We all live in a yellow melting pot
Hongkong 1975 – Ein Journal zur Übersetzung von Xi Xis Kultroman Meine Stadt
Xi Xi: Meine Stadt. Aus dem kantonesischen Chinesisch von Karin Betz. Suhrkamp, 2023.
Die Übersetzung beginnt wie üblich vor der Übersetzung. Ein Roman flatterte zunächst als Mailanhang in mein Postfach: Xi Xi, Wo cheng. Nie gehört. Es gab von diesem Roman nur eine einzige, einsame, stark gekürzte Übersetzung, ins Englische von Eva Hung, mit dem Titel My City, dabei steht überall, das sei der Hongkong-Kultroman! Peinlich, warum kenne ich den nicht? Ausgerechnet ich, die ich behaupten würde, seit meiner ersten Begegnung mit Hongkong, 1990 war das, verliebt zu sein in diese Stadt. Ich gestehe: Meine Kenntnis von chinesischer Hongkong-Literatur beschränkte sich lange Zeit auf die Kampfkunst-Romane Jin Yongs (die 1990 in China jede und jeder las und über die ich hier bereits zwei Journale veröffentlicht habe) und die Gedichte des wunderbaren Lyrikers Leung Ping-Kwan, den hoffentlich jeder und jede kennt. Viele seiner Gedichte wurden von Wolfgang Kubin ins Deutsche übersetzt.
Und dann lese ich: Interviews mit der Autorin, Essays über sie und ihr Leben von ihrem wohl bestem Freund, dem Autor Ho Fuk-yan. Ein experimenteller Roman, verrät mir die Lektüre, filmisch, anthropomorph, verspielt, mit kindlichem Blick. Also kein gewöhnlicher Roman. Aber was wäre „ein gewöhnlicher Roman“? Ich wappne mich mit Vorwissen und füttere mein Sprachschwein mit passender Parallellektüre. Die ist in diesem Fall eher übersetzte, aber großartig übersetzte, z.B. Raymond Queneaus Zazie in der Metro (Frank Heibert) oder Italo Calvinos Die unsichtbaren Städte (Burkhart Kröber) oder Haruki Murakamis Kafka am Strand (Ursula Gräfe). Los geht’s.
Aber kaum beginne ich mit der eigentlichen Übersetzung, bin ich ratlos. Ich schreibe aus sieben Worten bestehende Sätze sieben Mal neu. Ich frage Google und alle verfügbaren Quellen Dinge wie, ob die Beatles je in Hongkong waren (obwohl ich behaupten würde, ein kenntnisreicher Beatles-Fan zu sein); Ich recherchiere, wie Zeitungen für Pferdewetten aussehen (obwohl ich doch mehrmals bei den Pferderennen in Happy Valley war); wann und wie Godards Film Tout va bien gedreht wurde (das sollte ich Cinephile doch wissen!); wie sich ein Telefonapparat inwendig zusammensetzt, so einer aus den 70ern, mit Hörmuschel und Gabel und Wählscheibe (obwohl ich mehr Lebenszeit mit diesen Bakelitdingern verbracht habe als mit Smartphones). Und so weiter. Und schon zerbreche ich mir über wesentliche Entscheidungen den Kopf: Aguo heißt der Erzähler der Geschichte und seine Familie und seine Freunde haben (fast) alle Namen, die mit A beginnen; Afa, Ayou, Abei, Asha usw. Das sind Fantasienamen, das Schriftzeichen für „A“ bedeutet nichts, ist rein lautmalerisch; „guo“ bedeutet „Frucht“, „fa“ bedeutet „Haar“, „you“ bedeutet „schwimmen“ oder „reisen“ und so fort. Die englische Übersetzerin hat die Namen übersetzt „Fruits“, „Braids“, „Swim“... Ich finde nicht, dass übersetzte Kunstnamen nötig sind; zudem sind diese A-Namen sogar leicht auszusprechen und der Gleichklang im Anlaut passt zur Musikalität des Texts. Ich bleibe bei den chinesischen Namen.
Übersetzerinnenarbeit eben. Es ist immer dasselbe: Man glaubt, so viel zu wissen, die fremde und die eigene Sprache gut zu kennen und weiß doch nichts – bevor man es übersetzen musste. Da plötzlich muss man alles ganz genau wissen und verstehen, und manchmal auch nur geschickt so tun als ob (wie viele Seiten über Raumschiffe mit Kernfusionsantrieb habe ich übersetzt und könnte doch niemals erklären, wie das funktionieren soll). Spätestens dann, wenn man am Ende ein solches Journal schreibt und behauptet, man wüsste genau, was man tut, man wäre ein oberschlaues Wortkunstgenie und verrate jetzt, wie gut man seine Sache gemacht hat und warum. Besser, ich schreibe ein Bekennerjournal. Richtig, das ist eine Warnung vor der traduttora tradittora. Hier kommt das erste Geständnis:
„Jetzt, wo es das Telefon gibt, schreiben Sie da noch Briefe? Maschinen machen die Menschen faul. Als die Schrift erfunden wurde, brauchte der Mensch kein Gedächtnis mehr. Als die Bücher erfunden wurden, wollte der Mensch nicht mehr selbst denken. Der Mensch, würde ich sagen, ist wie das Universum, sobald er sich ausdehnt, ist er nicht mehr dasselbe. Die Sternennebel des Universums dehnen sich in alle Richtungen aus, mit dem Ergebnis, dass die Größe des Sternennebels zunimmt und seine Dichte abnimmt. Wo habe ich das gleich gelesen? Bestimmt in der Schulbibliothek. Die Abstoßungskraft des Universums ist größer als die Anziehungskraft, weshalb sie dafür sorgt, dass die Dinge sich nicht zusammenballen, sondern auseinanderdriften. Wie könnte es bei den Menschen anders sein? Ach, dabei kommt mir ein Lied in den Sinn, aber ich kriege nur zwei Zeilen zusammen, ich glaube, der Titel war so etwas wie „Alles wird gut“, aber eigentlich ist es ein französisches Lied und heißt Tout va bien:
Die gute alte Sonne scheint uns auf den Kopf
Was sollte uns noch bekümmern?
Es geht so ähnlich wie das hier:
Here comes the sun doo doo doo doo
It’s alrightStimmt, heute ist ein schöner Tag. Nicht mehr lange, und Sie machen, was Ihnen Spaß macht, und ich mache, was mir Spaß macht.“
有了电话,你还写信吗。机械令人懒惰起来了。有了文字,人类不必再去记忆;有了书本,人类亦不愿意思想。人,大概也像宇宙一般,膨胀之后就不一样了。宇宙中的星云,向各方扩散,扩散的结果,是增加了星云的体积,而减少了星云的密度。我是在什么地方看来的?一定是学校里的图书馆。宇宙斥力的作用,比万有引力还要大,所以才使物质不是互相聚拢,反而互相分散。你看,人岂不是一样。噢,忽然记起一首歌来了,我只会哼两句,名字好像叫“都很好”,是这样的:
那个老太阳照在头顶上
其他都是不要紧的啦
是了,今天天气很好,待会儿,你去做你高兴做的事,我去做我高兴做的事。
Das Geständnis? Nirgendwo im obigen Textabschnitt des Originals steht Here comes the sun doo doo doo doo/ It’s alright. Das habe ich hinzugefügt, mir ausgedacht, reingetrickst. Waaas? Nein, nicht „einfach so“, weil ich vielleicht so gerne mitschreibe an den von mir übersetzten Romanen (was durchaus stimmt) oder weil Here comes the sun von George Harrison ein Kannichimmerwiederhören-Ohrwurm ist (auch das stimmt durchaus). Gäbe es keinen Grund dafür, wäre ich trotz der vorausgeschickten Warnung nicht so mutig, mit diesem Bekenntnis zur Dreistigkeit mein Journal zu beginnen. Warum also? Eine mögliche Antwort wäre: Vielleicht möchte ich im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit eines literarischen Kunstwerks in eine andere Sprache mittels künstlicher Intelligenz die Vorteile meiner Menschlichkeit unter Beweis stellen. Dieses Journal wird aber – hoffentlich – bessere Antworten darauf geben.
