Wendungen und Windungen des Wassers
Das Making-Of von Mark Arax’ »Risse in der Erde«
»Realismus heißt nicht, dass etwas Wirkliches repräsentiert wird, Realismus heißt, dass der Vorgang der Repräsentation selbst real wird. Dieses Zitat begleitet mich schon eine ganze Weile, und es steht auch im Genter Manifest. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis, ich dachte und behauptete auch immer, es stamme von Jean-Luc Godard. Aber wie ich – nicht lange vor seinem Tod – von ihm selbst erfahren habe, das einzige Mal, dass ich ihn persönlich traf, dem ist nicht so. Aber was ich mit dem Zitat meine, ist, der Realismus, der mich interessiert, interessiert sich nur am Rand für die Wirklichkeit wie sie ist, oder für die Kritik der Widerspiegelung. Mich interessieren die Produktivkräfte, die Beziehungen und Widerständigkeiten der Darstellung, im Grunde interessiert mich das Chorische am realistischen Vorgang, also letztlich die an der Darstellung beteiligten Menschen, Dinge, Relationen. In einem Satz, mich interessiert das Making-Of mehr als das Produkt. Und ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich blättere, wenn ich lese, anstelle einfach die Geschichte zu lesen, immer zu den Fußnoten, zu den Produktionsnotizen, den Erfahrungsberichten, zu dem, was eigentlich geschieht und bedeutsam wird, gleichsam hinter dem Rücken der Beteiligten. Oder anders ausgedrückt, mich interessiert an der Kunst ihre Kraft, etwas völlig Unerwartetes, etwas absolut nicht Vorgesehenes zur Erscheinung zu bringen, und zwar genau so, in genau dieser Weise, in der absoluten Lebendigkeit und Materialität des Ereignisses selbst.«1
Mark Arax: Risse in der Erde. Auf den Spuren von Wasser und Staub durch Kalifornien. Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Schestag, Matthes & Seitz Berlin 2023.
Ich habe im Verlauf der Arbeit an dieser Übersetzung mehrmals in unterschiedlicher Weise angesetzt, dieses Journal zu schreiben, doch erst Milo Raus Rede von der Realität des Vorgangs einer Repräsentation, vom Making-Of einer Geschichte, ihrer Materialität, hat mir eine klare Vorstellung von einer möglichen Form gegeben. Wenn die Form dieses Essays zugleich eine Sammlung von Produktionsnotizen ist, dann sei mir eine gewisse Unordnung in der Abfolge der Darstellung erlaubt. Angeregt durch das Stichwort Materialität möchte ich mit einer Fußnote zur Übersetzung des Buchtitels von Mark Arax‘ The Dreamt Land beginnen, da hier, so könnte man meinen, ein krasser Übergang von der Feinstofflichkeit des Traums zur Körperlichkeit der Erde geschieht.
Risse in der Erde
»Nichts ist so wahr wie diese Risse in der Erde und, wenn alles nach Plan läuft, werde ich ihnen von dem einen Ende Kaliforniens bis ans andere folgen, von der Dürre zur Flut zum Flächenbrand zur Schlammlawine, denn das ist die natürliche Ordnung der Dinge.«2
The Dreamt Land ist der Titel, den Mark Arax seinem Buch, das 2019 in New York bei Alfred A. Knopf erschien, gegeben hatte. Das Erträumte Land war ein möglicher deutscher Titel nah am Original, doch rhythmisch schien mir diese Übersetzung von der Prägnanz und unmittelbaren Präsenz des Originaltitels mit den drei betonten Silben sehr weit entfernt. Land aus Traum war ein Vorschlag von Ann Cotten, der mir sehr gut gefiel, aber vielleicht doch zu weit wegführte, den Akzent zu sehr auf die Gefilde des Traums legte. Dazu kam, dass Dreamt eine ganz subtile Irritation auslöst, zumindest im amerikanischen Englisch. Diese Form ist zwar grammatisch korrekt, aber das regelmäßig gebildete dreamed ist weitaus üblicher. Auch dieser subtilen Verunsicherung sollte der deutsche Titel unbedingt Rechnung tragen. Mir kam immer wieder Risse in der Erde in den Sinn, das cracks in the earth übersetzt, ein Motiv in dem Buch, das ja im Untertitel Auf den Spuren von Wasser und Staub durch Kalifornien heißt. Zugleich lag für mich in Risse in der Erde etwas von der Härte und dem Schlag des auslautenden t in dreamt. Nicht zuletzt war Erde ein Anagramm von Rede, also nah an Fluss und Wasser. Es sprach insofern einiges dafür, dem deutschen Buch einen vom Wortlaut des Originals radikal abweichenden Titel zu geben. Das Gespräch über diese Frage ging hin und her zwischen mir und Mark Arax sowie mir und dem Verlag. Was war mit dem biblischen Anklang, der in The Dreamt Land mitschwang, The Promised Land? Was war mit den Zeilen des Gedichts von Richard Wilbur, die dem Buch vorangestellt sind? »Wo Augen zum Sonnenlicht werden, und die Hand / Des Wassers würdig ist: das erträumte Land / Zu dem aller Hunger stürzt, alle Freuden fließen.