Steine aus dem Himmel
Ein Journal zur Übersetzung von Tomaž Šalamuns späten Gedichten (Teil 1)
0.
Im Frühsommer 2021 schlug ich dem Suhrkamp Verlag, vertreten durch die wunderbare Lektorin Janika Rüter, vor, ein Buch mit Gedichten aus dem Nachlass, oder zumindest aus den letzten Schaffensjahren des slowenischen Dichters Tomaž Šalamun herauszubringen. Der Band, betonte ich, könnte im Jahr des Gastlandauftritts von Slowenien auf der Frankfurter Buchmesse 2023 entweder im Frühjahr oder im Herbst erscheinen, begleitet von einem Nachwort.
Tomaž Šalamun: Steine aus dem Himmel. Gedichte, zweisprachige Ausgabe, aus dem Slowenischen von Matthias Göritz, Liza Linde und Monika Rinck. Suhrkamp Verlag 2023.
Zur Erscheinung des Buchs hatte ich zudem ein großes Radiofeature zum Autor geplant, das auch das letzte große Interview von Šalamun zu seinem Nachlass umfasst. Ich schrieb einen Pitch für das Buch, stellte, mit der Hilfe des Dichters Aleš Šteger, eine Liste von 101 Gedichten zusammen, erweiterte meine Ideen zu diesem Buch Schritt für Schritt, bis der Pitch fast 12 Seiten umfasste, die meine Gedanken zu diesem Buch enthielten, das ich schließlich als zweisprachigen Auswahlband aus den 10 letzten Lebensjahren von Šalamun konzipierte. Ich bekam schnell eine Zusage für dieses Buchprojekt.
Ich hatte Šalamun oft getroffen, auf internationalen Festivals, in Berlin, in Ljubljana – wir beide liebten es, früh morgens auf dem Dach des Nebotičnik, dem Wolkenkratzer von Ljubljana, zu sitzen und über die Stadt zu schauen, auf den Schlossberg oder auf das gar nicht so ferne Panorama der slowenischen Alpen, Cappuccino zu trinken oder Tee, zu schreiben, so, quasi als Nachbarn auf den Wolken den Tag zu beginnen, zu schauen, zu schreiben. Šalamun und ich hielten über die Jahre Kontakt, seine offene Poetik faszinierte mich, und er forderte mich immer wieder auf, auch gern in engem Kontakt und Austausch mit ihm, seine Gedichte zu übertragen, was mir leider aus persönlichen Gründen – nicht nur meine Gesundheit, meine komplizierte Ehe, nein, auch mein zwischen Theaterauftritten in Polen, Teaching-und Creative Writing-Gigs in Amerika, Asien und Europa ausfransendes Leben verbot es – damals nicht möglich war. Als ich ihn kurz vor seinem Tod gemeinsam mit Aleš Šteger noch einmal traf, er hing am Tropf auf dem Sofa in seiner Wohnung, so körperlich ausgezehrt wie man nur sein konnte, da bat er mich ein weiteres Mal doch vielleicht eines seiner Bücher zu übertragen. Diese Besessenheit von und für die Poesie ist, was mich mehr beeindruckt hat als alles andere. Ich spürte und spüre in Tomažs Gegenwart, in der Gegenwart seiner Gedichte einfach mehr Leben.
Als ich das Go von Suhrkamp hatte, sprach ich Monika Rinck an, die ebenfalls von Šalamun begeistert war – bzw. genau wie ich ist, denn als Dichter lebt Tomaž in seinen Gedichten weiter, es gibt kein war beim Lesen, nur, leider, gibt es das war im Leben. Übersetzen ist Überleben, es ist eine, im Benjamin‘schen Sinne, Weitergabe, Neu-Belebung, eine Auferstehung, ein utopisches Ziel durch Übersetzung von Dichtung zu einer reinen (dies ist nur eine regulative Idee) Sprache zu gelangen. Oder in der Sprache der Besessenen: zum besseren, intensiveren Leben.
(Oder doch Lesen? Übersetzen ist Lesen. Lesen und Leben hängen, wenn man schrift- und dicht-religiös gepolt ist am gleichen Metaphernfaden, siehe Hans Blumenberg).