Eins kann ich jedoch versichern: Abgesehen von zahlreichen vom Original geforderten kreativen Wortschöpfungen und -wendungen ist das die einzige Stelle, an der ich oberflächlich betrachtet im Original nicht vorhandenen Text in die deutsche Übersetzung hineingeschmuggelt habe. Fast die einzige. Ich schwöre.
Wer ist Xi Xi?
Xi Xi ist der Name der Autorin von Meine Stadt. Der Anlaut „x“, wie er bei der in der Volksrepublik China gebräuchlichen Pinyin-Umschrift zur Wiedergabe chinesischer Schriftzeichen in lateinischen Buchstaben verwendet wird, wird etwa so ausgesprochen wie „ch“ in „ich“, also „Chi Chi“ oder „Hsi Hsi“. Auf Kantonesisch wiederum würde man die dazugehörigen Schriftzeichen Sai Sai aussprechen. Xi Xi klingt lustig und so heißt natürlich nur ihr Pseudonym. Zhang Yan ist der bürgerliche Name der Autorin, zumindest in hochchinesischer Aussprache und unter diesem Namen wurde sie 1937 in Shanghai geboren. Derselbe Name wird auf Kantonesisch Cheung Yin ausgesprochen, und weil man in einer britischen Kronkolonie nicht mit zungenbrechenden chinesischen Namen herumlaufen durfte, hieß die Autorin auch Ellen Cheung. Leider muss ich „hieß“ schreiben, denn sie starb im Dezember 2022 mit 85 Jahren und ich habe keine Gelegenheit mehr, die bewundernswerte Dame kennenzulernen.
Pseudonyme sind bei chinesischen Autor·innen gang und gäbe; so gut wie immer sind sie zweisilbig (Mao Dun, Mo Yan, Lu Xun, Can Xue ...) und ausnahmslos ist die Bedeutung dieser Pseudonyme auch Programm (Mao Dun bedeutet z.B. „Widerspruch“). Xi Xi sieht in chinesischen Schriftzeichen so aus: 西西 Das bedeutet zweimal „Westen“ (geografisch). Warum nennt man sich so? In diesem Fall hat das Programm nichts mit der Bedeutung dieser Zeichen zu tun, sondern mit ihrem Aussehen. Es ist ein geschicktes Spiel mit dem visuellen Potential von Schriftzeichen, das die Autorin auch in ihren Romanen betreibt. Für Ellen Cheung (ich nehme den Namen, der alle offiziellen Dokumente über ihre Abschlüsse etc. ziert) sah 西西 aus „wie ein Mädchen im Rock, das über auf dem Boden aufgemalte Quadrate hüpft“, wie im Spiel „Himmel und Hölle“, das sie als Kind so mochte. Der Name ist auch das Markenzeichen ihres literarischen Stils; er spiegelt nicht nur ihren Umgang mit dem visuellen Aspekt der chinesischen Sprache wider, sondern die Verwendung der kindlichen Sichtweise, um die Realität mit anderen Augen zu betrachten, auf Distanz zu unaussprechlichen Schrecken zu gehen und die herkömmliche Wahrnehmung der Dinge infrage zu stellen. Für ihr eigenes Leben bedeutete das auch, die herkömmliche Rolle von Frauen ihrer Generation infrage zu stellen, die üblicherweise hübsch sein sollten, um früh einen gutsituierten Mann zu heiraten, nicht zu arbeiten und Kinder zu bekommen. Xi Xi hat nie geheiratet und hatte keine Kinder, hat aber ihr Leben lang gearbeitet. Als Grundschullehrerin, Drehbuchautorin, Essayistin, Literatin, Kunsthandwerkerin.
Kein gewöhnlicher Name also und auch kein gewöhnliches Pseudonym. Aber was ist schon „gewöhnlich“ an der Biografie einer Frau, die 1937 in das in jeweils ein chinesisches, japanisches, britisches, französisches und US-amerikanisches Konzessionsgebiet eingeteilte Shanghai geboren wurde und 1950 mit ihrer Familie nach Hongkong floh? In Kapitel 6 von Meine Stadt wird der liebenswerte Loser Mike Munter in einem Park beim Anblick eines Schilds mit der Aufschrift Gelbe Menschen und grüne Hunde verboten furchtbar wütend – eine Anspielung auf ein berüchtigtes Schild in einem Park der ausländischen Konzessionsbezirke Shanghais in den 1930er Jahren, auf dem es hieß, „Chinesen und Hunde verboten“. 1950 floh Xi Xi mit ihren Eltern dann nicht vor denen, die ein solches Schild aufgestellt hatten, sondern vor den chinesischen Kommunisten nach Hongkong. Auf die politischen Entwicklungen Hongkongs seit dieser Zeit, die in Meine Stadt eine wesentliche Rolle spielen, gehe ich weiter unten ein.
In Hongkong studierte sie am Grantham College of Education, wurde Grundschullehrerin und veröffentlichte erste Gedichte, bevor sie feste Kolumnistin des Hong Kong Movie News Magazine wurde und 1966 ihr erstes Filmdrehbuch und Songs schrieb, für den Film The Splendour of Youth von Chun Kim, einer Hongkonger Musical-Verfilmung des Romans Little Women von Louisa May Alcott. Weitere Drehbücher folgten und ihre Affinität zur filmischen Beobachtung und zum Musical sind in der Komposition von Meine Stadt in jeder Zeile spürbar. Einer ihrer frühen Hongkong-Romane heißt als Reverenz an Leonard Bernstein East Side Story.
Sie schrieb weiter, insgesamt sieben Romane und 21 Erzähl- und Essaybände. Als sie 1989 an Brustkrebs erkrankte, verlor sie infolge einer Operation das Gefühl in ihrer rechten Hand und lernte, mit der linken weiterzuschreiben, u.a. das erste öffentliche Bekenntnis in chinesischer Sprache über den Kampf einer Frau gegen den Brustkrebs, Trauer um eine Brust (1992; ausgezeichnet mit dem Book of the Year Award der China Times, Taiwan). Da das Schreiben zunächst sehr schwierig war, lernte sie, Puppen herzustellen, „um weiter an meinen Ideen arbeiten zu können“. Heraus kam eine Serie von Teddybären, meist im Gewand berühmter oder legendärer Figuren und später entstanden daraus Neuinterpretationen jener Legenden in Form des Erzählbands Die Teddybär-Chroniken. Zahlreiche späte Fotos zeigen sie mit einer dieser selbstgemachten Stoffpuppen, für die sie ebenfalls ausgezeichnet wurde. Die Handarbeit gehörte für sie zu ihrer kreativen Arbeit als Autorin. Obwohl sie sich nicht als Feministin bezeichnete („ich verschreibe mich keinen -ismen“, sagte sie in einem Interview, und fuhr fort: „Frauen wurden schon immer ausgebeutet, genauso wie Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder ihrer Sprache diskriminiert wurden“), schrieb sie ihr Leben lang gegen Stereotype der Weiblichkeit an, wie in ihrer Erzählung Eine Frau wie ich, in der eine junge Leichenwäscherin wegen ihres ungewöhnlichen Berufs keine dauerhafte romantische Beziehung findet.
Die meisten von Xi Xis Romanen und Erzählungen wurden ins Englische übersetzt, ins Deutsche lag bislang keine Übersetzung vor.