« Standen diese Zeilen nun allein oder standen sie vielleicht vielmehr für sich, im Zwiegespräch mit dem Original, in interpretatorischer Korrespondenz? Die Entscheidungsfindung war in diesem Fall ein Prozess des Abwägens: was geht in der Übersetzung verloren, was gewinnt sie hinzu? Ich selbst hatte, nachdem alle Optionen mit ihrem Für und Wider auf dem Tisch lagen, kaum noch eine Präferenz. Letztendlich wurde die Frage im Verlag demokratisch entschieden, wo Andreas Rötzer alle an der Produktion des Titels Beteiligten abstimmen ließ. Risse in der Erde.
Ein Königreich aus Staub
A Kingdom from Dust ist der Titel einer Reportage von Mark Arax, die 2018 im Chicago Sunday Magazine erschien. Beim True Story Award 2019, bei dem die drei weltweit besten Reportagen aus dem Vorjahr ausgezeichnet wurden, gewann dieser Text den zweiten Preis.3 Ich sollte damals im Vorfeld der Preisverleihung Ein Königreich aus Staub übersetzen und war schon von den ersten Sätzen an von der reichen, überbordenden Sprache dieser Reportage mitgerissen.
»Ein Sommertag im San Joaquin Valley, achtunddreissig Grad im Schatten, ich biege hinter der Ausfahrt Fresno Stadtzentrum auf den Highway 99 ein und steuere durch die flimmernde Hitze. Mein Ziel ist der äußerste Süden des Tals, ein kleines Landarbeiterstädtchen in einem entlegenen Winkel von Kern County namens Lost Hills. Das ist der Ort, wo der größte Bewässerungsfarmer der Welt – derjenige, dessen irrsinnige Zucht von Mandeln und Pistazien Kaliforniens Nussrausch ausgelöst hat – immer weiter anbaut, unbeirrt von Dürre oder Flut. Er lebt nicht in Lost Hills. Er lebt in Beverly Hills. Wie ist es ihm gelungen, die Natur so lange zu überlisten?
Das GPS schickt mich auf die Interstate 5, die schnellste Route durch den Bauch des Staates, aber ich habe eine Vorliebe für den Highway 99, die alte Straße, die die Okies und die Mexikaner auf die Felder gebracht und meine armenische Zunge mit einem Näseln belegt hat. Der Highway führt meilenweit, mal zweispurig und mal dreispurig, durch bewirtschaftetes Land, alle zwanzig Minuten unterbrochen von Fast Food, Tankstelle und billigem Motel. Häusersiedlungen, Kaliforniens letzter erschwinglicher Traum, zivilisieren drei oder vier Ausfahrten, ehe es wieder zurück auf die offene Straße geht, die bespritzt ist mit dem Gedärm und den Federn der Hühner, die auf der Fahrt zum Schlachthof vorzeitig von Bord gesprungen sind. Rosaroter und weißer Oleander teilt den Highway, und jedes dritte Fahrzeug, das vorbeirauscht, ist ein Sattelzug. Meist schleppen sie die guten Gaben des Tales fort.«4
Es war eine Freude, das zu lesen, denn hier genoss offenbar jemand das Schreiben in vollen Zügen und in langen, gewundenen, ausufernden Sätzen, ohne dabei seine Sache aus dem Blick zu verlieren. A Kingdom from Dust hatte Mark Arax im Zusammenhang mit einer breitangelegten Recherche und einem langjährigen Buchprojekt zum Thema Wasser in Kalifornien veröffentlicht. Die Reportage ist jedoch nicht als Kapitel, sondern an unterschiedlichen Stellen in den Korpus des ein Jahr später erschienenen The Dreamt Land eingeflossen. Die Intensität und Dichte der Sprache von Mark Arax, die mich sofort in ihren Bann gezogen und herausgefordert hatte, war der Auslöser dafür, den Titel Matthes & Seitz Berlin vorzuschlagen, da durch die Reihe punctum ohnehin bereits eine Zusammenarbeit zwischen dem Berliner Verlag und dem Berner Reportagen Magazin bestand. Andreas Rötzer war nicht zuletzt wegen des sowohl aktuell als auch historisch brandheißen Sujets von The Dreamt Land sofort begeistert – und mit Blick auf die wirtschaftliche Seite des Projekts zugleich vorsichtig. Erst die Förderung der Übersetzung durch das Programm extensiv-initiativ im Rahmen von Neustart Kultur brachte das ganze Ende September 2021 ins Rollen.