Monika sagte sofort zu, an diesem Band mitzuwirken. Ich sprach auch Liza Linde an, eine junge, sehr talentierte, zweisprachig aufgewachsene Übersetzerin, die unter anderem die slowenische Dichterin Anja Zag Golob äußerst gelungen ins Deutsche übertragen hatte, und mit der ich bereits als ihr Mentor zusammengearbeitet hatte. Liza begann mit der Übertragung von ca. 80 Gedichten, ich mit der von 21 Gedichten, von denen ich bereits einige dem Suhrkamp-Pitch beigefügt hatte. Dann tauschten Liza und ich diese ersten Fassungen aus, trafen uns mehrfach über Zoom und bearbeiteten größere Portionen der Gedichte gemeinsam, bevor wir sie an Monika weiterschickten. Ich traf mich dann regelmäßig mit Monika, die ihre eigenen Fragen, Anmerkungen und Vorschläge zu diesen Erstfassungen hatte. Wir diskutierten und bearbeiteten die Fassungen gemeinsam, bevor wir Liza wieder dazu holten und dann auch nochmals zu Dritt an den Texten feilten. Es entstand eine interessante Spirale von Ansichten, Fassungen, Variationen und Lösungen um unsere Grundversionen herum, die, wie wir alle drei hoffen, zu Gedichten in deutscher Übersetzung führten, die nun als Buch hoffentlich etwas im Leser berühren, anstoßen, umstoßen und verändern – so, wie wir es als Übersetzer·innen und Leser·innen im Übersetzungsprozess erlebt haben.
Ich nutze dieses Journal, um ein wenig über das Übersetzen nachzudenken, meinem Verhältnis zum Übertragen von Gedichten nachzuspüren, meinen Gedanken zu diesem so besonderen Dichter Tomaž Šalamun, und um einige Aspekte der Arbeit an diesem Buch festzuhalten – es ist kein tiefgehender Werkstattbericht, dazu bin ich zu müde.
I.
Осип Мандельштам
Бессонница. Гомер. Тугие паруса...
Schlaflosigkeit. Homer. Die Segel, die sich strecken...
Ossip Mandelstam
Segel, die sich strecken sind nicht gestrichene Segel.
Vom Übersetzen als Notwehr und als (Über-)Lebenshilfe
The Companions of Insomnia, die Gefährten der Schlaflosigkeit tauchen in so vielen Filmen und Büchern auf (und wohl noch viel öfter in so vielen Leben). Man kann sie aufrufen, sich an sie erinnern, sie schmerzerfüllt ansehen, sie aufzählen wie die Schiffslisten Homers in der Illias die Teile der Troja-Invasionsflottille nach Städten und griechischen Stämmen evoziert. Da sind die unachtsam umgedrehten Taschenbücher, die leeren Getränkeflaschen, die Pillendosen, Nasensprays, die Rauchwerkschachteln, die Modemagazine. Eine Liste von Dingen, die man wieder und wieder ausprobiert, um nur ja ein- oder durchschlafen zu können, eine Liste, die man wieder und wieder durchgeht am Morgen, für die Schlaflosen eine Verlustliste, wenn das Licht, nach einer weiteren ungeliebt durchwachten Nacht, die Dinge im Raum wieder zu festen Formen zusammenfügt. Auch das sind Übersetzungsvorgänge, Übersetzungen aus dem Schlaf, der nicht kommt, der, wenn er kommt, nicht tief genug ist, der Tag, die Nacht, das Morgengrauen, eine Reihe fast ununterscheidbarer Übergänge. Die Haltlosigkeit die irgendwann folgt, die irritierende Hilflosigkeit der Nacht und dem eigenen Körper gegenüber. Die Angst. Die Panik. Das vergessene Gefühl von Schlaf, vom einfachen Atmen. Das Gefühl zu ersticken.
Das Übersetzen hat mich gerettet. Übersetzungen sind die Gefährten meiner Schlaflosigkeit, sie sind ihre Produkte. Ich schreibe Bücher, Gedichte, Theaterstücke, ich erfinde Geschichten – und ich übersetze. Vielleicht übersetze ich eigentlich nur. Das Schreiben erfordert ja nicht nur den paradoxen Spagat zwischen höchster Konzentration und dem Loslassen, ein sich der Sprache und dem Fantasiegeschehen öffnen, es ist ein wahres Wunder, wenn es geschieht. Ein Geschenk. Das man annehmen muss. Ein Herangereichtes, dass man zu sich nimmt, aufnimmt im grauen, körnigen Raum einer sich vor mir noch gerade behutsam herausbildenden Sprache, etwas, das man im Schreiben wiedergibt, wieder abgibt, für Menschen, denen Sprache und das Leben in ihr etwas ähnlich Wertvolles bedeutet.
