Journale Prosa „La brisa loca“ – Sturmübersetzen

„La brisa loca“ – Sturmübersetzen

Journal zur Übersetzung von Marvel Morenos Im Dezember der Wind

Mit wehenden Fahnen (para no decir: Vom Wind verweht)

Mai 2023. Ich sitze an meinem Fenster in Sabanilla, Puerto Colombia, unweit der Stadt Barranquilla, in der kolumbianischen Karibik, wo die Handlung des von mir übersetzten Romans spielt, und warte auf die Regenzeit. Nichts geschieht. El niño sorgt dafür, dass der Regen nicht wie üblich Mitte April eingesetzt hat. Der trockene tropische Regenwald ist trockener denn je, Palmen und andere Pflanzen sind von Durst „verbrannt“, wie die Taxifahrer sagen. Bisweilen haut eine Windböe gegen die Scheibe. Das ist vielleicht das Ungewöhnlichste von allem, denn die „brisas“, die im Titel des Originalromans En diciembre llegaban las brisas (1987) auftauchen, beginnen im Dezember und flauen in der Regel nach Karneval und spätestens Ende März ab. Es handelt sich, anders als im Deutschen vermutet, nicht um „Lüftchen“ (eine Brise ist nach der Beaufortskala ein vom Meer her wehender Wind der Stärke 2 bis 5), sondern um orkanartige Passat-Winde. Mit deren Verschwinden wird es an der kolumbianischen Karibikküste von einem Tag auf den anderen schlagartig still. Kein Halm regt sich dann mehr. Beinahe unheimlich ist das, auch wenn der Wind zuvor nachts mitunter das Schlafen unmöglich gemacht hat.

©Rike Bolte

Doch in diesem Jahr fallen die „brisas“ noch im April mit einer Stärke in die Wohnung, dass nicht nur Vorhänge in die Horizontale gehen, sondern ebenso gefüllte Weingläser vom Tisch gewischt werden. Auch die Fensterscheiben sind noch bis in den Mai vom Salpeter verhangen, der Wind mengt unter Peitschenhieben Sand darunter. Die Donner, die die Regenzeit anzukündigen pflegen, bleiben aus.

Inmitten dieser klimatischen Unregelmäßigkeit im Mai 2023 kommen die Fahnen meiner Übersetzung von In diciembre llegaban las brisas ins Postfach … geflattert. Sie sind übertitelt mit Im Dezember der Wind. Die Verbform, die im Original vorkommt, „llegaban“, wurde vom Verlag stante pede konfisziert, ich war erst dagegen. Dann aber scheint mir der imperfektive, unvollendete Aspekt des Tempus in der deutschen Version doch hinübergerettet und der Titel überhaupt auch in der Synthese gelungen. Aus dem Spanischen übersetzt wird im Deutschen alles immer länger, die Synthese „Im Dezember der Wind“ stellt sich dem entgegen.

Marvel Moreno: Im Dezember der Wind. Aus dem kolumbianischen Spanisch von Rike Bolte, Wagenbach Verlag, 2023.

Nirgendwo in Kolumbien fegt ein Wind wie an der Karibikküste; die karibische Musik ist voller Anspielungen auf die Winde. Weht es nicht stark genug, dann wird der Wind sexualisiert und zu „verklemmten“ Frauenerscheinungen; weht er, wie es sich gehört, dann verspricht Komponist und Saxophonist Rufo Garrido in seinem Porro „Brisas de Diciembre“, der Windstoß des letzten Monats des Jahres werde direkt in die Welt der Lüste führen. Die Vorhersage wird vor allem den Frauen unter die Nase gerieben, als hätten sie für die Einhaltung der Wetterlage zu sorgen: “Diciembre llegó con su ventolera, mujeres, / y la brisa está que lleva el mundo de placeres”.

Das ist die Wetterprognose zu dem Roman, den ich übersetzt habe, und bei dessen Fahnendurchsicht mich das Gefühl beschleicht, ich hätte das Word-Dokument erst gestern durchgesehen, obgleich natürlich Wochen zwischen den zwei Prozessen liegen. Selten hat sich mir ein zu übersetzender Text so eingebrannt. Selten war ich so nah an Figuren, die das Ende ihrer Fahnenstange erreicht haben. Um es ans Ende des Textes mit seinem bisweilen bodenlosen grammatikalischen Gemüt zu schaffen, musste ich selbst ungeahnt oft die Fahne hochhalten.