Mark Arax
Das Schreiben von Mark Arax ist aufs Engste mit seiner Herkunft verwoben. Sein Großvater Aram Arax (1900-1989), ursprünglich Jonig Housepian, hatte sich als Sechzehnjähriger mithilfe von Freunden in Konstantinopel auf einem Dachboden versteckt, um dem Völkermord an den Armeniern zu entgehen. In all den langen, einsamen Monaten hatte der junge Mann nichts als eine Kiste mit Werken französischer Literatur – Maupassant, Verlaine und Baudelaire – zu lesen. Erst als das Fieber des Genozids vorüber war, und das osmanische Reich zerbrach, verließ er sein Versteck und begann in einer Buchhandlung in der Nachbarschaft zu arbeiten.
»Unter den gepeinigten Überlebenden, die dort zusammenkamen, trafen sich jeden Tag auch mehrere armenische Schriftsteller, um Tee zu trinken, Backgammon zu spielen und festzustellen, welche Wörter noch übriggeblieben waren. Zu der Gruppe gehörte auch Yervant Odian, der ausgezeichnete Satiriker, und Hagop Oshagan, der Mentor meines Großvaters, der damals ein monumentales Erinnerungswerk mit dem Titel The Remnants, Die Übriggebliebenen, schrieb. Sie nahmen den siebzehn Jahre alten Jonig unter ihre Fittiche, lasen seine frühesten Gedichte und Entwürfe, kritisierten seinen blumigen Überschwang und berieten über einen Nom de Plume, der die Anziehungskraft eines jungen Schriftstellers mit einer naiven und zugleich subversiven Neigung zu erhöhen vermochte. Es war Yervant Odian, der ihm, vielleicht aus einer satirischen Laune heraus, den Nom de Guerre Aram Arax verpasste. Arax war der Strom, der Mutterstrom, der den Berg Ararat hinab durch eine Nation floss, die es seit mehr als tausend Jahren nicht mehr gab.«5
Der Kreis von armenischen Intellektuellen in Konstantinopel sammelte Geld, um den begabten jungen Mann nach Paris zu schicken, damit er an der Sorbonne Literatur studiere. Doch es kam alles anders. Ein Onkel, der vor dem Genozid nach Kalifornien geflohen war, begann Briefe zu schreiben und den Neffen zu drängen, zu ihm nach Fresno zu kommen und das Land zu bestellen, »einen Garten Eden mit Granatäpfeln und Pfirsichen.«6 Der junge Mann stand vor einer schwierigen Wahl, Paris oder Fresno, und entschied sich für Letzteres. Damit begann die Familie von Mark Arax in Kalifornien Wurzeln zu schlagen. Sein Vater, Ara Arax (1931-1972), arbeitete zunächst ebenfalls in der Landwirtschaft, später im Lebensmittelhandel und schließlich eröffnete er eine Bar (in der auch Chuck Berry einmal mit seinem berühmten Duckwalk auftrat). Eines frühen Abends kamen zwei Männer in den noch fast leeren Nachtclub und erschossen Ara Arax. Der damals sechzehnjährige Mark wollte nicht hinnehmen, dass die Polizei die Suche nach den Mördern seines Vaters schon nach kurzer Zeit ohne Ergebnis wieder einstellte. Er besorgte sich Notizblock und Kassettenrekorder, um seine eigenen Nachforschungen zur Aufklärung des Falles anzustellen – und begann zu schreiben. Jahre später, 1997, ging daraus sein erstes Buch In my father’s name: a family, a town, a murder hervor.