Steine aus dem Himmel. Dieses Buch von Tomaž Šalamun, über das und von dem ich in diesem Journal erzählen will, ist das siebenunddreißigste, das ich als Übersetzer·in mit auf den Weg bringen durfte. Es hat damit das gleiche Alter wie meine Schlaflosigkeit, die im Jahr 1985 begann, dem Jahr, als mir ein übereifriger, nach amerikanischem Muster ausgebildeter Kiefernorthopäde, acht meiner hinteren Zähne zog und meine Restbesetzung erst mit Headgear dann mit Permaschrauben in eine seiner Meinung nach perfekte Ordnung zwang, mir den Kiefer so verkleinerte, dass die Zunge plötzlich keinen Platz mehr im vorderen Rachenraum hatte, aber hinten umso mehr und sich infolgedessen von einer Freundin, die mir das formt, was ich liebe, Sätze, Töne, Wörter, des Nachts in ein Monstrum verwandelt, dass mir erschlafft und dekadent – eine Art Jabba the Hut – die Luftröhre verschließt. Obstructive sleep apnea. Seit meinem 16. Lebensjahr habe ich kaum eine Nacht mehr richtig geschlafen.
II.
Mein erstes, 2020 für den Grazer Poesieautomaten „Mein Nachbar auf der Wolke“ übersetztes Gedicht von Šalamun, Jutro, Morgen:
Jutro
Nesmrtnost pride in gre, ne slepi se
mladenič. Če je ne boš zgrabil za
roge, se bo ozrla. V luno. V teodolit.
Obsijala ti bo samo parne
možgane, parno srce, parno majčko,
parne oči. Vse na tebi bo
obrobljeno, sprešano in pomečkano. Skrij
se pod sneg in počivaj. V nevihti,
ko sem moral v morje spustiti sod olja,
da se je naredilo oko, žareči sod,
te je nesmrtnost objela. Naj ne bo
zadnjič. Dante o tem ne poroča. Ne
Ariosto ne Torquato Tasso. Primi
se za rokave in poleti. Ostani.
Morgen
Unsterblichkeit kommt und geht, sei nicht verblendet
junger Mann. Wenn du sie nicht bei den Hörnern
packst, starrt sie. Auf den Mond. Auf den Theodoliten.
Wird bloß auf deine gekoppelten Hirn-
hälften scheinen, die Herzhälften, T-shirts,
Augen. Alles an dir wird
an der Klippe stehn, auf der Kippe, verknittert. Versteck
dich unterm Schnee und dem Rest. Im Sturm,
als ich ein Faß Öl ins Meer verklappen musste,
so daß es große Augen machte, ein strahlendes Faß,
so umarmte die Unendlichkeit dich. Möge es nicht
das letzte Mal sein. Dante hat darüber nicht berichtet. Auch
Ariosto nicht, und nicht Torquato Tasso. Halte
dich selbst am Ärmel und fliege weit. Bleib.
Morgen, ich schreibe immer wieder in Texten Morgende, als hielte dieser Plural ein Ende in sich, das Ende der Nacht, der Atemlosigkeit, der dunklen Qual, die ich beim Schlafen/Nicht-Schlafen empfinde, und als brächte dieser Aufbruch des Dämmerns Erleichterung, Möglichkeit, Leben. So ist es auch. Nachts übersetze ich, morgens schreibe ich. Beide Male halte ich mich selbst am Ärmel und werfe mich wie eine Angel aus, mal weiter, mal näher, eine Flugbewegung, die an das sich selbst am Schopfe packende durch die Luft Klettern des Baron von Münchhausen erinnert. Eine Art gewollter Himmelssprung, ein Betreten des nicht festen Raums, doch kein Sturz, kein Fall, nein, ein Über-Setzen, ein Wunder.
III.
