Journale Prosa Ich sehe, also bin ich

Ich sehe, also bin ich

Journal zur Übersetzung und Herausgabe von Ozean. Dinge, die ich gesehen habe von Victor Hugo

1 Am weiten Strand des Textes
2 Übungen im Trockenschwimmen
3 Die ersten Schwimmzüge
4 Allein auf hoher See
5 Die andere Seite des Meeres

1 Am weiten Strand des Textes

Vor mir breitet sich der Text wie ein Ozean aus: 1412 Seiten, mehr als 1000 Personen, unüberschaubar viele geographische Orte, 500 zitierte Werke, 5000-mal und mehr „Moi“. Victor Hugo hat Zeit seines Lebens an einer persönlichen Mikrogeschichte des Alltags gearbeitet, die nach seinem Tod in zwei Bänden unter dem Titel Choses vues, Océan und Tas de pierres veröffentlicht wurde. Hugo gab genaue Hinweise auf die spätere Edition seiner nachgelassenen Fragmente, von denen er wusste, wie disparat sie sind. Die Wahl des Titels Océan spielt auf die Allgegenwart des Meeres in Hugos Werk an. Mit dem Roman Les Travailleurs de la mer, den er auf der Kanalinsel Guernsey in Hauteville House schrieb und 1866 veröffentlichte, setzte der Autor dem Ozean ein literarisches Denkmal. Auch in Choses vues finden sich, vor allem aus der Exilzeit, Texte, in denen Hugo den Ozean zum Thema macht. Das Meer erscheint in Hugos Werk immer wieder als Metapher: für das Volk, für die Zukunft, für das Unabsehbare oder Unübersichtliche und auch für das Leben selbst.

Für mich war Océan ein sinnträchtiges Bild für die vor mir liegende Aufgabe: Eine umfassende Erstübersetzung des Nachlasses Victor Hugos ins Deutsche, die das gesamte posthum veröffentlichte Prosawerk des Autors berücksichtigt, dabei aber eine repräsentative Auswahl trifft. Bei dieser Ausgabe handelt es sich also nicht um eine historisch-kritische Edition, sondern um eine Leseausgabe der nachgelassenen Prosa Victor Hugos, deren Textauswahl die Jahre von 1825 bis zu Hugos Tod im Jahre 1885 abbildet und die von einem detaillierten Kommentar begleitet wird.

Victor Hugo, Alexander Pschera (Hg.): Ozean. Dinge, die ich gesehen habe. Matthes & Seitz Berlin, 2023.

Hinter mir lag die mehrjährige Arbeit an einer großen Edition (1259 Seiten) der Texte Léon Bloys. Ich hatte also schon Erfahrung mit diesen Dimensionen. Das französische 19. Jahrhundert ist mir ohnehin vertraut: Neben Bloy übersetzte ich bereits Werke von Joseph de Maistre, Louis de Bonald, Barbey d’Aurevilly und Charles Péguy – Autoren, deren stilistische Eigenheiten eine sehr poetische übersetzerische Herangehensweise und großes Fingerspitzengefühl erfordern. Hugos klarer, an der lateinischen Sprache geschulter Stil ist dagegen für den Übersetzer vergleichsweise unproblematisch ins Deutsche zu übertragen.

Aber dennoch flößte mir das Projekt gehörigen Respekt ein. Das lag vor allem an der Vielfalt der historischen Ereignisse und Bezüge, die der Text abbildet: Er setzt mit einem Bericht zur Krönung Karls X. ein (1824) ein und endet im Todesjahr Hugos 1885. Dazwischen liegen die Restaurationszeit, verschiedene Revolutionen, ein Staatsstreich, das zweite Kaiserreich, die Pariser Kommune, der Krieg von 1870/71 und die ersten Jahre der Dritten Republik. Hugo, der Pair von Frankreich und Abgeordneter war, beschreibt die politischen Vorgänge aus der Innenperspektive, was dazu führt, dass zahlreiche Minister, Volksvertreter, Militärs, einflussreiche Persönlichkeiten aus Gesellschaft und Kunst an den Leser·innen Revue passieren. Hugo war ein scharfer Kritiker der Todesstrafe. In seinen Aufzeichnungen setzt er sich intensiv mit dem französischen Rechts- und Strafsystem seiner Zeit auseinander. Hugo war zudem ein großer Reisender und Kunsthistoriker, der sich vor allem der Architektur des Mittelalters zuwandte – mit dem Resultat, dass seine autobiographischen Texte gespickt sind mit zum Teil heute außer Gebrauch geratenem Fachvokabular. Zu guter Letzt war Hugo nicht nur ein präziser Beobachter, sondern auch ein genauer Hinhörer, der dem Volk sozusagen aufs Maul schaute: In seinen Texten finden sich zahlreiche Argot-Wörter, teils in wiedergegebener direkter Rede, teils in Liedern und Gedichten, die der Autor in seinen Prosatext einflicht.