Biederes Tropenpatriarchat

©Rike Bolte

Die Autorin des Romans, den die „brisas“ so titelgebend durchwehen bzw. in dem der Wind über alles herfällt, wird in der Regel in einem Atemzug genannt mit Gabriel García Márquez. Der Autor von Hundert Jahre Einsamkeit und kolumbianischer Nobelpreisträger des Jahres 1982 steht für den lateinamerikanischen Boom wie kein anderer, und der Ort Macondo aus Hundert Jahre Einsamkeit geriert sich als (exotischer) Topos, gegen den sich die jüngere Literaturbewegung McOndo in den 1990er Jahren zu wehren begann, allerdings aus ebenso männlicher Sicht. Marvel Moreno hingegen gehört zur Generation von García Márquez und variiert die Sichtweise vor den McOndistas. Und doch ist es wichtig, García Márquez zu erwähnen, weil in der Zeit, in der dieser den Nobelpreis erhält, die seit 1971 in Paris lebende Moreno für den spanischen Premio Literario Internacional Plaza & Janés nominiert wird, die Auszeichnung aber nicht erhält, mit dem Argument, die kolumbianische Literatur sei mit García Márquez bereits zu Ruhm gekommen.

Wenn Hundert Jahre Einsamkeit zu einem Bestseller wurde, dann lag das an der Kommerzialisierung einer als genuin lateinamerikanisch definierten Stil-Etikette: der des Magischen Realismus. Moreno hat wie viele andere Autoren und Autorinnen während des Booms geschrieben, ohne Teil dieses internationalen Verkaufsphänomens geworden zu sein. Das lag auch daran, dass sie eine Frau war und auf Selbstexotisierung und Magischen Realismus verzichtet hat. Umso größer ist die Entdeckung ihres gnadenlosen, gleichzeitig gelehrten Realismus. Ich habe Werke des Haitianischen Realismus übersetzt, die bereits ein Gegenentwurf zum Magischen Realismus sind, der Realismus Morenos ist ein Schachzug gegen beide. Marvel Moreno ist eine Autorin der großen Karibik, die die Perspektiven spanischsprachiger karibischer Autoren wie z.B. Cabrera Infante, Alejo Carpentier oder Luis Alberto Sánchez komplettiert, insofern, als sie von diesen Autoren nicht in Augenschein genommene Aspekte der Kolonialgeschichte, des Rassismus, unterschiedlicher Ideologien und natürlich des Sexismus seziert und dabei auf eine äußerst freie, antiautoritäre Weise episch ist. Ihre Arbeit ist durch Zensur und fehlende Editionen erschwert worden; Moreno musste um die Integrität ihrer Texte kämpfen; der Text, den ich zur Übersetzung vorliegen hatte, war teilweise nicht lektoriert.

Für die Übersetzung von In diciembre llegaban las brisas ist die Syntax und insgesamt die Verschachtelung der Erzählweise eine Herausforderung gewesen, obgleich die Grundstruktur des Textes eigentlich schlicht ist: In drei Romanteilen werden drei Frauengeschichten erzählt. Lina Isignares ist die (hell-)seherische Kraft darin: der Sehnerv des Romans. Wir blicken durch sie hindurch in eine karibische und außerkaribische, transatlantische Welt, angesichts derer vor allem die Großmutter namens Jimena weise, doch auch zynische, teilweise ätzende aber wiederum tolerante Psychogramme erstellt.

Das liest sich dann z.B. wie in der folgenden Passage, in der es um Benito Suárez geht, den Mann von Linas Freundin Dora. Suárez ist ein Schwafler vor dem Herrn, trägt weiße Schuhe mit derben Gummisohlen, schlägt Frauen und knallt Hunde ab; später schreibt er Gedichte und heult über Plattenspielern. Bis er im Urwald verschwindet. Vorher aber ist er noch Nietzsche-Leser:

[…] kaum hatte [sie] die zwei Bücher von Nietzsche gelesen, die ihr die Großmutter gab, nachdem sie (die Großmutter) begriffen hatte, woher Benito Suárez’ Theorien stammten, hegte Lina keinerlei Zweifel mehr daran, dass ein Mensch, der sich seiner Verachtung gegenüber der Gesellschaft so dermaßen sicher war und so wenig auf Skrupel und Konventionen gab, Dora lieben konnte, wie sie war […]. Daher erhoffte sie sich den bestmöglichen Ausgang der Geschichte, ohne aufmerksam den Vorbehalten ihrer Großmutter zu lauschen, die aus der sanften Pendelbewegung ihres Schaukelstuhls heraus darauf beharrte, Benito Suárez’ Nietzsche habe denselben Daseinsgrund wie ihr Gehstock […].

