v ta drobceni korak,
in ravno pravšen je, zdaj gresta skupaj, zliti v trdoživ bron
sredi ugaslega ognja iniciacije, lahkotni kot otroštvo prideta
do svojih dreves na skrajnih robovih prostranih jas. Popoldan
zdrživa, rokoborca brezčasja, dolg sprehod skozi ujeti svet.
5 Uhr
Zu der Tageszeit, die man oft mit der Nacht verwechselt, beobachtet
das Mädchen in der sirrend feuchten Luft durch die
leicht geöffnete Tür, wie die Zeitlosigkeit durch die langen
Korridore des Hauses streift. Der Raum ist von überflüssigem
Geräusch befreit; nur Schritte mit einem ganz eigenen, sanften
Rhythmus messen die Zeit. Sie muss ruhig sein, um die
schicksalhaften Gedanken nicht zu stören. Ihr ist schwindelig,
weil sie den Atem anhält, und vor ihren Augen taumeln immer
mehr Schatten. Die Stimme, die sie an den Haaren packt
und mit festem Ruck an die Oberfläche hebt, ist grün und
riecht nach feuchtem Waldboden. Anstelle lebhafter Augen,
die von der Anrufung der Tiere strahlen, sieht das Mädchen
einen schmalen Pfad durch den Weinberg, auf dem sich klitzekleine
Schritte nach dem Unbekannten sehnen. Sie tritt in
diese winzigen Stapfen und genauso ist es richtig; jetzt gehen
sie zusammen, verschmolzen zur festen Bronze inmitten
erloschener Feuer der Initiation. So schwebend leicht wie die
Kindheit erreichen sie ihre Bäume am äußersten Rand einer
riesigen Lichtung. Wir ertragen den Nachmittag, zwei Ringer
der Zeitlosigkeit, ein langer Spaziergang durch die gefangene
Welt.
Was mich im Allgemeinen beim Interlinearübersetzen ins Deutsche und der gemeinsamen Arbeit mit dem Dichter Matthias Göritz fasziniert, ist das Gefühl, die Gedichte noch zusätzlich zu verdichten. Unter anderem durch Komposita, die im Slowenischen sehr selten sind und im Deutschen so schön und natürlich klingen: „Tagesgedichte“ statt Gedichte des Tages, wie es wortwörtlich im Slowenischen heißt. Oder „der Himmel ist hochniedrig“ für „hoch niedrig“ im Slowenischen. Ich persönlich würde mir noch mehr solcher Verdichtungen wünschen, wie etwa „Besucherstrom“ oder „Holunderduft“, doch Matthias bevorzugte einen vielleicht nicht so kompakten, dafür weniger aufgeregten Wortfluss: Strom der Besucher, Duft des Holunders. Ich vertraute ihm, auch wegen des Rhythmus.
Zu meiner großen Überraschung ist eine der größten Schwierigkeiten, auf die man vor allem beim Übertragen aus dem Deutschen ins Slowenische trifft, in diesem Fall nicht eingetreten: das Problem des Passivs. Man könnte sagen, dass Miljanas Gedichtband regelrecht ins Deutsche übertragen werden wollte, denn er enthält ungewöhnlich viele Passivkonstruktionen und andere unpersönliche Strukturen, die im Slowenischen regelrecht verpönt sind. Zum Beispiel: „das Buch, aufgeschlagen auf einer zufälligen Seite, ließ sich … schreiben“ oder da „wird ein neuer Name erfunden“ oder „der Schlummer wird von allen Seiten beobachtet“.
Man könnte noch viele spezifische Beispiele nennen, wie wir z.B. das Wort „Goldmedaillons“ wählten, weil uns das bloße Wort „Medaillons“ zu sehr an Fleischstücke erinnerte. Wie wir lange darüber diskutierten, als ich die wortwörtliche Variante „in Zimmern, die bis ins kleinste Detail geschneidert sind“ und Matthias „in Zimmern, die bis ins kleinste Detail ausgearbeitet sind“ vorschlug. Wie wir nach dem Ausdruck für „ustvarjanje“ suchten, was so viel wie Kreation, Schöpfung oder das Werk der Schöpfung bedeuten kann.
Es gibt noch eine zusätzliche Art der Übersetzung in diesem Band – im Original sind es die Fotos des slowenischen Fotografen und Schriftstellers Dušan Šarotar, in der Übersetzung die wunderbaren Holzschnitte von Christian Thanhäuser.