Meine Stadt
Waren Sie schon einmal in Hongkong, dieser hoffnungslos überfüllten, segregierten, schwülheißen, hügeligen, ausgebeuteten, verlorenen Stadt, kennen Sie die Postkartenbilder von roten Dschunken vor dem von Stararchitekt Norman Foster entworfenen Gebäude der Hongkong & Shanghai Banking Corporation? Den schwülwarmen Blütenduft, die knarrende Peak Tram, die Holzvertäfelung der Star Ferry, die mit Neonreklamen gepflasterten Stadtviertel wie Sha Tin, die an frühe Jackie Chan-Filme denken lassen, die vielen Inseln, die Pferderennen in Happy Valley, die an der Busstation Schlange stehenden Mädchen in Schuluniform; die Servierwagen, beladen mit köstlichen Dim Sum zum Sonntagsbrunch in einem der Hotels, mit vorbildlicher Untertreibungskunst kantonesisch „yam cha“ („Tee trinken“) genannt, ein Lieblingsritual kantonesischer Familien; das Bruce-Lee-Denkmal am Kai, das unverschämt stylishe Peninsula-Hotel, die unverschämt eingepferchten alten Tempel, die philippinischen Kindermädchen, die sich sonntags auf den Skywalks am Central Pier treffen, auf dem Boden picknickend; die saufenden Expats vor dem Fringe-Club. Und dann das Frohlocken beim Hinein- und Durchlesen von Meine Stadt: Von alldem handelt dieser Hongkong-Roman kaum. Er handelt von den unsichtbaren, hart arbeitenden Massen, die diese Stadt am Laufen halten.
Dieser Roman ist eine Großstadtsinfonie – ein Begriff, der in zweierlei Hinsicht den Charakter des Erzählstils trifft: Zum einen denke ich unmittelbar an den Film Berlin – Die Sinfonie der Großstadt von Walther Ruttmann (1927), von dem ich nicht weiß, ob die Autorin ihn kannte, der aber die Stadt, in dem er sie als lebendigen Organismus zeigt, für sich selbst sprechen lässt, als unkommentiertes, nur durch Tempo, Filmschnitt und Kamerabewegung erzähltes Panorama. Wobei der Roman den Blick, anders als Ruttmanns Film, deutlich auf soziale und historische Phänomene und Probleme lenkt. Auch ist er nicht wie eine Sinfonie komponiert, aber hier ist Musik drin, Lieder, Geräusche und ein Kammerorchester von Charakteren.
Meine Stadt wurde zuerst als Serienroman veröffentlicht, mit täglicher Fortsetzung vom 30. Januar bis zum 30. Juni 1975, in der Hongkonger Zeitung Express Daily. Schon diese Beiträge wurden von den Zeichnungen der Autorin begleitet, die als fester Bestandteil des Romans Eingang in die Buchausgabe von 1999 und entsprechend in die deutsche Ausgabe fanden, 115 Zeichnungen sind es insgesamt, kindlich verspielt schmücken sie den Text und endlich weiß ich, wie ich mir A Clockwork Orange vorzustellen habe:
Für diese Erstveröffentlichung benutzte die Autorin noch nicht den nom de plume Xi Xi, sondern Aguo.
Aguo ist der Name des Ich-Erzählers von Meine Stadt und er ist das einzige Ich, dennoch ist er nicht das Alter Ego der Autorin, die durch den geschickten Wechsel zwischen Ich-Erzähler und auktorialem Erzähler aus vielen Perspektiven über ihre Stadt erzählt und ein buntes Panorama von Hongkong in den 1970er Jahren entfaltet. Wie in einem Filmschwenk wechselt sie von Aguos Weltsicht und Geschichte zu der seiner Schwester Afa, seiner Mutter, dem „Türwart“ Abei, Aguos Freunden wie Mike Munter, der ständig den Job wechselt, zu Ayou dem Seefahrer auf dem Weg nach Argentinien, zu einem lebensmüden Paar, einem jungen Unternehmenstrainee auf einer einsamen Insel oder zu einem fanatischen Büchervermesser. Dennoch wird auch in den Kapiteln ohne ein Ich Aguos beobachtende Erzählstimme beibehalten, es ist Aguo, der die anderen Protagonist·innen vorstellt, in dem er vorübergehend in ihre Rollen schlüpft. Alle teilen letztendlich dasselbe Schicksal – sie sind einfache Leute in einer von Flüchtlingsströmen, Kolonialgeschichte und sozialem Aufbruch bewegten Stadt, die sie lieben. Aguos kindlich-weiser „Alles wird gut“-Blick beobachtet alles, aber er bewertet nichts. Das Urteil bleibt immer den Leserinnen und Lesern überlassen, die sich selbst einen Reim auf die zahlreichen Anspielungen auf Wohnungsnot, Hunger, Flucht, Krieg, Rassismus oder kollektiven Selbstmord machen müssen.
Die Autorin spart nicht mit indirekten (hin und wieder auch direkten) Referenzen auf Werke der Kunst, des Films, der Musik und der Literatur, die Meine Stadt in Inhalt und Form spielerisch aufnimmt. Dazu gehört der magische Realismus, auf den im Roman mehrmals explizit verwiesen wird: Als die Bücher der vergessenen, ungenutzten Bibliothek in Aguos Haus in Kapitel 7 eine Leserin finden, seufzen die Bücher: „Endlich ist Schluss mit hundert Jahren Einsamkeit“. An einer Stelle des Romans mischt sich unerwartet die Stimme der Autorin in den Roman ein, in Form eines „Papierhaufens namens Unsinn“, der zusammen mit zahllosen anderen „Papierhaufen“ die Wohnung eines Manns einnimmt, der diese Haufen mit einer beachtlichen Kollektion von Linealen vermisst. Ein Literaturkritiker also. Der Papierhaufen „Unsinn“ wehrt sich dagegen, vermessen zu werden:
Bitte miss mich nicht mit diesen Linealen! flehte das Papier.
Der Mann aus dem Obergeschoss nickte bedächtig. In dem Haufen Papier, den er las, kamen folgende Personen vor: Ein Aguo, der gerne „Wir backen Brot wir backen Brot“ singt; eine Afa, die mit einem Wecker zusammenlebt; eine Youyou, die ein Rhinozeros mit vier Zehen zeichnet; ein Asha, der weiß, wo man Ananas findet; ein Mike Munter, dessen Wände voll mit roten Chilis hängen; ein Abei, der weiß, wie man richtig gute Türen macht.
Beim Lesen plauderte er ein wenig mit den beschriebenen Seiten.
– Wie heißt du? fragte er.
– Ich heiße Unsinn, antwortete das beschriebene Papier.Die Lineale hatten entdeckt, dass ihr Besitzer in die Lektüre von Papierseiten vertieft war, und freuten sich schon: Gleich bekommen wir wieder was zum Messen, riefen sie. Sie schubsten und drängelten sich vor, jeder wollte der Erste vor dem Papierhaufen sein.
[...]
Der Mann aus dem Obergeschoss hatte inzwischen schon ziemlich viele Seiten gelesen. Dabei strich er manche Seiten mit einem Bleistift an. Dann nahm er die markierten Stellen und fragte Unsinn:
– Wie fing es an
– Was war der Auslöser, meine ich, fragte er.
– Ich hatte eine Jeans gesehen
– Deswegen, antwortete Unsinn.Das stimmt. Ich lief auf der Straße und sah eine Jeans. Und ich sah, dass der Mensch in der Jeans ein bequemes Baumwollshirt trug, Turnschuhe an den Füßen, eine einfache Segeltuchtasche auf dem Rücken, auf dem Weg zu einem Ausflug. Ich musste daran denken, wie anders die Leute heute leben; keine weiten Tellerröcke mehr, keine gestärkten weißen Hemden. Die Stadt ist eine andere geworden: keine chinesischen Trommeln und Tröten mehr in den Gassen, keine Armeen von Fahrrädern mehr auf den Straßen. So fing es an.