Zeichnung von Victor Hugo aus dem Jahr 1866.

2 Übungen im Trockenschwimmen

Ein Übersetzer, der sich diesem Text unmittelbar stellen würde, ohne vorher intensive historische und literarische Studien zu betreiben, würde sich nicht nur fahrlässig verhalten – er wäre nicht dazu in der Lage, dem deutschen Text eine nachvollziehbare Form zu geben. Obwohl die Uhr für das Projekt bereits unerbittlich tickte, vergrub ich mich also zunächst einmal in Bücher zur französischen Geschichte und Kultur des 19. Jahrhunderts, die mir in ihren feinen Verästelungen und Details nicht ausreichend präsent war. Auch die Lektüre der wichtigsten Literatur zu Victor Hugo gehörte zur notwendigen Vorbereitung. Vor allem leistete hier die große Biographie von Jean-Marc Hovasse hervorragende Dienste, obgleich der dritte Band, der die Jahre nach Victor Hugos Exil behandelt, noch nicht vorliegt.

Meine Absicht war, mich wie ein Schwamm mit Informationen und Assoziationen zur Lebenszeit Victor Hugos vollzusaugen. Dazu gehörten auch Fragen des Alltagslebens: Welche Kutschentypen gab es im Jahr 1837? Wie kleideten sich die Damen und Herren der Pariser Oberschicht im Jahr 1840? Welche Hüte waren 1851 in Mode? Wie roch es in den Elendsvierteln der Vorstädte? Wie gut war Paris des Nachts beleuchtet? Wie sauber war das Wasser der Seine? Wo kaufte Hugo das Papier für seine Aufzeichnungen? Was verdienten erfolgreiche Autoren im Jahr 1880? All das sind Fragen, die der Text dem Übersetzer stellt. Will man ihn plastisch übersetzen – und Hugos Blick auf die „gesehenen Dinge“ war ein äußerst plastischer – dann musste man dazu in der Lage sein, sich in die Rolle des Flaneurs Hugo zu versetzen und mit seinen Füßen über das Pariser Pflaster, mit seinen Sinnesorganen durch die Pariser Straßen zu flanieren. Ich würde sagen, eine solch minutiöse Vorbereitung gehört auch zur Übersetzung eines Romans einer zurückliegenden Epoche, die man nicht selbst erlebt hat, auch wenn die Eindrücke in fiktionalen Texten indirekte, also erfundene sind. Um so mehr gilt das für autobiographische Prosa, die dem unmittelbaren, direkten Erleben des Autors entspringt und sich bei großen Stilisten, wie Hugo einer war, sehr genau in sprachlicher Form niederschlagen.

Ich kam dann an einen Punkt, an dem ich einsehen musste, dass ein fortgesetztes Studium der Hintergründe von Océan zwar hilfreich, aber verantwortungslos gewesen wäre. Ich fühlte mich bereits dazu in der Lage, dem Text bei der Lektüre ausreichend Tiefenschärfe zu verleihen, um ihm eine adäquate sprachliche Gestalt geben zu können. Natürlich gab es immer noch viele vage Stellen, schemenhafte Konturen, unbestimmte Zusammenhänge. Aber ich hatte schon das Gefühl, mich im Originaltext wie in einem Raum zu bewegen, der mir vertraut ist. Und die Zeit drängte. Das Trockenschwimmen war beendet. Ich stieg in den Ozean.

Federzeichnung von Victor Hugo aus dem Jahr 1857.