„Steine aus dem Himmel“
Tomaž Šalamun (1941 – 2014)
Ohne Zweifel hat Tomaž Šalamun die slowenische Dichtung revolutioniert. Ganz sicher gibt es keinen zweiten slowenischen Dichter, der so viele Generationen von Dichtern auf der ganzen Welt inspiriert hat. Šalamuns Gedichte sind geprägt von einer totalen Befreiung der Sprache, ein poetischer Akt, der sich auch auf die politische Sphäre ausdehnte, da Šalamuns Bekenntnis zur totalen Freiheit in seiner Poesie, einschließlich seines offenen Ausdrucks homosexuellen (oder bi-sexuellen, queeren) Begehrens, auch ein anderes geistiges Klima verlangte, das den gesamten slowenischen Raum auf allen Ebenen für immer veränderte. Man kann seine Poesie mit Fug und Recht auch als eines der Fundamente des schwul-lesbischen Aktivismus ab Mitte der 1980er Jahre beschreiben.
Šalamun schrieb meist in den frühen Morgenstunden oder mitten in der Nacht, wenn ihn ein Gedicht aufweckte. Er war bemerkenswert produktiv und veröffentlichte 53 einzelne Gedichtbände, 15 davon zwischen 1971 und 1981. In seinem letzten Lebensjahrzehnt schrieb er 20 Bücher, von denen neun erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden. Seine einzige Durststrecke war eine viereinhalbjährige Periode Anfang der 1990er Jahre, als eine persönliche Krise und die Kriege auf dem Balkan ihn zum Schweigen brachten und er, wie er es beschrieb „Angst vor der Poesie“ hatte:
„Gott kann dich zermalmen, wenn du, wie ich es mit der Sprache tue, versuchst, die Grenzen des Möglichen, die Grenzen der Sprache, zu erreichen, um zur totalen Überschreitung, zur totalen Blasphemie zu gehen ... Es war, als würde Gott alles aus mir herausnehmen, es war, als würde mein Kopf explodieren, als würde mein Gehirn schmelzen, und ich wurde an einem völlig dunklen, kalten Ort zurückgelassen, in totalem Schrecken und mit Schuldgefühlen und der Unfähigkeit, mir selbst zu helfen, und ich war viereinhalb Jahre lang nicht in der Lage zu schreiben, nachdem mir das passiert war“.
Šalamuns Texte bewegen sich ständig auf einer Grenze, im Reich der Träume oder des Zwielichts, stellen eine existenzielle Konfrontation mit dem Ungeheuerlichen dar.
In Interviews hat Šalamun sein Schreiben oft mit einem „religiösen Delirium“ verglichen, wegen der „Intensität der Freude und des Gefühls, dass ich etwas, was tief in mir ist, nicht verstehe“, während seine Gedichte zugleich auch wie ein Tanz wirken, ein Sich-Öffnen für alle Extreme. „Die Poesie muss völlig offen sein ... sie muss Räume entdecken, die noch nicht entdeckt wurden“, so Šalamuns Credo, der in seinen Gedichten, vielleicht darin am ehesten mit dem amerikanischen Dichter John Ashbery vergleichbar, überall ist und nirgends.
In einem Vorwort zur zweiten Auflage von Poker (1989) beschreibt Tomaž Brejc, dass Šalamuns Gedichte in „ständiger Bewegung“ sind. Ihre Soziale, verbale, physische Mobilität, lassen Vergangenheit und Gegenwart sich überschneiden, Pronomen können klare Bezüge haben oder auch nicht, er verbiegt Zeit, Raum und Syntax, indem er konventionelle Auffassungen darüber, wie Dinge – Bilder, Ideen, Erinnerungen, Träume, Träumereien, Handlungen, Menschen, Objekte, Tiere – miteinander verbunden sein können, aufhebt. Das Gewebe von Šalamuns Poesie ist vielschichtig. Neben Freunden, Familienmitgliedern und anderen Dichtern beziehen sich seine Gedichte auf bildende Künstler, Filmemacher, Komponisten, Philosophen und verschiedene Persönlichkeiten aus der Geschichte. Seine Gedichte bieten einen unvorhersehbaren Mix aus hoher Lyrik, witzigem Slang, aus Autobiografie, Erzählung, sind Camp, absurde Mystik, voller Erhabenheit und schelmischer Selbstmythologie. Sie bieten so eine ganz eigene Art, sowohl mit den historischen und politischen Realitäten des ehemaligen Jugoslawiens umzugehen, als auch mit den Transformationen des neoliberalen Europas. Sein Einfluss nicht nur auf die slowenische Lyrik der Gegenwart ist groß, er ist international der am meisten gelesene slowenische Dichter, eine Legende.