Dann war da noch das Wetter. Sunny season. Das lange Haar des Menschen in Jeans leuchtete wie ein Sonnenstrahl, sein Gesicht hatte die Farbe von gekochtem Hummer. Wir waren der kranken Blässe, dem großen schwarzen Flügel des Sein oder Nichtsein entronnen. So fing es an.
Der im Obergeschoss wohnende Mann blätterte den Stapel durch und deutete auf eine angestrichene Stelle.
– Hier
– Du erwähnst Tout va bien, sagte er.
– So fing es an
– Ich fing an Unsinn zu reden à la Tout va bien, antwortete Unsinn.Was Tout va bien betrifft, verhält es sich so. Unsinn mag Tout va bien, weil er das Lied gesungen hat: Solange die gute alte Sonne über uns scheint, wird alles gut. Tout va bien ist auch ein Film. Der Filmregisseur setzt seine Werke wie Collagen zusammen. Außerdem verfolgt er seine Darsteller gern mit der Handkamera, bildet die Bewegung mit einer langen Kamerafahrt nach oder dreht eine komplette Szene in einer einzigen Einstellung.
– Meine Erzählweise folgt der Bewegung
– Es sind Collagen, sagte Unsinn.[...]
Der Mann aus dem Obergeschoss hat nichts gegen vorgefertigte Werke. Er zieht einen Stapel Collagen aus einer Ecke, darunter auch Werke des Regisseurs von Tout va bien. Sieh mal, sagt er, diese Collagen verleihen Altbekanntem neuen Sinn und Witz. Deine Collage aber ist wie ein Korb frisch geernteter Kartoffeln.
[...]
(Meine Stadt, S.228-30)
Anschließend hält „der Mann aus dem Obergeschoss“ dem Papierhaufen namens Unsinn vor, sich Hundert Jahre Einsamkeit zum Vorbild zu nehmen, aber nur Dinge zu erzählen, die nicht plausibel erscheinen – um dann eine herrlich unplausible Stelle aus Gabriel García Marquez‘ Hundert Jahre Einsamkeit vorzulesen.
Ich behaupte, dass wir hier die Stimme der Autorin hören, weil sie in einem Gespräch mit Ho Fuk-yan über Meine Stadt und seine experimentelle Form einmal sagte, dass sie keine „existenzialistischen“ Romane mehr schreiben wollte, sondern mit einer positiveren Haltung über Existenz schreiben wollte, einer Haltung, die sie in innovativen Filmen wie Yellow Submarine (George Dunning/The Beatles, 1968) oder Zazie in der Metro (Louis Malle, 1960) vorfand: „Warum nicht einen Roman schreiben, der wie diese Filme ist? Einen Roman über junge Menschen ... Viele junge Menschen in Hongkong waren damals wie die Beatles, lebendig und voller Energie, trugen Jeans und sangen Folksongs. Und dabei handelten sie ziemlich vernünftig und hatten einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn ... trotz aller Schwierigkeiten verrichteten sie harte Arbeit mit einem glücklichen Optimismus. Diesen unbesungenen Helden ist mein Roman gewidmet.“
Der Roman handelt also von einer Stadt, die im ganzen Roman kein einziges Mal beim Namen genannt wird, aber keine andere Stadt sein könnte als Hongkong. Ähnlichkeiten mit einer echten Stadt sind also nicht rein zufällig. Nun scheint eine Stadt als Protagonistin eines Romans ein bisschen gefühllos, wir möchten mitgehen und mitfühlen mit unserer Protagonistin. Kein Problem, denn diese Stadt spricht, fühlt, sieht, denkt, sie braucht nur jemanden, der ihr Seelenleben wahrnimmt und festhält. Dafür gibt es den oben erwähnten Aguo. Aguo ist ein junger Mann, vielleicht 16, 17 Jahre alt, im ersten Kapitel vermutlich noch ein Kind. Er ist vom ersten Satz an da und erkundet das alte Haus, das die je nach Verfassung „Lotusblumen“ oder „Lotuswurzeln“ genannten Tanten ihm und seiner Familie vermacht haben. Ein Haus, in dem alle Türen sorgfältig von Türwart Abei gepflegt, gehütet und erneuert werden. Wir erfahren nichts über Aguo außer dem, was er uns selbst in verschiedenen, unzusammenhängenden Kapiteln erzählt. Dass er gerade die Schule abgeschlossen hat und sich bei der Telefongesellschaft um Arbeit bewirbt, weil ihm deren Anzeige gut gefällt und weil er Kommunikation und damit das Telefon als technisches Hilfsmittel der menschlichen Kommunikation sehr wichtig findet. Über Aguo lernen wir seine Familie und seine Freunde kennen und mit ihm und ihnen die Stadt. Man ahnt es: Dies ist kein linear erzählter Roman, es gibt viele Geschichten, aber keine Geschichte; Stattdessen gibt es Bilder, Ansichten, Einsichten, magisch Realistisches und realistisch Magisches. Jean-Luc Godard spielt nicht mit, aber eine Rolle, Vietnamesische Bootsflüchtlinge spielen nicht mit, aber eine Rolle. Die Beatles spielen nicht mit, aber jedes Kapitel scheint (in meinem Kopf) mit einem ihrer Lieder untermalt: Strawberry Fields, Yellow Submarine, Penny Lane ...
Wie klingt Hongkong?
Was ist das für ein Roman? Wie ich zu Anfang des Journals bereits gestehe, kannte ich diesen Roman gar nicht, bevor die pfiffige Lektorin Sabine Erbrich des Suhrkamp Verlags ihn auf der Londoner Buchmesse aufspürte und ihn mir zum Übersetzen anbot (danke!). Ein Hongkong-Roman, endlich! Natürlich wollte ich den übersetzen. Beim ersten Lesen sprachen schlichte, lakonische Sätze in modernem Chinesisch im Vergleich zu den historisierenden Kung-Fu-Sprachpossen, die ich zuletzt übersetzt hatte, für ein leichtes Spiel. Dabei hätte ich wissen sollen, wie knifflig gerade die einfachsten Sätze zu übersetzen sind.
Zuallererst stellte sich die Frage, in welcher grammatischen Zeit man diese Collage aus Momentaufnahmen, Beobachtungen, Anekdoten, Zitaten und Rückblenden wiedergibt. Das Chinesische selbst kennt keine Flexion und daher keine Tempi, nur bestimmte grammatische Markierungen (Partikel) oder temporale Adverbien geben einen Hinweis auf die Erzählzeit. Die Unmittelbarkeit, die suggerierte Gleichzeitigkeit von Bildern, erreicht man im Deutschen am ehesten durch die Verwendung des Präsens. Da es sich nicht um eine linear erzählte Geschichte handelt, weiche ich daher bewusst von der sonst üblichen Erzählzeit (dem Imperfekt) ab, außer dann, wenn im Original der Blick zurück in die Vergangenheit geht.
Wie schon die schwierige Beschreibung des Inhalts zeigt, ist Meine Stadt not your usual Chinese novel. Wieso wechsle ich schon wieder ins Englische? Weil wir das alle ständig tun und weil dieser Roman aus mehr als einer Sprache übersetzt wurde. Abgesehen davon – die Kenntnis von nur zwei Sprachen (der Ausgangs- und Zielsprache einer Übersetzung) hat noch nie genügt, um moderne Literatur zu übersetzen, denn die ist nun einmal selbst ein Produkt moderner Weltliteraturen, Etymologien oder, wie in diesem Fall, Kolonialgeschichte.