Die Geschichte des Großvaters, der kein Dichter, sondern Farmer werden sollte, die Geschichte des Namens Arax im Zusammenhang mit diesem Buch über das Wasser, die Geschichte des Mords am Vater, die auf ihre Weise am Anfang des Schreibens von Mark Arax steht, sowie die Geschichte des Genozids am armenischen Volk sind Spuren der individuellen und kollektiven Erinnerung des Autors, denen er in Risse in der Erde jenseits der Spuren von Wasser und Staub durch Kalifornien folgt. Auf seinem bewusst gewählten Zickzack-Kurs durch die Weite des Landes in Raum und Zeit kehrt Mark Arax immer wieder in sein Haus in Fresno, vom großen Ganzen seines Buchs an den Ort seines Schreibens mit Blick auf den Garten zurück.
Auf den Spuren von Wasser und Staub
»Schriftsteller von der Ostküste verweilen oft bei Interieurs, ihre Geografien sind Wohnzimmer, Schlafzimmer, psychoanalytische Praxen. Schriftsteller aus dem Westen, die über den Westen schreiben, müssen dem Land Rechnung tragen, es wird zu einer ihrer Hauptfiguren.«7
Das Land, insbesondere aber das Wasser sind die beiden Protagonisten in Mark Arax epischem Werk, das letztendlich die Geschichte von der Erschaffung Kaliforniens erzählt, dem tausend Kilometer langen Randstück des nordamerikanischen Kontinents, das immer schon, gleich ob im Goldrausch oder im Agrarrausch, auf Gedeih und Verderb dem Wasser ausgeliefert war. Neben diesen beiden Hauptfiguren treten unzählige Personen auf – historische und lebende, namhafte und namenlose – die jeder und jede ihre eigene Rolle in der Geschichte des Wassers in Kalifornien spielen: Missionare, indigene Einwohner, spanische und mexikanische Statthalter, Goldgräber, große und kleine Farmer, Landbarone und Landarbeiter, Cowboys, Politiker, Scharlatane ... und immer wieder der Autor selbst. Mark Arax interessiert die Schnittstelle zwischen dem Persönlichen und dem Land, die Marke, die seine vor dem Genozid an den Armeniern geflüchtete Familie über zwei Generationen der fremden Erde aufgeprägt hat. Er hat jahrelang recherchiert, Leute getroffen und ihnen zugehört, Orte entlang des über 600 km langen Central Valley aufgesucht, in Archiven gegraben, um dann an seinem Schreibtisch mit Blick auf den Garten hinter seinem Haus in Fresno aus dem gesammelten Material an Texten und Erzählungen, Erinnerungen und Entwürfen seine idiosynkratische Version und Vision der Geschichte Kaliforniens, gebrochen durch das Prisma des Wassers und der Ausbeutung dieser Ressource, zu schreiben.
Durch Kalifornien
»Um diesem Ort treu zu bleiben, um ihn wahrheitsgemäß abzubilden, musst du in diese Risse und Spalten gehen«8
Es gibt zahlreiche dokumentarische Fotografien in The Dreamt Land, die meisten von Joel Pickford; Mark Arax hat den Text des Buches ungekürzt auf Band gelesen; ich habe drei Jahre lang in den USA gelebt. Es gab also eine Vielfalt von Material, Handhaben, die mir über den reinen Text hinaus das Buch und dessen Gegenstand zugänglich machten. Abgesehen davon hatte ich zahlreiche Texte aus dem klassischen Chinesisch übersetzt, von denen man nichts oder nichts Genaues über die Zeit und den Ort ihres Entstehens, geschweige denn über die Verfasserschaft weiß. Warum war es mir jetzt im Zusammenhang mit dieser Übersetzung so wichtig, nach Kalifornien zu reisen, um die Schauplätze des Buches aufzusuchen und mit dem Autor zu sprechen?