IV. Morgen mit Liza
Morgen
Unsterblichkeit kommt und geht, mach dir nichts vor,
junger Mann. Wenn du sie nicht bei den Hörnern
packst, starrt sie zurück. Den Mond an. Den Theodoliten.
Wird bloß auf dein paariges Hirn,
dein paariges Herz, das paarige T-shirt, die paarigen
Augen scheinen. Alles an dir wird
umrandet, gepresst und zerknittert sein. Versteck
dich unter dem Schnee und ruh dich aus. Im Sturm,
als ich ein Ölfass ins Meer aufmachen musste,
sodass ein großes Auge entstand, ein strahlendes Fass,
umarmte dich Unendlichkeit. Möge es nicht
das letzte Mal sein. Dante hat darüber nicht berichtet. Auch
Ariosto nicht, und nicht Torquato Tasso. Halte
dich an den Ärmeln fest und flieg los. Bleib.
Was ist dieses „paarige“ in den Augen, dem Herz, dem Hirn, dem T-Shirt? Doch der Wunsch nach stabiler Zweisamkeit? Oder das Rasen des Entdeckers, Eroberers der Körper – die queere Seite Šalamuns – junger Männer? Neue Sprachen, Körper, Zeichen? Tomaž Šalamun war immer gern in Amerika, hat sich einladen lassen, Kurse gegeben, viele Gedichte in Steine aus dem Himmel sprechen von seiner dichterischen, sexuellen Freiheit während dieser Zeit, auch von der Schuld, die ihn manchmal überfiel, weil seine (zweite) Frau, die Malerin Metka, das natürlich nicht einfach akzeptierte. Paarig sein… keine einfache Sache.
V. Statt eines Nachworts
Vor allem in Amerika wurde Šalamun als einer der bekanntesten europäischen Dichter seiner Generation und überhaupt der osteuropäischen Avantgarde gefeiert. Zu Beginn seiner Karriere gab er das Literaturmagazin Perspektive heraus und wurde wegen einer politischen Anklage, wegen eines vermeintlich obrigkeitskritischen Gedichts, Duma (1964), kurzzeitig inhaftiert. In Šalamuns eigenen Worten:
„Als die Polizei eintraf und das Haus durchsucht wurde, hatte ich das Gefühl, dass ich vollkommen geschützt war und dass ich historisch gesehen mitten in einer sehr wichtigen Sache steckte. Diese fünf Tage im Gefängnis waren gerade genug, um mir einen Vorgeschmack auf den Stalinismus zu geben. Ich hatte einen Vernehmungsbeamten, der mir suggerierte, dass das Gedicht Duma nicht von mir, sondern von Veljko Rus (ein wichtiger antikommunistischer Intellektueller und später ein international bekannter Soziologe und Philosoph, Anmerkung des Übersetzers) geschrieben worden sei, dass die Graphologen herausgefunden hatten, dass es nicht von mir stammte, dass ich missbraucht wurde und dass ich ein toller Kerl sei. Dass ich zwölf Jahre ins Gefängnis kommen würde. Es gab auch einen sehr kleinen Mann in weißen Schuhen mit Narben im Gesicht und einer Kette, kurz gesagt: ein Abbild der Hölle, und der Genosse, der mich verhörte, ließ mich auch wissen, dass er selbst wollte, dass es mir gut geht, aber dass auch andere Dinge passieren konnten. Die Sekretärin, die gerade tippte, sagte zu mir: „Genosse Šalamun, wir wollen Ihnen nur Gutes.“ Als sie von zwölf Jahren sprachen, dachte ich mir, das kann doch nicht sein, so ist die Welt nicht, sieben Jahre vielleicht, aber doch nicht zwölf, die Zeiten haben sich doch geändert, und es wird sich herausstellen, dass sieben Jahre zu viel sind, und am Ende werden es vielleicht bloß vier Jahre sein. Gandhi hat vier Jahre durchgehalten, und Tito auch, das heißt, ich bin nicht eingeknickt, als der Druck immer größer wurde, ich war wie eine Pflanze, ich habe gesagt: „Ich weiß nicht, ich weiß nicht", ich war