Hier kommt das nächste Geständnis: Ich spreche kein Kantonesisch. Warum steht dann in der deutschen Ausgabe „aus dem kantonesischen Chinesisch übersetzt“? Eine Ahnung, warum das Bewusstsein für die Unterschiede zwischen dem Chinesischen und Kantonesischen für die Übersetzung eine Rolle spielen, bekommt man schon bei der Erwähnung der vielen Namen der Autorin weiter oben, oder?
Der kantonesische Dialekt unterscheidet sich in der Aussprache und im Vokabular etwa so stark vom Hochchinesischen wie Schweizerdeutsch von Hochdeutsch, die Schriftsprache ist jedoch weitgehend dieselbe; abgesehen davon, dass man in Hongkong und Taiwan die traditionellen Langzeichen verwendet, während man in der Volksrepublik China seit den 1950er Jahren in Kurzzeichen schreibt. Die Vereinfachung komplexer Schriftzeichen (eine Reduktion der Strichzahl, die es zum Schreiben eines Schriftzeichens braucht) sollte dort der schnelleren Alphabetisierung der Bevölkerung dienen. Das betrifft jedoch nur einen Teil der Schriftzeichen. Wer Langzeichen beherrscht, kann in der Regel auch Kurzzeichen lesen, umgekehrt ist es ein bisschen schwieriger; aber die meisten Menschen mit höherer Schulbildung aus der VR China lesen auch Langzeichen problemlos. Und auch ich habe zum Glück Langzeichen zu lesen und zu schreiben gelernt. Während aber z.B. die Romane des Hongkonger Autors Jin Yong für mich eindeutig „aus dem Chinesischen“ übersetzt sind, ist das im Fall von Meine Stadt anders. Xi Xi bedient sich bewusst auch in der Schriftsprache der mündlichen Eigenarten des Kantonesischen, sie verwendet Dialekt-Vokabular oder nur im Kantonesischen übliche Anglizismen (zum Beispiel的士 diksi, eine lautmalerische Anlehnung an „Taxi“ statt Hochchinesisch 出租車chuzuche); außerdem orientiert sich ihre Syntax oft an der kantonesischen Mündlichkeit, zu deren neben Anglizismen das charakteristische „la“ (啦) am Satzende gehört. Entsprechend habe ich nicht nur in den Dialogen, sondern auch vor allem dort, wo aus Aguos Perspektive erzählt wird, umgangssprachliche Akzente gesetzt oder mit englischen Einschüben gearbeitet, manchmal nicht exakt dort, wo sie im Original stehen oder nicht mit den im Original verwendeten Anglizismen, sondern dort, wo sie im selben Kontext die Kolonialisierung der Sprache stärker betonen und mit solchen Vokabeln, die im Deutschen ähnlich idiomatisch verstanden werden.
Zahlreiche lautmalerische Wortspiele der Autorin kann man zudem nicht übersetzen, wenn man nicht mit der kantonesischen Aussprache einiger Namen und Begriffe vertraut ist – oder sie recherchiert, in dem man Hongkonger Freunde fragt (zum Glück habe ich welche) oder z.B. das Lehrbuch Phrases in Cantonese von Betty Hung benutzt, mit dem ich mir einiges beigebracht habe. Und auch Webseiten wie diese waren nützlich: An Idiots Guide to Horse Racing
Typisch sind auch aus der europäischen Tradition stammende Zitate und Lieder, wie der Kanon Frère Jacques, der in einer Hongkonger Verballhornung zu einem Lied über lästige Mücken wird, das ich in einen silbengerechten Kanon bringen musste:
Schau im Netz summt, schau im Netz summt / Mük-ken-volk, Mük-ken-volk / hol mal schnell den Fächer, hol mal schnell den Fächer / wirf sie raus, wirf sie raus. (Meine Stadt, S. 159)
Der Name „Hongkong“ fällt in der Geschichte wie gesagt kein einziges Mal, ebenso werden sämtliche Namen von Orten, Stadtteilen oder Inseln verfremdet und auch Institutionen und Sehenswürdigkeiten versieht die Autorin mit verfremdeten oder sprechenden Namen, für die dann in der Übersetzung „Bergkletterbahn“ statt Peak Tram herauskommt oder „Stars and Stripes-Beziehungspflegeamt“ statt US-Amerikanische Botschaft. Ob man die verfremdeten Namen erkennt oder nicht, ist unerheblich. Sie sind ein Spiel mit dem Blick des kindlichen Beobachters, der auch leicht ins Phantastische abdriftet: „Die Autos fahren aus Richtung Großbaumpark die Staatsstraße herunter, (...) wo sie immerzu im Kreis fahren, rund, rund, kugelrund, rund wie Chrysanthemenkringel, Hirsekrapfen, Klebreisbällchen“ (Kapitel 1, S. 17).
Dabei durchdringen Hongkongs Geschichte und die hügelige, weiche Topografie der Hafenstadt mit ihrem grünen Hinterland den gesamten Text. Diese veränderten Namen, die für Hongkonger und Hongkong-Kundige wiedererkennbar sind, verlangten nach passenden kreativen Lösungen im Deutschen. Statt Tsim Sha Tsui (Spitze Sandbank), einem zentralen Hongkonger Stadtteil, schreibt Xi Xi z.B. Fei Sha Tsui (Fette Sandbank) – das Schriftzeichen für „spitz, dünn“ wurde durch „fett“ ersetzt. Würde man die Namen im Wortsinn übersetzen, ginge das Wortspiel verloren. Meine erste Lösung arbeitete mit Verdopplungen, bei denen Hongkong-Kundige den eigentlichen Namen wiedererkennen können und gleichzeitig deutlich wird, dass es Kunstnamen sind, also „Shashatsui“ für „Tsim Sha Tsui“ oder Makakau für die Nachbarkolonie Macao.
Diese Lösung funktioniert dann aber nicht mehr, wenn in Kapitel 12 vier der im Roman genannten, verfremdeten Ortsnamen zum Teil eines Rätsels werden, das auf Hongkongs Topografie anspielt (die vielen runden Buchten). Darum heißen sie in meiner Übersetzung jetzt Schlangshatsui, Hornhogau, Teichtatung und Rundruwan:
Danach gibt es Rätselraten: ein Kreis im Wasser. Demjenigen, der uns raten lässt, ist klar, dass wir zu denen gehören, die denken, dass Raupen sich in Schmetterlinge verwandeln, deshalb gibt er uns einen wichtigen Tipp: Denkt an die Form. Dann sagt er noch: Denkt an den Namen eines Bezirks in dieser Stadt.
– Ich weiß es, platzt Mike Munter sofort heraus, Teichtatung!
Er zeichnet mit einem Stück Kohle einen Kreis, der eindeutig aussieht wie ein Teich. Das muss es sein! Aber der Rätselsteller schüttelt den Kopf.
– Hornhogau!
ruft Asha. Wenn man zwei halbrunde Hörner zusammenfügt, ergibt das einen Kreis, sagt er. Wieder schüttelt der Rätselsteller den Kopf.
– Schlangshatsui!
ruft jetzt Atan. Unter allen Leuten hier ist er der Schlauste, schließlich liest er den ganzen Tag Krimis und hat einen Sinn für das Lösen kniffliger Fälle. Alle klatschen, weil sie denken, dass Atan das Rätsel gelöst hat. Aber der Rätselsteller schüttelt wieder den Kopf. Als nach einer Weile immer noch keiner von uns die richtige Antwort gefunden hat, verrät er es uns. Rundruwan!