Aus dieser Betrachtungsweise ergeben sich Gedanken-Mäander, die jeweils auch auf vielverzweigte Untergeschichten eingehen. Vor allem in der ersten Hälfte des Romans entstehen daraus Bandwurmsätze, die den Überblick verlieren lassen. Der krude Realismus und die Gedankenschleifen mitsamt ihren syntaktischen Delirien beziehen sich primär auf die Beobachtung von latent explosiven Gewaltstrukturen und einer Reihe von hirnrissigen ideologischen Befreiungsversuchen, die sich inmitten eines biederen, aber eben brutalen Tropenpatriarchats ereignen. Der Text zeigt passagenweise ein Gemüt, das sich wie ein Getüm vor mir aufgebaut hat. Inklusive Showdown des Romans.

Von hinten aufzäumen: Bis zum Showdown

©Rike Bolte

Die Übersetzung ist bis zum Showdown ein Parforceritt. Immer bin ich dem Objekt hinterher, was zu dem von der Psychoanalyse durchwebten Roman wunderbar passt. Ich lege ein Dokument mit Beobachtungen an. Beobachtungen, die ich beim ersten und zweiten Lesen des Romans nicht gemacht hatte. Beim Verfassen dieser Vignetten habe ich teilweise das Gefühl, Lina Insignares zu sein (die so etwas wie eine Übersetzerin ihrer Umwelt ist).

Ich hatte En diciembre llegaban las brisas gelesen, als ich frisch in Barranquilla eingetroffen war. Eine Kollegin drückte mir das Buch in die Hand und sagte: „Hier, nimm: die Bibel von Barranquilla“. In einer Stadt, in der wie in vielen anderen Orten Lateinamerikas die katholische Kirche, aber auch die evangelikalen Gemeinden bzw. Sekten tonangebend sind, war das natürlich eine polemische Aussage bzw. Aufforderung, die zu guter Recht ein Topos der Moreno-Forschung darstellt (das mit der Bibel war also ein Zitat). Die (sehr junge) Kollegin war queere Philosophin (sie starb im Jahr 2019, ich gedenke ihrer hiermit noch einmal), womit klar war, dass es sich um eine subversive Bibel handeln musste. Die mir da im Jahr 2018 Marvel Morenos Buch in die Hand gab, stammte aus der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá und hatte selbst die Karibik nur mithilfe von Morenos Roman verstanden. Ich las das Buch sofort, war bestürzt und begeistert. Bald darauf brachte ich es nach Berlin und legte es dem Lektor von Wagenbach auf den Tisch.

Als die Nachricht kam, der Verlag werde die Rechte erwerben, fing ich an, mich mit Kolleginnen aus der Literaturwissenschaft zu unterhalten, die seit Jahren zu Morenos Werk forschen – sie besitzen ein anderes, auf sekundärliterarischer Lektüre basierendes Wissen und außerdem ein situiertes Wissen, weil sie selbst aus Barranquilla kommen, zum Beispiel Mercedes Ortega. Die syntaktischen Delirien des Romans aber schienen sie nicht auf die gleiche Weise erleben zu können wie ich, nicht morphologisch, nicht materiell, eher in ihrer performativen Dynamik und symbolischen Funktion. Für mich war prioritär: Wie baue ich einen auf Spanisch gewundenen Bandwurmsatz nach, wie Prosodie und Parlando eines karibischen, aber aus dem Pariser Exil verfassten Texts? Vieles musste ich von hinten aufzäumen – dieses Bild hatte ich immer wieder vor Augen (by the way: Pferde spielen in dem Roman eine tragende Rolle, darunter „zwei große, gehässige Tiere, die ganz offensichtlich das gesamte Menschengeschlecht hassten“). Dazu kommen Zeitsprünge, (programmatisch eingesetzte) Redundanzen in der Redewiedergabe (die mich bisweilen kirre gemacht haben). Vor allem aber hat mich der labyrinthische, mitunter obsessive Satzbau herausgefordert, also das, was die Wucht des Werks von Marvel Moreno überhaupt produziert: die freischwebenden Bezüge.