Risse in der Erde ist eine bestechende Mischung aus Faktizität und Literarizität und Historizität, die sich schwer einordnen lässt. Das Buch ächzt geradezu von dem Gewicht der Zahlen und Fakten und wird gleichzeitig nie müde, noch eine Wendung, noch einen Schnörkel, noch eine Drehung zusätzlich zu tun. Die eingeflochtenen historischen Texte untermauern nicht unbedingt nur die Faktenlage, sondern verzerren die Grenze zwischen dem, was in unserem doppeldeutigen Wort Geschichte als Geschehenes und Geschichte als Erzähltes ohnehin kaum unterscheidbar ist oder unentschieden bleibt. Die Reise nach Kalifornien, das Gespräch mit dem Autor schien mir eine einzigartige Gelegenheit, das eingangs angesprochene Verhältnis zwischen der Realität und ihrer Darstellung, insbesondere in Form des geschriebenen und gesprochenen Worts, und den Prozessen hinter dieser Darstellung auszuloten.
Während meines Aufenthalts wohnte ich zehn Tage in Fresno, wo auch Mark Arax lebt. Meist holte Mark mich vormittags mit dem Auto ab, und wir fuhren gemeinsam zu einem Schauplatz oder einer Person, einer Figur aus seinem Buch. Diese mal längeren, mal kürzeren Fahrten waren eine wunderbare Gelegenheit zum Gespräch. Ich hatte mir im Vorfeld bei der Arbeit Notizen gemacht, was ich im Einzelnen fragen wollte, doch meist musste ich nicht darauf zurückgreifen. Die Landschaft, durch die wir fuhren, war nicht Kulisse, sondern Gegenstand des Gesprächs. Die Ortsschilder erzählten Geschichten, an die Mark sich erinnerte, und hier und dort wiesen sie nicht in eine Richtung, sondern auf sich selbst. Besonders eindrücklich ist mir in dem Zusammenhang »Five Points« geblieben, mehr Kreuzung als Ort mit einem Kreisverkehr in der Mitte, der fünffach ins Nirgendwo zu führen schien. In Five Points gab es buchstäblich nichts außer Lassen Market, einem kleinen Supermarkt, der, wie Mark wusste, von einer chinesischen Familie geführt wurde. Wir parkten das Auto auf dem sonst leeren Gelände und gingen hinein. Es würde zu weit führen, das skurrile Angebot in den Regalen des Ladens hier zu beschreiben. Doch von einzelnen Schuhen über unsortierte Schrauben und Cream Crackers gab es einfach alles, was fleißige Hände in einem Leben am Rande einer Überflussgesellschaft zusammenzutragen und aufzubewahren vermögen. Nicht zuletzt ein Sammelsurium antiquarischer Bücher, darunter eine schöne Ausgabe der chinesischen Anthologie »Seltsame Geschichten aus alter und neuer Zeit« aus dem 17. Jahrhundert im Schuber. Die Chinesin an der Kasse, mit der Mark Arax, nachdem ich mich umgesehen hatte, in ein tiefes Gespräch verstrickt war, wollte es aber nicht verkaufen, da sie nicht sicher war, ob ihr Vater nicht doch noch einmal die eine oder andere Erzählung daraus lesen würde. Sie selbst sprach kein Chinesisch. Mit zwei Flaschen Eistee, die neben einer einzelnen Tomate im Kühlschrank gestanden hatten, verließen wir den Laden. Im Auto meinte Mark, Five Points und Lassen Market sei der Stoff für eines seiner nächsten Bücher. Für mich war es interessant zu beobachten, wie sich zwischen ihm und einem Ort und dessen Menschen ganz unmittelbar ein Gespräch entspann, das sich im weiteren Verlauf gleichsam fortschrieb und zum Material seiner eigenen Geschichte wurde.