3 Die ersten Schwimmzüge

Beim deutschen Publikum ist Victor Hugo vor allem für sein literarisches Werk bekannt, in erster Linie für seine Romane, von denen sich vor allem die Misérables aufgrund medialer Transposition in Musical und Film zu einem Element der Popkultur entwickelt haben. Ziel des Übersetzungsprojekts Ozean ist es, den Blick auf die politische und gesellschaftliche Dimension des Werks von Victor Hugo zu lenken und erstmals eine repräsentative Auswahl aus seinen Tagebüchern auf Deutsch zu präsentieren – und zwar so, dass erstens der literarische Stil dieser spezifischen Textform Hugos im Deutschen nachhallt, dass zweitens die Auswahl der Textstellen (aus den 1412 französischen Seiten sollten schließlich 900 auf Deutsch werden) nachvollziehbare Zusammenhänge und Kontinuität herstellt, die Logik des Ganzen im Kleinen wiedergegeben wird, und dass drittens ein ausführlicher, aber nicht aus dem Ruder laufender Kommentar Personen, Orte und Werke erläutert, die im Text zitiert werden.

Wie gesagt: Victor Hugo schreibt in seinem Tagebuch ein sehr klares Französisch, das durch die Verwendung rhetorischer Formeln auf seine altphilologische Bildung verweist. Noch im hohen Alter konnte Hugo mehr als 1000 Zeilen lateinischer Verse auswendig. Seine tagebuchartigen Aufzeichnungen in Ozean entstammen verschiedenen Quellen – Haushaltsheften, Notizbüchern, Reisejournalen usw. Obgleich sich die Auswahl der Texte über mehr als ein halbes Jahrhundert erstreckt, ist es erstaunlich, wie beständig der Stil Victor Hugos in seinen Tagebüchern ist und wie konsequent er sich bis in kleine Details an die Tonlage eines nüchternen, mitunter grammatikalisch stark verkürzten, oft pointenartig zugespitzten Berichts hält, der sich – hat man einmal die entsprechende deutsche Stilebene gefunden – flüssig übersetzen lässt.

Manche Textpassagen sind ausgebarbeitet, andere wiederum wurden auf Spaziergängen oder Reisen stenogrammartig ins Notizheft eingetragen und so belassen. Ob es sich dabei um Skizzen für spätere Texte handelt oder ob das Skizzenhafte zum finalen Text selbst gehört, lässt sich nicht immer entscheiden. Eine Übertragung ins Deutsche muss diese verschiedenen stilistischen Ebenen berücksichtigen, vor allem dann, wenn Hugo, was er gerne tut, einen beobachtenden Abschnitt mit einer aphoristischen Zuspitzung beendet, die dann in eine andere, finalere literarische Gestaltungsebene hineinragt. Der Text dieser Tagebücher gleicht solcherart einem rohen Steinblock, aus dem der Bildhauer Hugo hier und da schon scharfe Konturen herausgehauen und an einigen Stellen diese bereits sogar schon mit einem letzten Schliff versehen hat. Diese Eigenheit des Textes muss sich auch in der Übersetzung wiederfinden, und dabei muss es den Leser·innen klar werden, dass diese verschiedenen Stilebenen zum Ursprungstext selbst gehören. Ausformulierungen abgekürzter Passagen, Ergänzungen beispielweise durch ein Verb, sind dabei natürlich tabu.

Im Notfall kann eine Anmerkung für Aufklärung sorgen. Überhaupt sind die Kommentare in Ozean von entscheidender Bedeutung, wenn es um das Verständnis bestimmter Textstellen geht. In Ozean sind sie integraler Bestandteil der Übertragung. Zwischen Text und Subtext besteht ein beständiger Austausch. Denn Hugo spielt oft auf Ereignisse an, die der heutigen Leserin und dem heutigen Leser nur noch in Ausnahmefällen präsent sein werden. Einige Passagen sind mit Anspielungen durchsetzt; in ihnen konstituiert sich der beabsichtigte Sinn in Assoziationen, die bestimmte Namen und Begriffe hervorrufen. So zum Beispiel im Bericht Hugos über die Krönung Karls V., bei dem er auf die zeitgenössische Shakespeare-Rezeption zu sprechen kommt. Die Namen, die hier genannt werden, waren damals jedermann geläufig und lösten entsprechende Assoziationen aus. Heute würde eine solche Stelle ohne Kommentar kryptisch bleiben (Wiedergabe der Originalanmerkungen in den Fußnoten).