Tandem
Dieses Journal weicht vielleicht etwas von dem gängigen Format ab, denn es handelt von einer Tandemübersetzung. Vor einigen Jahren setzten Matthias Göritz und ich uns zum Ziel, hervorragende slowenische Dichterstimmen, die dem deutschsprachigen Publikum noch unbekannt sind, nach und nach zu übersetzen. Wir übersetzen für die Reihe »Mein Nachbar auf der Wolke« in den manuskripten, für die Poesieautomaten, die Matthias in Graz, Leipzig und Marbach aufstellte, für Lesungen, und schließlich für die geplante Lyrikanthologie »Mein Nachbar auf der Wolke«, die im Herbst 2023 im Hanser Verlag in Zusammenarbeit mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erscheinen wird. Mit der Arbeit haben wir vor einigen Jahren in Ljubljana und in Novo mesto angefangen, unter idealen Umständen der physischen Präsenz, des direkten Austausches bei einem Glas Wein, oft stundenlang konzentriert arbeitend. Ich bin fest davon überzeugt, dass man bei jeder Tandemübersetzung spürt, in welcher Atmosphäre sie entstanden ist, ob sich die Tandempartner gegenseitig beschwichtigen und inspirieren konnten.
Danach ging Matthias nach Amerika, später kam Covid. Unser Tandem bezog ein Zimmer im virtuellen Raum: Zoom Calls, Shared Screens mit Vergrößerung, damit beide gut sehen. Verschicken von Texten und Kommentieren mit Track-Changes war uns oft nicht genug, denn man muss so Vieles im Gespräch erklären und beschreiben. Ich fand es schön, als Matthias mich einmal, als wir nach einem Wort suchten, fragte: »Hast Du noch andere Bilder für mich?« Oft mache ich keine richtige Interlinearversion, sondern eher eine mündliche Nacherzählung.
Was wir feststellten: wenn wir zusammenarbeiten, kommen wir beide auf bessere Ideen. Mein Deutsch wird im Dialog besser als beim alleinigen Vorbereiten der Interlinearübersetzung. Ich halte mich nicht für eine Übersetzerin ins Deutsche. Oft finde ich nicht den genauen Ausdruck, nach dem ich suche, von dem ich aber weiß, dass er existiert. Meine Deutschkenntnisse reichen jedoch aus, um zu spüren, wenn etwas noch nicht richtig klingt. Und da hake ich immer wieder nach, hole den Tandem-Partner immer wieder zurück und bin lästig. Die Präzision ist mir beim Literaturübersetzen in beide Richtungen extrem wichtig. Und ich möchte mir Zeit nehmen. Die Übersetzungen liegen lassen und nach einer Weile wieder lesen. Das ist leider nicht bei jedem Projekt möglich, bei diesem war es zum Glück so. Wir haben die Gedichte einander laut vorgelesen. Wenn ich vorlese und stocke, stimmt an der Stelle meist etwas nicht. Beim Korrekturlesen sehe ich die einzelnen Worte zuweilen zerstreut und unzusammenhängend auf dem Papier liegen. Wenn Matthias vorliest, klingt dagegen alles gut.
Anne Weber schrieb von der Demut des Übersetzers. Ich empfinde beim Übersetzen ins Deutsche manchmal eine regelrechte Ohnmacht und Unsicherheit, durchaus mit Anklängen ans Hochstapler-Syndrom, die mir kein Tandem nehmen kann. Ich zweifle an meinen Vorschlägen, vor allem was den Artikelgebrauch angeht, es ist eine ständige Selbstverletzung und Verletzung des anderen durch den Zweifel.
Vor der Tagung des Netzwerks Lyrik und TOLEDO in Dresden war ich fest entschlossen, kein einziges Gedicht mehr im Tandem zu übersetzen. Deswegen bat ich den Schriftsteller Dušan Šarotar, der damals gerade im LCB weilte, um das schöne Foto der so oft, aber nie so gesehenen Bahnhofsstation Wannsee mit der Aufschrift „Ausgang“. Ich konnte und wollte in dem Moment nicht weiter. Aus verschiedenen Gründen. Auch während des Gesprächs mit Alida Bremer erwähnte ich dieses Unbehagen beim Interlinearübersetzen ins Deutsche.
Die Gespräche während der Tagung in Dresden, die Rede von Volha Hapeyeva, die sich für das Übersetzen in eine Nichtmuttersprache einsetzte, weil wir, Schreibende in sogenannten „kleinen“ Sprachen, sonst von der „Gunst der Großen“ abhängig sind, der Zuspruch von Alida Bremer, die mir beherzt sagte: „Ich verstehe all Deine Bedenken, doch wir müssen es tun, wer macht es, wenn nicht wir“, all das gab mir neue Kraft. Und nur aus diesem Grund werde ich doch ab und zu noch einige Gedichte im Tandem übersetzen, auch damit das deutschsprachige Lesepublikum noch einige Dichterstimmen aus Slowenien kennenlernt, wenn wir im Oktober 2023 als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse auftreten. Die Lyrik ist das Herzstück der slowenischen Literatur. Und für mich ist es eine Belohnung, wenn mir jemand, der während Corona aufgehört hat, Gedichte zu schreiben, aufgrund der Aussicht auf einen deutschsprachigen Gedichtband sagt, dass er oder sie vielleicht doch noch ein Gedicht schreibt.