»a brick of a book«
a brick of a book, steinschwer, hat Felicia Marcus in einem Gespräch mit Mark Arax an der Stanford Universität dessen Buch genannt. Tatsächlich nahm die Übersetzung von The Dreamt Land viel mehr Zeit in Anspruch als ich ursprünglich gedacht hatte. Das hat nicht nur mit dem schieren Umfang des Textes zu tun, sondern auch mit der technischen Genauigkeit einzelner Passagen, für die ich etwa in geologischer oder hydrologischer oder agrarwissenschaftlicher Terminologie Nachforschungen anstellen musste, mit den vielen unterschiedlichen Stimmen, die in dem Buch zu Wort kommen und nicht zuletzt mit Arax‘ überreicher, eigenwilliger Sprache. Schon als Kind hatte er damit begonnen, Listen mit seltenen und seltensten Wörtern anzulegen. Doch es waren nicht nur die hochspezifischen Wörter, die regelmäßig wie schwer zu bewegende Steinbrocken auf dem Weg meiner Übersetzung lagen, sondern auch und gerade die ganz allgemeinen, die Mark Arax in den unterschiedlichsten Bereichen verwendete. Etwa das Wort ‚take‘, nehmen, oder sein Gerundium ‚taking‘, und hier wird es im Deutschen schon schwieriger, das Nehmen oder – die Nahme. Wir verstehen und verwenden das Wort Landnahme – aber Flussnahme im Sinne der Besitznahme eines Flusslaufs steht nicht im Wörterbuch der deutschen Sprache. Ebenso wenig finden wir dort Körpernahme im Sinne der Besitznahme eines menschlichen Körpers. „Each taking of a resource – the body of the native, river, mineral, element, soil – allowed for the next taking.“ Zu Deutsch: „Jede Besitznahme einer Ressource – sei es der Körper der Eingeborenen, ein Fluss, ein Mineral, ein Element oder Erde – ermöglichte die nächste Besitznahme.“ Hinter all diesen Arten und Weisen der Besitznahme zum Zweck der Ausbeutung steckt dieselbe Haltung und Systematik unrechtmäßiger Aneignung, was sich in der konsequenten Verwendung ein und desselben Verbs widerspiegelt. Hier muss die Übersetzung mitziehen, und man spürt bei einem vermeintlich einfachen Wort wie ‚nehmen‘, selbst wenn man es in seinem weitesten Sinne nimmt, plötzlich einen Widerstand.
Bonusmaterial
»Risse in der Erde« ist der Haupttitel im Sachbuch- Herbstprogramm 2023 von Matthes & Seitz Berlin. Aus diesem Grund haben Rebecca Zeil, meine Lektorin, und ich eine Leseprobe zu dem Buch zusammengestellt. Sie enthält neben einigen Textauszügen und Fotos aus The Dreamt Land auch ein Interview, das ich mit Mark Arax geführt und ins Deutsche übersetzt habe. Da die Broschüre ausschließlich gedruckt über den Verlag zu beziehen ist, möchte ich das Interview in leicht gekürzter Form zum Abschluss meines Journals auch an dieser Stelle zugänglich machen.
Mark Arax
im Gespräch mit
Eva Schestag
April 2023
Der erste chinesische Historiograf, Sima Qian, gesteht in einem Brief, dass die größten Werke der Literatur alle aus einem »bohrenden Schmerz« im Herzen des Schreibenden entstanden sind. Du hast mit fünfzehn zu schreiben begonnen, um mit einem Kassettenrekorder und einem Notizblock den Mord an deinem Vater aufzulösen, was letztendlich zu deinem ersten Buch, In my Father’s Name, führte. Was hat dich später im Leben ein Schriftsteller werden und an deinen Erfolg glauben lassen?
Wer weiß, was aus mir geworden wäre – ein Schriftsteller, ein Malocher – wenn mein Vater in jener Nacht quicklebendig nach Hause gekommen wäre? In einem meiner wiederkehrenden Träume hat er die fünf Kugeln tatsächlich überlebt, doch seine Wunden haben sein Leben verändert, er ist an einen Rollstuhl gefesselt und kann nicht mehr zu Hause leben. In diesen Träumen mache ich mich auf die Suche nach ihm, finde ihn und sehe, dass er so verwundet ist, dass er nicht mehr mit meiner Mutter, der Schwester, dem Bruder und mir leben kann. Mein Traumzustand, dieses andere Reich, hat dieser Geschichte ein anderes, nicht weniger tragisches, Ende gegeben. Um die Frage zu beantworten, was irgendjemanden einen Schriftsteller werden lässt, so muss ich erwähnen, dass mein Großvater väterlicherseits, Aram Arax, zahlreiche Gedichte geschrieben hat, und zwar ziemlich gute. In der Arax-DNA gibt es also irgendwo ein literarisches Gen. Und weil der Mord über dreißig Jahre lang nicht aufgeklärt wurde, konnte ich zu einem frühen Zeitpunkt etwas von Rilke lernen. Der schrieb einmal, dass man »mit dem Ungelösten im Herzen« Geduld haben müsse und versuchen, »die Fragen selber lieb zu haben«, denn die Antworten blieben uns vielleicht auf ewig entzogen. Insofern hat mich der Mord an meinem Vater vor allem zu einem leidenschaftlich Fragenden gemacht.