Den Namen »Shakespeare« hörte ich zum ersten Mal in Reims, aus dem Mund von Charles Nodier. Es war im Jahr 1825, während der Krönung von Charles X. Damals sprach diesen Namen niemand mehr mit vollem Ernst aus. Voltaires Spott war Gesetz.1 Mme de Staël, ein sehr edler Geist, hatte sich Deutschlands angenommen, des großen Heimatlandes Kants, Schillers und Beethovens.2 Ducis triumphierte; er saß neben Delille in seiner ganzen akademischen Herrlichkeit, die einem opernhaften Ruhm glich. Ducis war es gelungen, irgendetwas aus Shakespeare zu machen; er hatte ihn wieder ermöglicht; er hatte »Tragödien« aus ihm herausgearbeitet;3 Ducis sah aus wie ein Mann, der aus Moloch einen Apollo geschnitzt hätte. Es war die Zeit, in der man Jago »Pézare«, Horatio »Norceste« und Desdemona »Hédelmone« nannte.4 (S. 31)

4 Allein auf hoher See

Dann gab es aber auch jene Momente, in denen ich mich wie ein Kanalschwimmer fühlte, der gerade einmal die Hälfte der Schwimmstrecke zurückgelegt hat und plötzlich auf eine eiskalte Unterströmung stößt, die ihm die Kraft raubt. Hierfür ein Beispiel:

Hugo liebte Architektur. Mit Leidenschaft setzte er sich für die Rettung gefährdeter mittelalterlicher Bauwerke ein, die er mit ergiebigem Fachwortschatz beschrieb und gegen die Verunstaltungen moderner Architekten in Schutz nahm – die gab es nämlich bereits im Paris des mittleren 19. Jahrhunderts. Sein ausführlicher Besuch in der Conciergerie, dem Gefängnis am Seineufer, enthält eine Reihe von Passagen, die sich dem Übersetzer nur mithilfe von Fachwörterbüchern und vor allem zeitgenössischen Illustrationen erschließen. Man muss hier zum Beispiel zwischen der l’antique pavage de saint Louis (einer bestimmten, aus dem 13. Jahrhundert stammenden Art, das Pflaster zu verlegen) und den carreaux d’ardoises (spezifische Schieferplatten, die als Pflastersteine dienten) unterscheiden, um das adäquate deutsche Vokabular für die Beschreibung des Fußbodens der Conciergerie zu finden.

Auch das räumliche Vorstellungsvermögen des Übersetzers wird auf die Probe gestellt. Hugo bittet seinen Begleiter, ihm die salle des cheminées zu zeigen, un des plus admirables monuments de l’architecture royale et domestique du Moyen Age, wie der Erzähler hinzufügt:

Cependant ma prunelle s‘accoutuma à l’obscurité et, au bout de quelques instants, je distinguai à ma droite, dans un enfoncement, une haute et magnifique cheminée en entonnoir renversé, bâtie en pierre et appuyée par un arc-boutant à jour du plus beau style à un pilier qui lui faisait face.

Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, und schon bald erkannte ich zu meiner Rechten, in einer Nische, einen hohen, prächtigen Kamin in umgekehrter Trichterform, aus Stein gemauert und durch einen sehr stilvollen Strebebogen angelehnt an einen Pfeiler, der ihm gegenüberstand. (S. 225)

Um solche Architekturbeschreibungen adäquat wiedergeben zu können, ist es unerlässlich, eine zeitgenössische Abbildung zu Rate zu ziehen. Nur so kann man sich das räumliche Bild vergegenwärtigen, das dazu in die Lage versetzt, eine plastische Beschreibung zu formulieren. Diese Strategie der Visualisierung gilt allgemein für die Übersetzung historischer Texte. Die sprachliche Ebene allein regt das Vorstellungsvermögen des Übersetzers nicht ausreichend an, um aus ihm eine anschauliche Darstellung zu formen.

Victor Hugo auf dem Felsen der Geächteten auf der Insel Jersey (Fotografie, 1853).