sehr vorsichtig, nahm mir vor, nicht sarkastisch oder ironisch zu sein, nicht zu widerständig, ich war sehr vorsichtig. Andererseits konnte ich Bücher bestellen, Ovid und Proust lesen, und der Gefängnisdirektor kam und fragte mich, ob ich mit dem Essen zufrieden sei. Ich fühlte mich wie der verehrte General einer gegnerischen Armee. Dann kam der fünfte Tag, an dem ich entlassen wurde, und ich erinnere mich sehr gut daran: Ich ging vom Gefängnis in der Povšetova-Straße zu meiner Studentenunterkunft neben dem Schauspielhaus, als ich unterwegs erfuhr, dass meine Verlobte Tatjana Uršič mit einer Gruppe Architekturstudenten nach Rom gegangen war, und ich war nicht enttäuscht, sondern bloß erstaunt. Der Schock war, dass ich mich aus dem Nichts zu einer berühmten politischen Figur entwickelt hatte. Diese Korruption hätte mich eine Menge kosten können. Hier musste ich genug Energie aufbringen, um nicht meiner eigenen Wichtigkeit zum Opfer zu fallen, um genug Instinkt zu haben, dass ich, als ein Brief mit einer italienischen Briefmarke und einem Poststempel bei mir ankam, sofort erkannte, dass es sich um die UDBA, den jugoslawischen Geheimdienst, handelte. Um neun Uhr erhielt ich diesen Brief, und zehn Minuten nach neun schickte ich den Brief zurück und schrieb: „Bitte, die Sache ist abgeschlossen, wiederholen Sie diese Geschichten nicht." Von da an hatte ich völligen Frieden, und die UDBA hat sich nie wieder mit mir beschäftigt.“
Er studierte Kunstgeschichte an der Universität von Ljubljana, arbeite als Broker an der Börse, dann kam er plötzlich durch eine Epiphanie, in der er die Poesie als plötzliche Offenbarung fand, zu seiner wirklichen Berufung, dem Schreiben, und beschrieb fürderhin die Ankunft von Gedichten, wie in einem Interview von 2004 beschrieben, als „Steine aus dem Himmel“.
Šalamun ist Autor von mehr als 50 Gedichtsammlungen in slowenischer Sprache. Viele seiner Bände sind ins Englische und einige, zumeist kürzere Auswahlbände, auch ins Deutsche übertragen. In Amerika wurde Šalamun als eine der führenden und einflussreichsten Stimmen der Weltpoesie rezipiert. Im Alter von 25 Jahren veröffentlichte er seine erste Sammlung, Poker (1966). Seine Gedichte, die Elemente des Surrealismus und der Polyphonie virtuos verknüpfen, wurden stark von Frank O’Hara, John Ashbery, Charles Simic und Charles Baudelaire beeinflusst.
Seine Gedichte wurden immer wieder in Anthologien aufgenommen und in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
Šalamun gewann den Jenko-Preis, den slowenischen Prešeren- und Mladost-Preis sowie einen Pushcart-Preis. Šalamun und sein deutscher Übersetzer Fabjan Hafner wurden von der deutschen Stadt Münster mit dem Europäischen Preis für Lyrik ausgezeichnet. Er war Fulbright Fellow an der Columbia University und unterrichtete gelegentlich in den USA. Šalamun war Mitglied der Slowenischen Akademie für Wissenschaft und Kunst und lebte bis zu seinem Tod Ende 2014 in Ljubljana, Slowenien.
Als er sich dem International Writing Program an der Universität von Iowa anschloss, lernte er den finnisch-amerikanischen Dichter Anselm Hollo kennen, der später einer der Übersetzer von Šalamun wurde. Ich erzähle diese Geschichte, weil sie in den Annalen der Šalamun-Übertragungen der Anfang einer ganzen Reihe von Freundschaften, Dichter-Dichter-Übersetzerverbindungen sozusagen als Schleifen immer wieder auftauchen.