Meine Bibelferne: das Wort ist des anderen Worts Wolf

Einer der Gründungsväter der Gesellschaft, um die es im Roman geht, Gustavo Freisen, ordnungsliebend und den Nazis angedient, sieht in den Tropen „die düstersten Passagen der Bibel“ hineingeschrieben:

Alles war eitel und verdorben und das Wirken des Menschen dem Untergang geweiht. Es genügte schon, sich diese Stadt mit ihren rissigen Bauten anzusehen, wo die Termiten ein Gebäude in weniger als zehn Jahren unwiederbringlich zerfraßen. Nichts war von Dauer, nichts hielt sich in dieser Welt, die kein Gedächtnis, keine Vergangenheit besaß. Gleich nach seiner Ankunft in Barranquilla hatte Gustavo Freisen ein Haus gekauft, das ein anderer, womöglich vor lauter Traurigkeit verrückt gewordener Franzose hatte bauen lassen.

Linas – sympathischer ­– Vater wiederum kennt die Bibel auswendig; nicht umsonst reicht das Incipit des Romans ins 2. Buch Mose. Der Roman zündet mit diesem Archetext, sofort danach wird Linas Großmutter (in ihrer wunderbaren Kommentarfunktion) referiert:

Denn die Bibel – dieses Buch, das nach Ansicht ihrer Großmutter alle Vorurteile enthielt, die darauf angelegt waren, den Menschen Scham empfinden zu lassen wegen seines Ursprungs, und nicht nur wegen seines Ursprungs, sondern auch wegen der seiner Natur innewohnenden Triebe, seiner Wünsche, Instinkte oder wie auch immer man es nennen mochte […]“

Der Satz geht unter in Überlegungen zu Niederschriften, Erschaffungen, Verelendungen von Existenzen und Eliten, über die Linas Großmutter von ihrem Schaukelstuhl aus feinsinnig höhnt. Inmitten des Zikadengezeters spricht sie: Alles gehe zurück auf die Verdammnis, jeder Vorfall – auch Mord – sei Verdammnis, und nur unter Einsatz ungeheurer (weiblicher) Energie könne erkannt werden, dass das Wort des anderen Worts Wolf ist.

Über diesem Quasi-Orakel beginnt meine Übersetzungsarbeit, im Laufe derer ich tatsächlich zu spüren bekomme, wie ein Wort das nächste verschlingen kann, zum Beispiel in Gestalt von Männern und Frauen, die einander ehelichen, bzw. von denen die eine vom anderen geehelicht und der Beichte zugeführt wird, etwa so: „Hiermit verkünde ich, dass Dora meine Frau wird, und ihre Mutter sie von nun an vor allen, selbst vor mir, in Schutz nehmen wird“.

In Morenos Barranquilla schafft es kein normaler Mensch, gegen die Sonne und das Patriarchat anzudenken. Nicht ohne die bereits angerufene Psychoanalyse. Diese hilft nämlich auch im übersetzungsmoralischen Prozess. Doch noch einmal zur Beichte: Sechs Mal kommt in Im Dezember der Wind die Bibel ganz explizit und fundamental vor, ich aber bin nicht bibelfest, ja bin sogar bibelfern! Da kommt es gelegen, dass der Roman ein Cocktail wird: evolutionsphilosophische Ironien und psychoanalytische Komputationen vermengen sich mit den biblischen Steilvorlagen. Und bei der einen oder anderen ungenauen Bibelzitation lerne ich, im Bibel-Netz zu navigieren. Gleichzeitig überlege ich, welches Wort der Anderen (Marvel Moreno) mich verschlingt. Und halte mich noch einmal daran fest, dass die Jagd nach dem Objekt in der psychoanalytischen Weltsicht normal ist.