Übersetzen ist immer eine persönliche Beziehung mit dem Autor oder Autorin, auch wenn man sich persönlich nicht kennt. Übersetzen ist Minnedienst. Auf jeden Fall ein Dienst. Nachtschicht bei mir. Ungern sehe ich es, wenn man vom Übersetzen als von einer Dienstleistung spricht. Übersetzen ist Kunst.
Matthias Göritz
Miljana Cuntas Gedichte sind für mich wie Schnittmuster in die Ewigkeit, aus der Sprache hinausgearbeitete Brüche im Alltagsgeschehen. Für die von uns begründete Rubrik »Mein Nachbar auf der Wolke« in den manuskripten, in denen Amalija und ich seit 2020 einige der wichtigsten Stimmen der jüngeren slowenischen Dichtergeneration vorstellen, zum großen Teil in extra dafür von uns angelegten Übersetzung, hatten wir eine Auswahl aus allen drei Bänden von Miljana Cunta vorgelegt. Schnell waren mir jedoch die »Tagesgedichte« (Pesmi dneva, 2014) ans Herz gewachsen. Der Besuch des kleinen Mädchens bei der alten Näherin, mit der sie einen Tag verbringt, ihr zusieht, mit der Frau Kunden empfängt, den Lauf der Zeit erlebt, mit ihr in ihrem Bett ruht, schläft und vielleicht sogar träumt, begeisterte mich mit seiner kindlich-ernsten Haltung der Sprache und dem Sterben gegenüber. Cuntas Art diese Geschichte in vierundzwanzig schwer fassbaren, faszinierend offen oszillierenden Prosadichtungen zu erzählen, die jeweils eine Stunde am Tag markieren, überzeugte mich: Von Stunde zu Stunde beobachtet die Jugend das Alter, sehnt sich nach dessen Erfahrung und versucht, durch die Beobachtung in die Geheimnisse des Lebens eingeführt zu werden, einzutreten in ein späteres, fast mythisches Leben, selbst in dem Moment als klar wird, dass die alte Frau sich bereits darauf vorbereitet, »die gefangene Welt« zu verlassen. Es sind visuelle Eingebungen, die diese Texte lyrischer Prosa so eindringlich machen, und die mich beim gemeinsamen Übertragen mit Amalija immer wieder daran erinnert haben, dass die Gedichte selbst wie sich langsam entwickelnde Fotografien zu Fenstern in die Innenwelten des Tages werden. Miljana Cunta ist mit den Tagesgedichten eine große dichterische Fragmentaufnahme des Lebens gelungen. Und die besondere, immer wieder einander befragende Art des Übertragens – ich hatte neben dem Slowenischen Original und Amalijas Interlinearversionen auch noch eine sehr schöne italienische Ausgabe der »Pesmi dneva« zum Vergleichen – führte zu einem zweisprachigen Band dieser Prosagedichte, der viel vom Gelingen dieses manchmal auch zögernden Ringens, um das richtige Wort, den richtigen Satz, den rhythmischen Blick auf die zu entwerfende Welt enthält, also aus meiner Sicht etwas viel besser trägt, als die meisten gemeinsamen Übersetzungen es vermögen: die – bei aller Beunruhigung angesichts des Verfremdungsaktes, den Übersetzung darstellt – Überraschung und das Staunen angesichts eines sich Zusammenfügens der Stimmen – der Stimme des Originals und zwei sehr unterschiedlichen Übersetzer·innen, mit jeweils anderen Perspektiven auf Wichtigkeiten. Amalija und mir ist mit den »Tagesgedichten« etwas wirklich Gemeinsames gelungen – so wie Miljana aus den beiden Blickwinkeln des jungen Mädchens und der alten Frau spricht, und aus dem sirrenden Ton des sich Reibens etwas unfassbar Erhellendes wird, so kann man in den deutschen Gedichten nun diese Begegnung auch als ein Tagwerk (über Jahre) beobachten, wo sich zwei Übersetzerinnen – im Text – begegnen. Oft benutzt man beim Reflektieren über das Übersetzen ja das Bild der Brücke. Ich möchte es hier vorschlagen als Bild für das sich immer noch auf der Brücke Befinden. An zwei Ufern, dem Slowenischen, dem Deutschen, losgeschrieben, angekommen, und doch noch unterwegs. Dazwischen. So wie Gedichte, wenn sie gelingen, es auch immer sind.