(Meine Stadt, S. 159/60)
接着是猜谜。谜面是:一个圆圈。出谜语的人知道大家都是些只知道蝴蝶是毛虫变的人,因此,特别给了重要的提示:要从形状方面去想。并且说,猜的是这个城市里一个地区的名字。
麦快乐立刻就喊起来了,我知道了,他喊,是荷塘哪。
麦快乐在地上用一块炭画了一个圆圈,那形状,像一个荷花池。所以他说是荷塘。出谜面的人却摇摇头。
——是牛角
阿傻喊。他说两只牛角围在一起,就是一个圆圈了。出谜面的人又摇摇头。
——是肥沙嘴
这次喊的是阿探。在这么多的人里面,头脑最灵活的是阿探,因为他一天到晚看侦探小说,又有深究的精神。大家于是拍起手来,认为阿探一定猜着了。可是,出谜面的人又摇摇头。结果,过了很久还没有人猜着,谜底原来是全弯。
(Original Xi Xi西西Wo Cheng我城Hung-fan Bookstore, Taipeh 1999, S.151/52)
Zu solchen mit dem Kantonesischen spielenden Eigenarten des Texts fordert Xi Xis spielerischer Umgang mit Sprache noch weitere kreative sprachliche Lösungen in der Übersetzung. Dazu gehören das Ironisieren formalisierter Behördensprache oder unbeholfene Übersetzungen englischer Hinweisschilder ins Chinesische („Straße überqueren langsam“; Kapitel 1). Dann wieder sind es Anspielungen auf klassische chinesische Literatur, wie die Aufzeichnungen des Historikers, womit eines der berühmtesten Werke chinesischer Geschichtsschreibung, das Shiji von Sima Qian (145-90 v. Chr.) gemeint ist. Vor der oben zitierten Stelle heißt es in Kapitel 12:
Nachdem der Typ mit dem Mückenschutz im Gesicht seinen Mückenkanon gesungen hat, steht der neben ihm auf. Seine Vorstellung heißt Selbstvorstellung. Er sagt, er ist ein ziemlich dummer Typ. Einmal hat ein gelehrter Mensch gefragt: Was verwandelt sich in einen Schmetterling? Und alle haben geantwortet: Meister Zhuang! Aber er hat geantwortet: Eine Raupe.
(Meine Stadt, S. 157)
Den Witz dieser Passage kann man im Grunde nur verstehen, wenn man schon einmal etwas von dem berühmten Schmetterlingstraum des Philosophen Zhuangzi gehört hat (in der deutschen Übersetzung von Richard Wilhelm: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland). Meister Zhuang erzählt, wie er einmal träumte, als schöner Schmetterling durch die Lüfte zu flattern. Als er aufwacht, weiß er nicht mehr, ob er ein Schmetterling ist, der träumt, Meister Zhuang zu sein oder Meister Zhuang, der träumt, ein Schmetterling zu sein. In China kennt diese Geschichte jedes Kind (naja, mancher eben doch nicht ...). Natürlich hätte ich dazu eine Anmerkung machen können oder zu weiteren Begriffen ein Glossar anfügen können. Andererseits: So unbekannt ist diese Geschichte auch hierzulande nicht und auch in deutscher Literatur versteht nicht jeder jede Anspielung. Außerdem gibt es jetzt dieses Journal.
Sprache(n) und Identität(en)
Wenn ich oben von mir als traduttora tradittora spreche, finde ich mich in diesem Roman in bester Gesellschaft. Sprache (be)trügt. An mehr als einer Stelle diskutiert Meine Stadt auf schönste unangestrengte Weise, warum manche Begriffe nicht sind, was sie scheinen.
Xi Xis Spiel mit der Sprache ist auch ein Spiel mit der Identität der Bevölkerung ihrer Stadt. Chinesisch wurde erst 1974 zweite Amtssprache Hongkongs. Wer in Hongkong aufwuchs, jonglierte daher permanent drei Sprachen: Man schrieb Chinesisch, sprach Kantonesisch und zwangsweise auch die Amtssprache Englisch – und jede dieser Sprachen fühlte sich falsch an. In Kapitel 12 denkt Aguo über seine Identität nach:
Und wenn ich zum Beispiel noch früher geboren wäre, dann hätte ich möglicherweise den Gelben Kaiser zu Gesicht bekommen. Ich mag den Gelben Kaiser. Er hat den Kompasswagen erfunden und hatte großen Mut. Ich bin sehr stolz darauf, von ihm abzustammen. Würde mich jemand fragen, wen ich mir zum Vorfahren wünsche – Alexander den Großen, Julius Cäsar oder Richard Löwenherz, wäre meine Antwort: den Gelben Kaiser. Dann würde derjenige sagen: Was hat man denn hier davon, ein Nachfahre des Gelben Kaisers zu sein? Da bekommt man nicht einmal einen Pass.
Ich habe keinen Pass. Wenn jemand von hier woandershin verreisen will, heißt es, bekommt er eine Menge Ärger. Menschen aus dieser Stadt, die keinen Pass haben und verreisen möchten, brauchen einen Stadtausweis. Der Ausweis gilt als Nachweis dafür, dass du von hier bist, dass du Einwohner dieser Stadt bist.
– Was ist denn deine Staatsangehörigkeit, fragen die Leute, weil das für sie ziemlich ungewöhnlich klingt. Und du antwortest, naja, also, Staatsangehörigkeit, nun ... du wirfst einen Blick in deinen Personalausweis und noch einen und stellst fest, du hast keine Staatsangehörigkeit, nur eine Stadtangehörigkeit.
[...]
Wenn man in dieser Stadt von einem Omnibus spricht, sagt man bas. Wenn man von einer Sahnetorte spricht, dann sagt man flesh klim kek. Deshalb streiten sich in dieser Stadt häufig das Gehirn, der Mund und die Hand, die schreibt. Die Hand sagt: Wenn du willst, dass ich Eiskrem schreibe, warum sagst du dann ständig ais klim. Der Mund sagt: Wenn ich dir doch sage, dass die beiden dort lefeli und lainsmen heißen, warum schreibst du dann ständig Schiedsrichter und Linienrichter?
So streiten sie jeden Tag, das Gehirn, der Mund und die Hand, schon seit über hundert Jahren. Deshalb haben sie entschieden, sich einen öffentlichen Schlagabtausch zu liefern.
(Meine Stadt, S. 158/59)
An anderer Stelle berufen die Ananasse auf einem Feld eine Krisensitzung ein, in der es darum geht „ihren guten Namen zu schützen“:
Die Ananasse haben eine Sitzung einberufen und debattieren darüber, das Wort „Ananas“ patentieren zu lassen, damit niemand auf die Idee kommt, es zu verwenden, wie es ihm beliebt. Vor hundert Jahren hat das Volk der Ananasse schon einmal seinen Namen patentieren lassen. Damals wurden sie unter „Phönixbirne“ registriert.
– Wir müssen den guten Ruf der Ananas verteidigen
– Wir sind Obst, ruft eine Ananas.
– Wir sind süß und duftend
– Wir sind kein Cocktail, ruft eine andere.Es geschah einmal, dass eine Menge Leute auf der Straße riefen: „Da, eine Ananas!“ Das hörten ein paar Kinder und sagten: „Oh Ananas, lecker! Kommt, wir essen Ananas.“ Und dann rannten alle zu der Ananas hin. Wer hätte gedacht, dass diese seltsame Ananas nicht nur die Münder der Kinder auffressen würde, sondern auch ihre Finger.
Wie man sieht, handelt es sich bei einer Ananas auf der Straße nicht unbedingt um eine echte Ananas. Das hat den Widerstand der Ananasse provoziert. Wer kein Dichter ist, ist kein Dichter, wer keine Ananas ist, ist keine Ananas, sagten sie.
Ein anderes Mal spielten zwei Gruppen von Menschen in zwei getrennten Gräben auf einem leeren Feld miteinander Verstecken. Freudig rannten sie aufeinander zu und voneinander weg, ich krieg dich du kriegst mich nicht und wollten gar nicht mehr aufhören. Dann lud die eine Gruppe auf einmal die andere ein: Kommt, wir trinken Cocktails, einen ganz berühmten, er heißt nach einem berühmten Mann, nämlich Molotow! Die Versteckspieler kamen alle aus ihren Verstecken zum Cocktailtrinken, und wurden davon so betrunken, dass sie nie wieder aufwachten.