»Was schreibt ein Schriftsteller, wenn nicht das, was er erlebt, was er gesehen und gerochen und geschmeckt hat? Du musst über das, was du kennst, in der Sprache schreiben, in der du es kennst.« Das ist der Rat, den William Saroyan dir gab, wie du in deinem ersten Buch schreibst, kurz bevor du nach New York an die Columbia University gingst, um dort Journalismus zu studieren – und kurz vor Saroyans Tod. Inwieweit war dieser Ratschlag wegweisend für dich?
Saroyan war ein fantastischer Schriftsteller mit einer ganz eigenen Stimme. Die Kritiker griffen ihn irgendwann einmal an, fanden ihn »zu sentimental«, aber ich liebe seine Antwort auf ihren Vorwurf geradezu. Er fragte sie nämlich: »Was, bitteschön, ist ein Schriftsteller, wenn nicht sentimental?« Saroyan war ein Freund meines Großvaters, und als Kind hatte ich oft Gelegenheit, ihn zu besuchen. Gelegenheiten, bei denen ich gründlich versäumte, das Beste daraus zu machen. Aber ich verließ sein Haus mit viel Tee in der Blase und ein paar Bröckchen weiser Worte im Kopf. Sein Rat, »schreib über das, was du kennst, in der Sprache, in der du es kennst«, war genau, was ich brauchte, um zu glauben, dass auch ich Worte auf ein Blatt Papier werfen konnte, und wenn diese Worte meine Worte waren, und die Welt, über die ich schrieb, meine Welt war, dann umso besser. Was er mir damit sagen wollte, so denke ich heute, ist, dass zukünftige Schriftsteller und Schriftstellerinnen in den Werken großer Schriftsteller und Schriftstellerinnen, deren Werke unser Gehirn stimulieren und unsere Gedanken erblühen lassen und vielleicht sogar Aspekte unserer Prosa formen, Inspiration finden können, doch wenn es darum geht, echt oder authentisch zu sein, muss man seine eigene Stimme finden – und dazu braucht man gar nicht weit zu gehen. Wir müssen nur in uns selbst gehen.
Wie viel Fiktion, wie viel Geschichtenerzählen gestehst du dir in einem Buch wie »Risse in der Erde« in Hinblick auf die Beschreibung der auftretenden Charaktere zu?
Oh, das ist ein Geheimnis, das darf ich nicht verraten. Die Leser wollen glauben, dass ein Sachbuch ein Sachbuch und nicht fiktiv ist, und wir dürfen diesen Mythos nicht zerstreuen. Eigentlich sind alle Details in meinen Büchern wahr. Es sind Tatsachen, oder zumindest das, was wir als denkende Menschen vor dieser jüngsten Blüte des Wahnsinns einmütig für Tatsachen hielten. Und dennoch, die Wendungen und Windungen in meiner Erzählung, der Aufbau der Szenen, das Verschmelzen von Memoir, Geschichte, Essay, Kommentar, Reportage – diese Mischung ist eine Kreation, die, wenn das Verhältnis stimmt, genauso erfinderisch ist wie die Fiktion in einem guten Roman.
»Risse in der Erde« erzählt die Geschichte der Erschaffung, Erfindung und immer wieder Neuerfindung Kaliforniens. Dennoch hast du deinem epischen Werk drei Verse aus einem Gedicht von Richard Wilbur vorangestellt, das er in Rom geschrieben hat. Der englische Titel, The Dreamt Land, kommt natürlich aus diesen Zeilen, aber sie führen das Buch gleichzeitig an einen weit entfernten Ort. Warum dieser Perspektivwechsel? Hast du je davon geträumt, Kalifornien zu verlassen? Apropos Titel, war The Dreamt Land von Anfang der Titel des Buchs, das du schriebst? Oder hat sich dieser Titel im Lauf des Schreibens ergeben? Gab es Alternativen dazu?