5 Die andere Seite des Meeres

Doch irgendwann kam das jenseitige Ufer in Sicht, und ich kroch erschöpft an Land.

Mitunter ist es so, dass man nach einer solchen übersetzerischen Marathonstrecke wenig oder gar nichts mehr von dem Gegenstand der eigenen Bemühungen wissen will. Die Übersetzung ist in diesem Fall ein rein handwerklicher Akt. Bei Hugos Ozean verhielt es sich jedoch anders. Während der Arbeit war ich mit dem Text gleichsam verwachsen. Beim Versuch, die Welt Hugos mit seinen Augen zu betrachten – was ich für mich als Voraussetzung einer gelungenen Übersetzung definiert hatte –, wurde mir dieses Sehen selbst problematisch. Der Prozess des Übersetzens wurde so unversehens zu einem Prozess des Deutens und Interpretierens, der mich zu den folgenden Überlegungen führte.

Hugos Texte halten Erkenntnisse bereit, die für das Verständnis unserer Gegenwart relevant sind. Eine Auseinandersetzung mit seinen Tagebüchern ist also nicht allein aus historisch-kritischer Sicht lohnend, sondern sie gibt Impulse für das Verstehen der Epoche, aus der wir kommen, und für diejenige, in die wir gerade hinüberwechseln. Zu diesen Aspekten gehören Fragestellungen, die sich in die Geschichte der Moderne eingeschrieben haben und deren Wurzeln im immer noch unterschätzten 19. Jahrhundert liegen: die Pathologie des modernen Sehens, die Figur des Intellektuellen, die sich in Hugo schon lange vor Zola herauskristallisiert, der Begriff des Volkes und des Populismus, die Unmöglichkeit von Größe in der Moderne, das Verhältnis von Revolution, Evolution und Kontinuität in geschichtlichen Prozessen, das Entstehen einer Kirche ohne Gott usw. Auch die Frage nach einem vereinten Europa wird in Ozean bereits mehrfach gestellt, und zwar angesichts des deutsch-französischen Krieges von 1870/71, der mehr als nur ein Vorspiel war zum großen Krieg von 1914-1918. Ozean zeichnet das Panorama eines brodelnden 19. Jahrhunderts, in dem sich die Katastrophen, aber auch die Höhepunkte des 20. konturenhaft bereits deutlich abzeichnen.

Einer der modernen Aspekte, denen man in Hugos Texten begegnet, ist die schleichende Krankheit der Anschauung. Der Titel Choses vues stammt von Hugo selber. Er war eine der Optionen, die die Herausgeber im Nachlass des Autors fanden. So kann man den disparaten Aufzeichnungen, die den unterschiedlichsten Quellen entstammen, einen durchgängigen poetologischen Gedanken unterstellen. Dinge, die ich gesehen habe – das ist eine dichterische Formel, die durch die Benennung der beiden Pole (Ich und Welt) das Sehen, das reine Sehen sozusagen, als Form der Wahrnehmung und der Erkenntnis zugleich stellt. Der Autor hatte für andere umfangreiche, nachgelassene Konvolute einen anderen Titel vorgesehen: Océan. Der Titel evoziert die Unendlichkeit und Unabgeschlossenheit seines Werkes. Choses vues meint Begrenzung, Océan Entgrenzung. Gegensätzlicher können Titel nicht sein. Die entgrenzende Bedeutung des einen verweist scharf auf den begrenzenden Charakter des anderen.