Urknall in der kolumbianischen Karibik oder hin zur „hembra primitiva“

©Rike Bolte

©Rike Bolte

Schon immer habe ich das Präfix Ur- gemocht. Für die Psychoanalyse gibt es so etwas wie Urvertrauen. In Marvel Morenos Roman sind mehrere Figuren von diesem Vertrauen mit Sicherheit ausgenommen. Dafür kommen „Urzeiten“ vor, das sind die Zeiten, seit denen sich die Mangroven zersetzen („mangles descomponiéndose desde el comienzo de los siglos“). Ich mache aus dem spanischen „seit Beginn der Jahrhunderte“ also die Urzeiten, weil es naheliegt, weil es im Deutschen das Natürlichste, ein Marker der Ursprünglichkeit ist. Und denke gleichzeitig an die Stadt Ur, und an das Würfelbrettspiel, das mein Vater einst kaufte: das Königliche Spiel, gefunden in der Gräberstadt, in der unter anderem Könige der 1. Dynastie des mesopotamischen Ur bestattet wurden. In Im Dezember der Wind wird Barranquilla zu einer Gräberstadt und Linas Freundin Catalina aus dem zweiten Teil des Buchs im Schachspiel auf die fatalen Wendungen des Lebens vorbereitet. Die Assoziationen mit der mesopotamischen Stadt Ur sind allein meine, sie gehören aber zu der Plattform, die sich beim Übersetzen unter mir bildet.

Das Präfix Ur- gibt mir weiter die Hand: Im ersten Kapitel des 3. Teils des Romans wird der Ursprung der Unfähigkeit des Menschen, adäquat auf die Andersheit seiner Mitmenschen zu reagieren, darauf zurückgeführt, dass die Bibel mahnt, die Götter anderer nicht anzubeten, sondern zu zermalmen. Im Anfang ist also die Unfähigkeit.

Dann gibt es noch den Ursprung der Verführung, auf die der Roman ganz entschieden baut. Morenos Text verweist auf das erste Molekül der Fortpflanzung: ein schlürfendes, saugendes, zuckendes „Leben im Rohzustand“, aus dem das „Urweibchen“ hervorgeht, das, noch lange nicht menschlich, aber in der Lage ist, dem Männchen zu beweisen, dass es einen älteren Trieb als den des Todes gibt. „La hembra primitiva“ im Spanischen klingt langwierig, ein ganzer Prozess scheint abgebildet. Mir gefällt die Ur-Lösung, in der das evolutionäre Incipit im Deutschen schwimmt.

Was mir vor allem gefällt, ist, dass Marvel Morenos Roman einen Urknall in der Karibik schafft: das Leben beginnt in Barranquilla. Und zwar nicht irgendein Leben, sondern das Ur-Leben. Von der Ur-Zeile des Romans an hatte ich trotz aller Übersetzungsangst evolutionäres Vertrauen in Morenos Text-Universum.

„Euer Gnaden“ – nicht aber an der karibischen Küste

©Rike Bolte

Und dann prescht die Evolution voran. Eine der schillerndsten Frauenfiguren aus Im Dezember der Wind, gesegnet mit dem Schmetterlingsnamen Divina Arriaga, glaubt an eine „intelligente Evolution“. Bis der Kommunismus auf dem ‚alten‘ Kontinent am Boden liegt. Da ist alle Hoffnung verloren. Tante Eloísa wiederum geht davon aus, die Spezies Mensch sei evolutionär auf der Strecke geblieben. Sie sieht sich darin bestätigt, als im August 1945 – sie nippt gerade zwischen ihren Birmakatzen liegend an einem morgendlichen Tamarindensaft – die Atombombe auf Hiroshima niedergeht:

Sie faltete die Zeitung zusammen und glaubte, Glockenschläge zu hören, die das Ende der Hoffnung einläuteten und davon kündeten, dass die schauerlichen Kräfte, denen das Patriarchat entsprungen war, ihr Werk der Verwüstung gekrönt hatten […]

‚Das Patriarchat‘ stellt sich in Im Dezember der Wind in ganzer Pracht dar, obwohl eine weitere imposante Frauenfigur, Odile Kerouan, seine Variante in Barranquilla für bloße Pantomime hält. Letztlich lädt es sogar das Universum zum „Krummlachen“ ein (im Spanischen lässt das Patriarchat das Universum vor Lachen zusammenzucken), weil nämlich in Barranquilla die Männer die Köpfe zusammenstecken, um sie sich anschließend einzuschlagen.