Ich bin miserabel darin, Titel für meine Bücher zu finden. Wenn ich das letzte Wort geschrieben habe, suche ich nach einem Titel, der zu dem Ganzen passt. Ich jage durch die Bibel, durch die Werke der großen Dichter, durch meinen eigenen Text nach einer guten Zeile, die dafür herhalten könnte. In diesem Fall war es so, dass der Dichter Richard Wilbur, ein ziemlich guter übrigens, starb, als ich das Buch gerade zu Ende schrieb. In seinem Nachruf in der New York Times war ein Schnipsel von seinem Gedicht, das er in Rom geschrieben hatte. Diese Worte schienen mir zu dem ehrgeizigen Traum Kaliforniens zu passen, zu der ungeheuren Entnahme und Bewegung von Wasser. Die Wörter »erträumtes Land« schienen mir die ganze Hybris des kalifornischen Experiments einzufangen. Der Untertitel, Auf den Spuren von Wasser und Staub durch Kalifornien, fiel mir danach ein. Der neue Titel der deutschen Übersetzung gefällt mir tatsächlich gut. Risse in der Erde. Er lässt vieles anklingen.
Bei einer Lesung an der Stanford University vor fast genau einem Jahr hast du gesagt: »Ich denke, dass die Bewältigung des Klimawandels mit dem Kapitalismus womöglich unvereinbar ist«. Siehst du ein alternatives Wirtschaftssystem für den Westen oder ist unsere Hoffnung auf eine Lösung der Klimakrise leer?
Ich denke, dass unsere derzeitige Version von Kapitalismus – schnell verdientes Geld für die Reichen, »Wachstum, Wachstum, Wachstum« als Quintessenz, die Manipulation der Wall Street durch Supercomputer und Hedgefonds-Haie, die Übersättigung unseres konsumorientierten Lebens, unsere Unfähigkeit, Muster zu durchbrechen und ein wenig Unbequemlichkeit in Kauf zu nehmen – uns zu leichter Beute für den Klimawandel macht. Ich bleibe bei meiner Aussage, hier leicht modifiziert, die Bewältigung des Klimawandels ist mit unserer derzeitigen Form des Kapitalismus unvereinbar.
Es gibt im Deutschen zwar den Begriff ›literarischer Journalismus‹, er wird jedoch fast ausschließlich auf journalistische Texte, Stories im Longform-Format angewendet. Im Übrigen unterscheiden wir streng zwischen ›Belletristik‹ und ›Sachbuch‹. Im Fall deiner Bücher fällt es mir schwer, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten. Deine Prosa ist musikalisch, fast lyrisch, deine Sprache metaphorisch, voller Bilder. Deine Geschichten, die sich oft Falte um Falte seitwärts zu bewegen scheinen, beruhen auf Tatsachen, Archivtexten, Gehörtem und Gelesenem, Erinnerungen und autobiografischen Momenten zugleich. Alle Gegenstände, Orte, Personen, denen du begegnest, scheinen dir ihre Geschichte zu erzählen, und du hörst zu, schenkst jedem noch so kleinen Detail deine Aufmerksamkeit (nie, ohne dabei das große Ganze aus dem Auge zu verlieren). Deine Sprache hat eine so starke Präsenz und Freude an sich selbst, dass man als Lesende sich in ihren Windungen und Wendungen verlieren möchte und dabei fast vergisst, über die Worte hinaus noch etwas anderes zu begreifen. Bei einem Sachbuch wäre das äußerst ungewöhnlich. Wo würdest du dich oder deine Bücher in den Festschreibungen eines Genres sehen?
Ich möchte mich noch tiefer in das Experiment fiktionaler Literatur vorwagen, was bedeutet, mich noch mehr auf ihre Techniken, ihre Kühnheit, ihren Erfindungsgeist, ihre Herausforderung einzulassen.
Welchen Ratschlag würdest du einem jungen Menschen geben, der Schriftstellerin oder Schriftsteller werden möchte?
Schalte dieses elende Smartphone aus, schau nach oben und suche das Leuchten der Welt.