Hinter dieser vielleicht zunächst als philologische Petitesse wirkenden Beobachtung zu den disparaten Titelentwürfen der nachgelassenen Texte Hugos verbirgt sich jedoch ein schwerwiegender Sachverhalt, den der Autor selbst in seinen Aufzeichnungen an einer Stelle anspricht: Eines Tages nimmt er sich vor, ab sofort alles, was er an einem Tag sieht, aufzuzeichnen – nüchtern, sachlich, wie ein Seismograf. Doch schon wenige Wochen später muss er feststellen, dass er dieses Programm nicht erfüllen kann. Er beendet das poetische Projekt. Hugo wird sich darüber klar, dass er nicht so einfach über die Dinge schreiben kann, die er gesehen hat, sondern dass er vielmehr über das schreibt, was dieses Gesehene in ihm auslöst. Zwischen dem Akt des Sehens und dem des Niederschreibens liegt die Dunkelkammer der Emotionen. Das Tagebuch eines Spaziergängers während des Aufstands im Mai 1839 hält dem Versuch einer fotografischen Dokumentation des Gesehenen noch halbwegs stand. Hugo entwickelt dafür eine frühimpressionistische Schreibweise, deren schneller Rhythmus den vielfältigen Erscheinungen, die ihm vor Augen treten, folgen kann. Hugo war vom neuen Medium der Fotografie fasziniert und nutzte es später auch selbst; vielleicht, um einen Gegenpol zum eigenen Pathos zu entwerfen, dem sich seine vielen Zeichnungen auch nicht entziehen konnten. Im Mai 1839 streift Hugo bei Lebensgefahr durch die Straßen von Paris, Kugeln schlagen neben ihm in den Verputz der Hauswände ein, er beobachtet die Aufständischen und die Armee, die sich einander gegenüberstehen. Doch schon hier greift er immer wieder einzelne Personen heraus, die er in der Menge erblickt, deren mutmaßliches Schicksal er in den Fokus rückt und für die er Mitleid empfindet und es zum Ausdruck bringt. Diese Beobachtungen formen sich zu kritischen Vignetten, die der Autor zum Anlass nimmt, über die sozialen Bedingungen dieses solchermaßen im Blick eingefrorenen Lebens zu sinnieren.

Das ist das Problem: Hugo merkt, dass er nicht sehen kann, ohne dass sich in seinen Blick Ergriffenheit, Parteinahme und Pathos mischen. Dieses Pathos ist oft sozialkritischer und politischer Natur, kann auch andere Färbungen annehmen: Einen Schutthaufen mitten in der Pariser Innenstadt, die Trümmer eines ehemaligen Theaters, will Hugo zunächst in seinem So-Sein beschreiben. Er durschreitet die Relikte, schaut sich um, hält fest, was er sieht, und plötzlich wird ihm ein Gänseblümchen, das auf einem der Steinhaufen blüht, zu einem Symbol der politischen Hoffnung. Diese Transformation des Gesehenen ins Bedeutende, diese sofortige Umwandlung des Erblickten in eine Metapher, ist ein Relikt der romantischen Schule. Es ist interessant zu sehen, wie für Hugo die Überformung des Ideellen, die sein Blick den Dingen antut, zusehends zur Last wird, die das Projekt „Fotografie“ beheben soll.

Hugo gesteht sich das Scheitern am Projekt der reinen Betrachtung ein, schreibt aber dennoch weiter. Das ist ein Glück für uns. Denn die Wege, die sein Sehen nimmt, markieren zwei unterschiedliche Richtungen in die Moderne, die wir in seinen Texten nachlesen können: Die Verwandlung der reinen Anschauung in einen pathetischen Blick markiert jene eine Entwicklung, die wesentlich durch eine Steigerung des pathetischen in einen ideologischen Blick gekennzeichnet ist, der dann das 20. Jahrhundert bestimmen wird. Der andere Versuch, sich der eigenen Subjektivität zu widersetzen und neue Technologien wie die Fotografie in Anschlag zu bringen, die bei der Rückkehr zum reinen Bild der Anschauung unterstützen sollen, führt letztlich in die Neue Sachlichkeit. Hugo steht am Scheidepunkt dieser beider Entwicklungen, ja man könnte sagen, er ist der Scheidepunkt, an dem sich diese Problematik entzündet, die so wesentlich ist für das Verhältnis von Individuum und Welt.

26.06.2023
Fußnoten
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©privat

Dr. Alexander Pschera, geboren 1964, studierte in Heidelberg Germanistik, Musikwissenschaft und Philosophie. Er arbeitete viele Jahre für den Rundfunk und für zahlreiche Printmedien und lebt heute als Autor und Übersetzer in Oberbayern. Er beschäftigt sich vor allem mit der französischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts und hat dazu zahlreiche Übersetzungen und Veröffentlichungen vorgelegt, neben Victor Hugo unter anderem zu Léon Bloy, Charles Péguy, Louis de Bonald und Joseph de Maistre. Daneben veröffentlichte Pschera zu Themen der Medienphilosophie.

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