Unverfroren sind diese Männer sowieso. Das wiederum liegt daran, dass sie Costeños sind. Im Deutschen ließe sich „Küstenbewohner“ sagen. Doch das Vorurteil, das gegen die an der karibischen Küste lebenden Menschen im Inneren Kolumbiens, und vor allem in der Hauptstadt, gehegt wird, lässt sich nicht übersetzen. Es sind „Spekulationen“, die um die karibische Küste in Kolumbien kursieren, in den 1940er und 50er Jahren des Romans ebenso wie heute. Die wilden Theorien, die es dazu (und zu den „brisas“, den Passatwinden) gibt, kommen im Roman vor und werden kontrastiert mit Überlegungen zu den Menschen im Landesinneren, die, in ihren Poncho versunken (im Original heißt es diesem Fall „ruana“, ein Begriff, der sich auf Deutsch in den Textil-Katalogen noch nicht stark genug durchgesetzt hat) ihrem Gegenüber ein „su merced“, ein „Euer Gnaden“ entgegenhauchen. „Su merced“ (oder „su mercé“) wird heute noch gesagt, vor allem im familiären, liebevollen Umgang – nicht aber an der Küste. Wenn an der Küste jemand gegen diese Anredeweise wettert, wird mit „tu merced“ gekontert (bzw. geschäkert). An der Küste hält man die Wendung für antiquiert, unterwürfig. Die deutsche Übersetzung von „su merced“, Euer Gnaden, kennt kein gegenwärtiges Pendant, ist also doppelt anachronistisch.  Die Costeños wiederum bleiben in der deutschen Romanfassung kursiviert und unübersetzt stehen.

Womöglich wird die „costa atlántica“, die Atlantikküste, im Deutschen nicht gleichbedeutend mit Karibikküste gelesen (auch wenn es an der Universität Hannover einen Master in Atlantik-Studien gibt, in dem ein Fokus auf den Südatlantik gelegt wird). Wie auch immer: Bei Marvel Moreno hat niemand an der „Costa“ die eigene (angebliche) Unterlegenheit verinnerlicht. Vor allem die Männer nicht. In der deutschen Übersetzung wird das wiederum trotz der eingemeindenden Übersetzungen überdeutlich, kein Zweifel.

Pedigree des Machismo: Stühle zerschlagen und Hunde loslassen

©Rike Bolte

In Im Dezember der Wind geht es also ums Leben. Um seinen Ursprung, um seine Sprengkraft, um den Urknall. Mindestens zwei Frauen gehen dabei drauf, oder „vor die Hunde“. Das ist Jägersprache und kommt in der Übersetzung so nicht vor, wohl aber in meinem Kopf. Im Spanischen habe ich dagegen sofort die Redewendung „echar los perros“ parat (auch sie kommt so im Original nicht vor): jemanden anbaggern, anmachen, den Hof machen. „Lanzar los perros“ wiederum heißt: die Hunde loshetzen. Diese Hunde-Wendung wird in Im Dezember der Wind verwendet; Jägerlogik vermengt sich in Marvel Morenos Roman ohnehin mit Liebeslogik.

Mich springt Benito Suárez‘ Hunde-Fetisch an, und wie Lina wiederum Hunde als Waffe gegen ihn einsetzt. Es gibt im Roman eine zimtfarbene, träge Hundedame namens Ofelia, die während ihrer Läufigkeit zum Ur-Antrieb aller Hundemänner wird – wie auch das Menschenweib Dora. Als Lina diese, Dora, ganz zu Anfang des Romans gegen Suárez verteidigen muss, da wird die erste Waffe in Hunde-Gestalt gezückt: „Ich habe den Hund losgelassen, gleich ist er hier und wird sie in Stücke reißen“. Darüber hinaus hat Lina einen Louis-XVI.-Stuhl auf Suárez‘ Schultern zerschmettert.

Suárez wird sich (als Pendant zu Dora) ein edles Boxerweibchen aus Medellín kommen lassen, das zur „Ur-Gebärmutter“ seines Zuchttraums werden soll. Allein, Penélope verhält sich frei Schnauze und paart sich mit einem cualquiera, einem Dahergelaufenen. Ein Skandal, der zum Ursprung der wilden Karriere des eigentlich kleinkarierten Randalierers Suárez wird. Bei Moreno häufen sich die Ursprünge.