Das ist der Grund, weshalb die Ananas sicherstellen will, dass ihr Name patentiert wird. Denn auch dieser spezielle Cocktail wird manchmal Ananas genannt.
(Meine Stadt, S.163)
Blu 3 Pineapple Bomb Vietnam War © IWM MUN 3445
Meine Stadt ist ein multiperspektivischer Heimatroman, der von Hongkong als einer Stadt im ständigen Wandel erzählt, geprägt von Migrationsbewegungen und politischer Ungewissheit. Nach den Übergabeverhandlungen zwischen Großbritannien und der Volksrepublik China 1984 prägte Xi Xi in einem Interview den Begriff von der „Stadt in der Schwebe“.
1842, als Hongkong am Ende des Ersten Opiumkriegs dem Vertrag von Nanjing dem Britischen Empire zugesprochen wurde, war die Insel ein unbedeutendes Fischerdorf, das später vor allem mit immer neuen Flüchtlingsströmen wuchs. In den 1920er und 1930er Jahren kamen wohlhabende Chinesen, Kaufleute und Handwerker, die vor der politisch instabilen Situation der jungen Republik China flüchteten und den Aufstieg der Kronkolonie zu einer der wichtigsten Produktionsstätten Asiens beschleunigten. Hongkongs Bevölkerungszahl verdreifachte sich auf etwa 1,6 Millionen. Nach der Schlacht um Hongkong besetzten 1941 japanische Truppen die Stadt, internierten britische Soldaten und Zivilisten und siedelten zahlreiche chinesische Einwanderer zurück auf das Festland um, sodass die Bevölkerung bis 1945 wieder auf 600.000 schrumpfte.
Einige Anspielungen auf diese Zeit finden sich in Kapitel 7 – der Dichterlehrling, der auf eine „riesige, abstrakte Tür achtgeben“ muss (wie viele der jungen Männer, die nach China gingen, um dort gegen die japanischen Besatzer zu kämpfen); der „Vater der Lotusblumen“, der mit seiner Familie vor den Besatzern aufs Land flieht; die Eisenbahnwaggons voller Särge, die Youyou als Kind gesehen hat, oder ihr ehemaliges Klassenzimmer in der Militärbaracke.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die britische Verwaltung in der Kolonie wiederhergestellt war, kehrten nicht nur viele der Zwangsumgesiedelten zurück, auch zahlreiche weitere Familien flohen wegen tatsächlicher oder befürchteter Repressalien durch die Kommunisten vom chinesischen Festland nach Hongkong. Man muss Hongkongs Geschichte nicht kennen, um den Roman mit Gewinn zu lesen, aber Sätze wie der von den „Zugvögeln, die ganz allein den Weg nach Süden fanden“, in Kapitel 2 ergeben mit diesem Wissen neuen Sinn.
Die 1970er Jahre waren das Jahrzehnt, in dem sich Hongkong von einer seit 1842 ausgebeuteten Kolonie zu einer attraktiven globalen Metropole mit Mitbestimmungsrechten und sozialer Sicherheit für die lokale Bevölkerung emanzipierte. Zu verdanken war das dem reformorientierten Gouverneur Sir Murray MacLehose (Amtszeit 1971-82), der u.a. neun Jahre kostenfreie, verbindliche Schulpflicht, ein Sozialversicherungssystem, öffentlichen Wohnungsbau, den Ausbau des Gesundheitssystems und die Gründung neuer Hospitäler einführte und förderte. Es waren junge Lehrerinnen wie Xi Xi, die durch Proteste auf die dringend notwendigen Reformen gedrängt hatten. Von den Reformen profitierte die Stadt in jeder Hinsicht. Bevor mit Beginn der 1980er Jahre Produkte „Made in China“ auf den europäischen Markt drangen, waren asiatische Importprodukte zumeist „Made in Hongkong“. Schließlich machten eine gut ausgebildete Bevölkerung, eine ständig verbesserte Infrastruktur und die erfolgreiche Arbeit der Antikorruptionsbehörde Hongkong zunehmend für ausländische Unternehmer attraktiv und beschleunigten die Entwicklung von der Produktions- zur Finanzmetropole.
Shanghai Street in Hongkong
Tsim Sha Tsui Clock tower
Um kostenintensive Sozialleistungen, Wohnungen und die Teilhabe am Wohlstand der Stadt für alle zu garantieren, begrenzte die britische Verwaltung die Einwanderung vom Festland. Neben den Flüchtlingen aus der Volksrepublik China, die oft zu Fuß über Land kamen, suchten nach dem Ende des Vietnamkriegs 1975 Zehntausende von Bootsflüchtlingen aus Indochina Asyl in Ländern des südchinesischen Meers und in Hongkong. Häufig wurden die Ankommenden wegen überfüllter Auffanglager abgewiesen. Davon erzählt u.a. Kapitel 14, das von der Hafenstadt und vom jungen Seefahrer Ayou handelt, aber auch von Flüchtlingslagern und von dem „Schiff mit dreitausend Menschen, das alle Häfen mit langen Gesichtern empfingen“.
Die Erwähnung dieses Schiffs erinnerte mich beim Lesen an die Rettungsaktion vietnamesischer „Boat People“ durch die Cap Anamur des Journalisten Rupert Neudeck („Ein Schiff für Vietnam“), die in meiner bundesrepublikanischen Kindheit Schlagzeilen machten. Damals nahmen die USA und Frankreich wegen ihrer Beteiligung am Vietnamkrieg mit Abstand die meisten Boat People auf. Die Bundesregierung hielt sich zurück, bis sie 1978 auf Druck der Bevölkerung die ersten tausend Boat People aufnahm. Die Geschichte riskanter Flucht per Boot, von Schleppern, beherzten Helfern und die Diskussion um Menschen und Quoten ist nicht neu.
Mit der sozialen und politischen Emanzipation Hongkongs bekam die Metropole in den 1970er Jahren eine neue Identität – eben die, von der Meine Stadt erzählt. Der kulturell und historisch vom chinesischen Mutterland geprägten älteren Generation folgt eine Generation nach, die Jeans, blümchenverzierte Schuhe und lange Haare trägt, die Musik der Beatles hört und Filme der französischen Nouvelle Vague sieht, die in ihrer besonderen europäisch-chinesischen Prägung eigentlich nur in Hongkong zuhause sein kann, wie Aguo oder Mike Munter.
Die Beatles waren übrigens tatsächlich in Hongkong, zwei Konzerte gaben sie am 9. Juni 1964 und wie wir wissen, waren sie in jeder Hinsicht Avantgarde und auch kluge und witzige Beobachter (und Kritiker) der unreflektierten Sprachpolitik des Empires:
Die South China Morning Post vom 9. Juni 1964 bringt ein Interview mit den eben in Hongkong gelandeten Beatles:
“Q: ‘Would you like to go to China?’
“McCartney: ‘I thought this was China.’
“Lennon: ‘I could have sworn …’
“Harrison: ‘We got on the wrong plane.’”
The Beatles in Hong Kong 1964
Heute ist Hongkong wieder „China“; allerdings übt dort nun ein anderes Empire sprachpolizeiliche Gewalt aus und in Hongkong sehnt man sich in die in Meine Stadt besungenen Aufbruchsjahre der 70er zurück. Xi Xi, gesundheitlich zu schwach, um selbst auf die Straße zu gehen, war eine vehemente Unterstützerin der Proteste der monatelangen Demonstrationen 2019 gegen das inzwischen verabschiedete „Sicherheitsgesetz“ für den nicht mehr wirklich halbautonomen Stadtstaat.