Die internationale Bekanntheit Šalamuns gründet vorwiegend auf den Gedichten aus seinen ersten 25 Schaffensjahren, mit denen er im slowenischen und europäischen Kontext poetische Grenzen verschob. Diese frühen Gedichte, verspielt, rebellisch, voller Leichtigkeit, arbeiten mit Ironie und Provokation, schieben Wortfelder ineinander und sind meist in der ersten Person geschrieben; sie sind es auch, die beispielsweise in den zwei deutschsprachigen Auswahlbänden Vier Fragen der Melancholie und Lesen: Lieben berücksichtigt wurden.
Zwischen 1990 und 1994 ging Tomaž Šalamun durch eine tiefe Schaffenskrise. Er glaubte, nie wieder Gedichte schreiben zu können, arbeitete als Buchhändler in Ljubljana, später als Makler an der Triester Börse. Der Gedichtband Ambra aus dem Jahr 1995 bedeutete seine Rückkehr zur Literatur, zugleich aber war er ein tiefgreifender poetologischer Einschnitt. Šalamuns Gedichte wurden schneller, assoziations- und anspielungsreicher, befreit von jeder äußeren Ambition, vielmehr direkt auf die Erkundung des Innenraums der Sprache ausgerichtet. Oft stießen die Gedichte bei ihrer Veröffentlichung auf Unverständnis. Der vorgelegte Band setzt mit Gedichten aus Ambra (1995) an und umfasst eine Auswahl aus allen weiteren 25 Gedichtbänden, die auf die Schaffenskrise des Dichters folgen sollten.
Die letzten sechs noch vom Dichter selbst editierten Gedichtbände erschienen posthum in einem Band mit dem Titel Jutro (Morgen), herausgegeben von dem slowenischen Lyriker und Verleger Aleš Šteger. Ihm ist für die Auswahl aus dem Spätwerk, die hier erstmals in deutscher Übertragung vorliegt, auch hier nochmals herzlich zu danken.
Šalamun wollte sich nie erklären und äußerte sich grundsätzlich nicht poetologisch, obwohl er immer wieder darum gebeten wurde. Im Jahr 2009 trafen sich Aleš Šteger und Tomaž Šalamun insgesamt sechs Mal und zeichneten die Gespräche auf, die sie über das Werk Šalamuns führten. Das Projekt eines Gesprächsbandes blieb unvollendet – eine Auswahl aus diesem Projekt werde ich in meiner Übertragung im Frühsommer 2023 im Axel Dielmann Verlag vorlegen, die hier von mir zitierten Aussagen Šalamuns stammen aus diesem Bändchen. Ein kleiner Auszug aus den Gesprächen soll dem Dichter an dieser Stelle das (vor-)letzte Wort zu den »Steinen aus dem Himmel« überlassen:
Tomaž Šalamun:
[...] Jeder Künstler ist melancholisch. Wie er funktioniert, woher sein Antrieb stammt – dafür gibt es keine Regeln. Das ist bewundernswert, denn es bedeutet, dass dein potenzieller Raum riesig ist. Du wirst es wahrscheinlich durch den Frieden, den du als Künstler in dir trägst, regulieren. Eben weil du als Künstler die Gabe dieses Friedens und dieser sozialen Anmut besitzt. Wahrscheinlich wirst du durch das, was die Welt aus einem herausholen will, enorm belastet.
Aleš Šteger:
Ich habe dich immer um diese Fähigkeit beneidet, dich dem Wort wie einem Ready-made zu nähern, so schien es mir jedenfalls. Als wärest Du eine große Hand, die in den Raum greift, etwas hochhebst und umdrehen kannst.
Tomaž Šalamun:
Das kann ich mir nur schwer vorstellen, schwer verstehen. Bei mir ist es eher, als würde sich ein Spalt öffnen oder ein Tonus, eine Spannung, die zerreißt, und es ist, als ob dann ein Strahl aufleuchtet oder ein Satz hervorbricht. Wie Pferdchen, die miteinander losgaloppieren, die da hindurchsausen. Ich schreibe es schnell auf und dann ist es da – oder manchmal kann ich es eben nicht und es verschwindet. Ich erkenne die Öffnung und die Sätze als das, was sie sind, und ich habe nichts damit zu tun. Das ist großartig.