Im Original ist Benito Suárez „elemental“ – ich wiederum wähle die Kleinkariertheit, um seine Konstitution zuzuspitzen, unter anderem, weil der „asesino de perras“ („Hündinnen-Mörder“), der Suárez auch noch sein wird, im Deutschen zum „Hundemörder“ naturalisiert wird und damit eine Spitze verloren geht.

Benito Suárez tobt durch die Ahnentafel des Machismo. Das geschieht schon auf den ersten Seiten des Romans, wo die ersten Anglizismen auftauchen.

Saibor, blue-jean, Studebaker – Miami vor der Haustür

©Rike Bolte

Von Barranquilla aus fliegt man heute noch gerne nach Miami. In Im Dezember der Wind werden Klamotten, Geschirr, Teppiche von dort mitgebracht, außerdem dortselbst Segeljachten unterhalten, und Geschäfte gegründet. Die dritte im Bunde von Linas Freundinnen, Beatriz, soll sich dort, kurz bevor es zum Showdown kommt, zur Selbstfindung niederlassen. Sprich: sie soll vor einem Mann dorthin fliehen.

Doch zurück zu Benito Suárez. Als dieser zu Beginn des Romans Lina durch das Haus ihrer eigenen Großmutter hetzt, da brüllt er – bevor Lina mit dem Hund droht – nicht nur das Haus zusammen, sondern tritt auch gegen ein saibor. Hinter diesem Möbel, das man im Wörterbuch als lateinamerikanische Variante eher als saibó findet – eine Anrichte, bzw. auch Sideboard auf Neu-Deutsch –, versteckt sich Lina mit Dora, um diese zu beschützen. Doras Blut schmiert Linas blue-jean ein. Diese zwei (sowie einige weitere Begriffe) werden im Lektorat aus der Spanglish-Umschrift entlassen. Die blue-jean wurde z.B. schlicht zur Jeans. Die kolumbianische Miami-Klamotten-Etikette ging verloren. Im Endlketorat aber wird doch eine Bluejeans eingewebt.

Dabei kommt es auf diesen Seiten des Romans zu einer heimischen Hetzjagd, in der das modische Interieur einer Epoche, aber auch die bornierte Beziehung einer Elite des globalen Südens zum globalen Norden materialisiert ist. Dazu gibt es eine extra muros-Szene: Dass es so weit kommen konnte, verlangt, dass vorher Benito Suárez‘ blauer (hierzulande recht unbekannter) Studebaker scharf an der Hausecke bremst und Suárez daraus heraushetzt, nachdem er Dora geschlagen hat, die aus dem Auto zu Lina flieht.

Der Studebaker ist die feurigste Partie der wetteifrigen Männer des Romans, zu denen auch ein Psychoanalytiker mit feurig rotem Bart gehört, der seine junge Frau nur nackt zuhause duldet. Der Studebaker ließ sich erstmalig im Jahr 1947 Bogotá bestaunen, nachdem er am 11. September desselben Jahres in der Tageszeitung El tiempo angekündigt worden war. Dann schafft er es in die Karibik: Er liefert den Inbegriff des modernen, luxuriösen Automobils. Ich selbst hatte vor Marvel Morenos Roman noch nie von dieser Wagenmarke gehört.

Zum Schluss: der Doppelpunkt 

©Rike Bolte

In En diciembre llegaban las brisas gibt es 1.125 Doppelpunkte. In der Übersetzung sind es 733. Die Zeichensetzung im Spanischen differiert von der im Deutschen in einigen Dingen, etwa darin, dass die oraciones exhortativas oder die oraciones interrogativas mit einem (auf dem Kopf stehenden) Ausrufe- oder Fragezeichen beginnen müssen. Der Doppelpunkt steht vor wörtlicher Rede, Zitat, Aufzählung oder Synthesen des zuvor Gesagten. Er ist Trennung und Emphase. Wie im Deutschen, in dem er mittlerweile auch noch die Genderpause markiert. Und Marvel Moreno? Sie macht etwas bislang noch nicht von der Narratologie Untersuchtes: das Kolon stößt die Leserin auf das Objekt und separiert diese gleichzeitig davon; es lässt den Lesefluss stocken. Zum Beispiel hier, nachdem es um Dialektik und männliches Adrenalin ging:

Das Gleichmaß ihres Hormonspiegels verhinderte, dass [die Männer] die gesamte Palette der Empfindungen kennenlernten. Ob aus Maßlosigkeit oder aus Schwäche – sie entfernten sich von der Norm: der Frau: diesem Wesen […]

Das liest sich, als sei die Diktion von Benito Suárez‘ in den Satzbau einmarschiert, als würde Benito Suárez bellen und gleichzeitig mit dem Finger auf diese generische Frau weisen, auch wenn er in dem Zitat eher Antagonist ist. Ein Zeige-Modus. So wie hier: „‘Nun aber ist sie geheilt‘, sagte er und wies mit dem Finger auf Dora, als spräche er zu Medizinstudenten in einem Hörsaal.“ (In der deutschen Fassung ist an Doppelpunkten etwas gespart worden, bzw. manche von ihnen sind in Satzendpunkte umgemünzt worden, wo es zur syntaktischen Übersicht sinnvoll erschien).

Die Doppelpunkte spießen auf, wie Gabeln, inmitten des Geredes und Getues der scheinheiligen patriarchalen, pseudo-bürgerlichen Club-Gesellschaft Barranquillas, die (inmitten des Gezeters des Romans) aber dennoch potente Frauengestalten hervorbringt. Während die abjekten Gockel durch Bordelle defilieren und zur Initiation Ware vorgelegt bekommen („Mulattinnen mit reifen Brüsten, bleiche Weiße mit wasserstoffblonden Haaren, [eine] ganze Sammlung von Küken, Zwerginnen, Albinos und Mongoloiden, kurzum, alle Arten von Frauen […]“), kapitulieren Sexualität und Psychoanalyse gleichzeitig. Und da stellt Divina Arriaga einen queeren Trupp zum Karneval bereit: eine Unmenge „ungebührlich verkleidete[r] Menschen, die in den Country Club einmarschierten […]: Wohltätige Schwestern schoben mit nichts als einer Windel bekleidete Männer in Kinderwagen umher, in denen diese mit ihren behaarten Beinen vor sich hin strampelten, im Mund eine mit Whiskey gefüllte Nuckelflasche“. Dieser Trupp steht hinter einem besonders mächtigen Doppelpunkt, der in die Synthese des karibischen „mamar gallo“ führt. Das heißt wörtlich ‚am Gockel saugen‘, ist natürlich sexuell konnotiert, meint landläufig jedoch: „sich lustig machen“.

Da Morenos Roman sich in Subordinaten verliert, braucht er Satzzeichen zum Haltmachen. Er setzt sie aber auch ein, um immer wieder neue Fallklappen aufzutun, um die Lese-Manier zu deregulieren, um auffliegen zu lassen: wie der Windstoß, der „urplötzlich“ alles entblößt. Wie diese Kadenz im Spanischen: „ […] en el patio: el perro, que no tenía raza ni nombre, jamás ladraba: pero había en su silencio la misma capacidad de odio, el mismo impulso asesino del hombre que pateaba el saibor“. Im Deutschen: „[…] im Patio […]: Der keiner Rasse angehörende, namenlose Hund bellte nie: doch in seinem Schweigen lag dieselbe Fähigkeit zum Hass, dieselbe Mordlust wie die des Mannes, der nun gegen das Sideboard trat […]“. Dass vom tierischen perro der Doppelpunkt über die plosive Syntonie ins pero hinüberreflektiert wird, lässt sich im Deutschen nicht nachbilden. Doch Benito Suárez hat ohne Zweifel genug gepoltert: Es weht genug „brisa loca“ im Dezember.

(…und als ich die Übersetzung beende, heule ich wie ein Hund über dem Showdown – oder wie eine Übersetzerin über dem Ende ihres Projekts – und würde gerne nach einer Trostspenderin verlangen: Linas Großmutter).

14.04.2023
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©privat

Rike Bolte ist Begründerin und Kuratorin des Poesiefestivals Latinale sowie Übersetzerin von Lyrik und Prosa aus dem Spanischen, Französischen und Katalanischen. 2020 wurde sie für die Übersetzung von James Noëls Roman Belle Merveille mit dem Internationalen Literaturpreis des HKW Berlin ausgezeichnet. Aus der Karibik hat sie weiterhin Jacques Stéphen Alexis übersetzt. Sie ist als Professorin für Literatur und Kreatives Schreiben an der Universidad del Norte in der kolumbianischen Karibik tätig.

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