Show, don’t tell
Gleich im ersten Kapitel mischen sich unter die vermeintlich naive Beobachtung eines Hongkonger Sonntags aktuelle Schlagzeilen aus Zeitungen, die darauf hinweisen, von welcher Zeit Meine Stadt handelt (mal stecken sie im Papierkorb, mal hat ein Mann seinen Fisch darin eingewickelt). Die wie zufällig aufgeblätterten Schlagzeilen sind als dokumentarische Fragmente Teil dieser erzählerischen Collage. Ebenso tauchen in mehreren Kapiteln Fotografen auf oder Hinweise auf Film- und Fototechnik. Aguos Hippiefreund Mike Munter wird anhand von (nicht gezeigten, nur beschriebenen) Fotos vorgestellt, deren Geschichte erzählt wird. Erst das Zusammenspiel von Fiktion, Bild und Dokument verdichtet sich im Kopf der Leser·innen zu einer Geschichte.
Als nächsten Programmpunkt führt einer vor, wie man einen Film dreht. Er leiht sich Ashas Kamera, zieht seine Turnschuhe aus, stellt sie auf die Wiese und beginnt mit professionellem Eifer, sie zu filmen. Er springt hoch, rennt hin und her, wirft sich flach auf die Erde und erklärt dabei, das hier ist ein Standbild, das hier ist eine Totale, das ist eine Nahaufnahme und das ist dies und dies ist das. Dann ist er fertig mit seinem Film und sagt, dass seine Turnschuhe garantiert einen Oscar für den besten Hauptdarsteller kriegen. (Meine Stadt, S. 157)
Dieser Roman besticht nicht durch eine mitreißende Handlung, sondern durch den mitreißenden Sog seiner an moderne Filmkunst erinnernde Erzählform, vor allem die experimentelle Montagetechnik der Nouvelle Vague. Mehrmals referenziert und in Kapitel 17 explizit erwähnt wird Jean-Luc Godards/Jean-Pierre Gorins Politdrama Tout va bien von 1972 (deutscher Titel: Alles in Butter), in dem Jane Fonda eine amerikanische Journalistin spielt, die zusammen mit ihrem filmenden französischen Geliebten (Yves Montand) den Inhaber einer Wurstfabrik interviewen will. Als die beiden in der Fabrik ankommen, wird dort gerade gestreikt, der Inhaber wird gefangengesetzt und die beiden gleich mit. Zusammen mit den Zuschauern werden sie in einen Diskurs über Arbeiterzorn und Klassenkampf verwickelt. Dabei verwendet Godard typische Brecht’sche Verfremdungseffekte (direkte Ansprache der Zuschauer durch Schauspieler, Auflistung der einzelnen Posten des Produktionsbudgets zu Filmbeginn, Einfügen von Dokumentarfilmschnipseln etc.) Ikonisch ist die Szene, in der die Kamera mit einer einzigen Einstellung an der wie ein Puppenhaus offenen Wurstfabrik entlangfährt und dabei das Parallelgeschehen in mehreren Räumen gleichzeitig einfängt:
la classe ouvrière tout va bien
In einem Kommentar zu Brechts Drama Der kaukasische Kreidekreis äußerte Xi Xi sich bewundernd über dessen „Durchbruch“ in der Sichtweise auf tradierte Formen von Gerechtigkeit wie bei König Salomo oder Richter Bao aus Li Qianfus historischem Drama Der Kreidekreis, das Brecht als Vorbild diente: „Brechts Durchbruch war, dass er das Kind seiner Adoptivmutter zugesprochen hat und nicht der leiblichen Mutter. Ich habe diesen Klassiker neu geschrieben [in ihrer Erzählung Der Kreidekreis der Fruchtbaren Stadt], um den Blick darauf zu lenken, was das Kind, das von allen Seiten gezerrt und gezogen wird, fühlt. Auch ein Kind hat etwas zu sagen.”
Zu meinem großen Glück wurde Tout va bien als Hommage an den im September 2022 verstorbenen Godard noch einmal im Kino des Deutschen Filmmuseums Frankfurt gezeigt, wo ich ihn mir während der Übersetzungsarbeit an Meine Stadt ansehen konnte. Die Bilder von Straßenkämpfen, roten Fahnen, politischen Parolen und Polizeigewalt erinnern natürlich auch an die blutigen Unruhen in Hongkong in den späten 1960er Jahren. Die menschenunwürdigen und diskriminierenden Arbeitsbedingungen für Chines·innen in den Hongkonger Fabriken und Dienstleistungsunternehmen hatten ab 1967 zu Demonstrationen, Generalstreiks und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und britischer Polizei geführt, zweifellos beflügelt durch die „Großen Proletarische Kulturrevolution“ (etwa 1966-76) auf dem chinesischen Festland. Zahlreiche, aber bei Weitem nicht alle, Demonstranten trugen Banner mit Mao-Parolen und forderten ein Ende der „‘reaktionären‘ britischen Herrschaft in Hongkong“. Durch selbstgebastelte Brandbomben (die meisten davon waren Attrappen) und britische Polizeigewalt kam es zu zahlreichen Verletzten und mehreren Dutzend Toten. Auch daran erinnert die oben zitierte Diskussion der empörten Ananasse.
Xi Xi liebte die Arbeit mit Bildern, was sich unschwer an ihren eigenen Illustrationen im Roman erkennen lässt. In mehreren Interviews und Vorworten zu ihren Romanen hat sie auf ihre Beschäftigung mit der fragmentarischen Malerei von Matisse, Miró und Picasso hingewiesen. Je häufiger man Meine Stadt liest, umso mehr solcher bildhaften Fragmente entdeckt man und es gehörte zur Arbeit dieser Übersetzung, nichts davon zu verstecken. Sie sind Teil eines Bildes, eines Gemäldes ohne Perspektive, in dem wie bei der kubistischen Malerei verschiedene Aspekte des abgebildeten Gegenstands aus unterschiedlichem Blickwinkel zusammengesetzt werden.
Der Topos von der Weisheit des kindlichen Blicks ist nicht neu. Xi Xi hat ihn in Meine Stadt einschließlich aller schmerzlichen Offenbarungen, die er verbirgt, mit singender Leichtigkeit durchexerziert.
„Unsere Ansichten und Ideen werden mit dem Alter nicht unbedingt reifer. Erwachsene werden gerne ‘welt-weise‘, sie haben den Vorteil der Erfahrung und natürlich ist es, ohne sich der Gefahren des täglichen Lebens bewusst zu sein, schwierig, richtig und falsch unterscheiden zu können. Zen-Meister Qingyuan Weixin sage einmal: „Berge sind Berge, Flüsse sind Flüsse.” Dieses Konzept repräsentiert die erste Stufe der Wirklichkeit. Nachdem er eine Weile meditiert hat, wird ihm bewusst, dass die Welt viel komplexer ist und nach gründlicher Kontemplation und angesichts der Unmöglichkeit, diese Komplexität zu entwirren, wird sein Satz zu: Berge sind keine Berge und Flüsse sind keine Flüsse. Das ist die zweite Stufe. Schließlich gelangt er zu einer dritten Stufe, endlich in der Lage, die Komplexität der Welt in aller Deutlichkeit zu erkennen, und kehrt zu seiner ursprünglichen Wahrnehmung zurück, in der Berge wieder Berge und Flüsse wieder Flüsse sind.
Will man diese dritte Stufe erreichen, musste man sich erst der Herausforderung und der Dekonstruktion der ursprünglichen Idee Berge sind Berge stellen. Was nicht heißen soll, dass ich diese dritte Stufe erreicht hätte, aber das ist es, wonach ich suche, wonach ich strebe. Manchmal versuche ich, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen, was natürlich nicht dasselbe ist, wie ein Kind zu sein, aber ich bin davon überzeugt, dass jeder Künstler die Welt mit dieser Einstellung betrachten sollte.“1