Es ist eigentümlich, dass sich in Šalamuns Worten von den hervorbrechenden Sätzen, den preschenden Pferdchen, dem schnell Geschriebenen, Befreienden seiner Erkenntnisaktionen so vieles auch für mich (er-)klärt, was mir das Schreiben und das Übersetzen als Schreibakt erlaubt, ja geschenkt hat: Öffnung zu sein, für etwas Anderes als das das eigene, kleine, oft schlaflos verzweifelte Selbst. Während es für Šalamun immer wieder ums Schwimmen geht, um den Lehm, aus dem wir alle gemacht sind, um paarige Begehrlichkeiten und die Lust an der tektonischen Verschiebung, wenn sich Sprachplatten überlagern, erdbeben(un-)artige Reibung erzeugen, dann ist meine eigene Metapher der Übersetzung als Schlaflosigkeit und des genauso verzweifelten, wie heroischen Akts, sich während der Panik des keine Luft mehr Bekommens, nicht mehr Atmen zu können, dass mich des nachts überfällt, plötzlich wieder rückgebunden an die Hoffnung auf dem Meer zu segeln. Vielleicht habe ich deshalb mit Mandelstam begonnen, in Erinnerung an die erste slawische Sprache in der ich zu schwimmen, in der ich zu navigieren, mich zu bewegen lernte, und manchmal, im Übersetzungsakt, so wie Paul Celan es wie einen Farbstrich als ein sich Strecken übertragen hat, auch wirklich zu segeln.
Schlaflosigkeit. Homer. Die Segel, die sich strecken.
Ich las im Schiffsverzeichnis, ich las, ich kam nicht weit:
Der Strich der Kraniche, der Zug der jungen Hecke
Hoch über Hellas, einst, vor Zeit und Aberzeit.
Wie jener Kranichkeil, in Fremdestes getrieben —
Die Köpfe, kaiserlich, der Gottesschaum drauf, feucht —
Ihr schwebt, ihr schwimmt — wohin? Wär Helena nicht drüben,
Achäer, solch ein Troja, ich frag, was gält‘ es euch?
Homer, die Meere, beides: die Liebe, sie bewegt es.
Wem lausch ich und wen hör ich? Sieh da, er schweigt, Homer.
Das Meer, das schwarz beredte, an dieses Ufer schlägt es,
zu Häupten hör ich‘s tosen, es fand den Weg hierher.
Mein Meer ist Sprache, die Sprache Meer. Das Hin- und Herschaukeln des Schlafs, das Sich-Sehnen nach Bewegung und die gleichzeitige Sehnsucht nach Ruhe, alles spielt sich hier in diesem Bild für mich ab. Mein Über-setzen. Der Rest ist Geschichte. Einige hundert weitere gerettete Nächte, über Wochen und Monate, so ersetzten mir Šalamuns Verse den Schlaf, so konnte ich im Übertragen der Gedichte und der Gespräche mit ihm reden, ein Zwiegespräch führen, dass dank der Konzeption mit drei Übersetzer·innen zu einem Buch mit drei übereinandergelegten Stimmen und Blicken geworden ist, hoffentlich auch für Sie, liebe Leserinnen und Leser, überraschend und schön, so wie Steine aus dem Himmel.
VI. Jutro III, ein Morgen zu dritt: mit Monika und Liza
Morgen
Unsterblichkeit kommt und geht, mach dir nichts vor,
junger Mann. Wenn du sie nicht bei den Hörnern
packst, starrt sie zurück. Den Mond an. Den Theodoliten.
Wird bloß auf dein paariges Hirn,
dein paariges Herz, das paarige T-Shirt, die paarigen
Augen scheinen. Alles an dir wird
gesäumt, gepresst und zerknittert sein. Versteck
dich unter dem Schnee und ruh dich aus. Im Sturm,
als ich ein Ölfass ins Meer öffnen musste,
sodass ein großes Auge entstand, ein strahlendes Fass,
umarmte dich die Unendlichkeit. Möge es nicht
das letzte Mal gewesen sein. Dante hat darüber nicht berichtet. Auch
Ariosto nicht, und nicht Torquato Tasso. Halt
dich an den Ärmeln fest und flieg los. Bleib.