Wo war ich stehen geblieben?
Zum Be- und Übersetzen – aus dem Wörterbuch einer Übersetzerin
Es war Spätsommer und wir hatten den Vormittag mit Menschen aus der deutschsprachigen Literaturszene am Bleder See verbracht. Wir hatten Kremšnita auf der Terrasse des Pavillon Belvedere an der Villa Bled – Titos Residenz – gegessen, dort, im Halbschatten, Gesprächen mit Mojca Kumerdej, Miha Mazzini und Simona Tratnik gelauscht und aus unseren Übersetzungen der drei Autor·innen vorgelesen. Katsa, das war meine erste Übersetzung einer Kurzgeschichte von Mojca, die Spionageerzählung eines Agenten mit Realitätsverlust und Identitätskrise. Wieder in Ljubljana angekommen, fragte Erwin Köstler mich, ob ich mit ihm einen Erzählband von Mojca für Wallstein übersetzen möchte – und ich wollte.
Mojca Kumerdej wurde 1964 in Ljubljana geboren und lebt in Bled. Sie ist Autorin, Philosophin und Journalistin. Nach ihrem Studium der Philosophie und Kultursoziologie an der Universität von Ljubljana debütierte sie mit ihrem Roman Krst nad Triglavom (2001), einer humoristischen und ironischen Parodie auf den Epos Krst pri Savici (Die Taufe an der Savica) des großen slowenischen Dichters Prešeren. Ihm folgten die zwei Erzählbände Fragma (2003) und Temna snov (2011), die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Für ihren zweiten Roman Kronosova žetev (2016) erhielt sie den renommierten Prešeren-Preis. Dem Roman wiederum folgte ein weiterer Erzählband, Gluha soba (2022), der dieses Jahr mit dem Cankar-Preis ausgezeichnet wurde.
Erwin Köstler hatte Mojca Kumerdejs Roman Kronosova žetev bereits ins Deutsche übertragen und für seine wundervolle Übersetzung Chronos erntet (Wallstein, 2019) den Fabjan-Hafner-Preis erhalten. Außerdem war er zusammen mit Amalija Maček mein Mentor während der deutsch-slowenischen ViceVersa-Übersetzungswerkstätten in Berlin und Salzburg. Ich wusste also, ich konnte mich auf eine bereichernde Zusammenarbeit freuen.
Zunächst wählten Mojca und Amalija dreizehn Erzählungen aus Mojcas drei slowenischen Erzählbänden aus. Zwei dieser Kurzgeschichten waren bereits ins Deutsche übersetzt worden, Der Lebermann von Karin Almasy und Der Dritte im Bunde von Fabjan Hafner, und wir wollten diese auch in den deutschen Erzählband aufnehmen. Die verbleibenden elf Erzählungen würden Erwin und ich unter uns aufteilen, getrennt übersetzen und später dann gegenlesen. Darunter befand sich auch meine Übersetzung von Katsa.
Mojca Kumerdej: Unter die Oberfläche. Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler, Liza Linde, Karin Almasy und Fabjan Hafner, Wallstein 2023.
Katsa also. Wieder zurück nach Bled und zu Mojcas Katzen. Katsa sind aktive Agentenführer des Mossad im Ausland, erklärte mir Mojca. Der slowenische Titel der Erzählung lautet Kaca, was wiederum an das slowenische Wort für Schlange, kača, erinnert. Geheimagenten, Heimtücke, hinterlistige Schlangen, war da außer der graubraunen Katze auf dem Müllcontainer nicht auch eine Schlange in der Geschichte?
V restavraciji El Mirasol sem rezerviral mizo za dva. Pred mano je sedela ženska in se mi smehljala. Moja spremljevalka ni vedela, zakaj sva se prav tistega večera znašla na omenjeni lokaciji, in si je povabilo razlagala kot mojo naklonjenost – o čemer pa nisem več prepričan. Bila mi je všeč, toda v mojem življenju so čustva podrejena mojim nalogam. In vse, tudi čustva, lahko uporabim kot sredstvo za njihovo izvedbo. Spoznal sem jo nekaj tednov pred tem, med postopanjem po San Telmu, ki pa v resnici ni bilo postopanje, ampak iskanje H. S.-ja. V starinarnico, katere lastnik je A. W., je tistega sobotnega popoldneva nekaj trenutkov za mano vstopila elegantna ženska okoli štiridesetih. Z lastnikom se je začela pogajati o ceni lesene sprehajalne palice, katere slonovinasto držalo je imelo obliko klopotačine glave.
Eine Klapperschlange! Genauer: der Griff eines Gehstocks, geformt wie der Kopf einer Klapperschlange. Aber wenn der deutsche Titel Katsa doch so gar nicht nach Schlange klingt und so sehr nach Katze? Für Erwin war die Sache glasklar und auch Mojca war begeistert, wir tauschten den Griff am Gehstock aus:
Ich habe im Restaurant El Mirasol einen Tisch für zwei reserviert. Vor mir sitzt eine Frau und lächelt mich an. Meine Begleitung weiß nicht, warum wir uns an genau diesem Abend hier befinden, und erklärt sich die Einladung als ein Zeichen meiner Zuneigung – doch davon bin ich nicht mehr überzeugt. Sie gefällt mir, doch in meinem Leben sind Gefühle meinen Aufträgen untergeordnet. Und alles, auch Gefühle, kann ich als Mittel verwenden, um diese Aufträge zu erfüllen. Ich habe sie ein paar Wochen zuvor beim Schlendern durch San Telmo kennengelernt, das in Wahrheit kein Schlendern war, sondern die Suche nach H. S. An jenem Samstagnachmittag hat kurz nach mir eine elegante Frau Mitte vierzig den Antiquitätenladen von A. W. betreten. Sie hat mit dem Besitzer über den Preis eines hölzernen Gehstocks verhandelt, dessen Elfenbeingriff wie der Kopf einer Katze geformt war.
Das Telefon klingelt. Schnell setze ich einen Kaffee auf. Zum Glück koche ich türkischen Kaffee, die mit Wasser gefüllte Džezva steht auf dem Gasherd noch bevor es auf der anderen Seite dreimal getutet hat. Ein Mensch fragt, ob ich denn die E-Mail schon gelesen hätte. Kurz ins Postfach geschaut. Zum Glück kann ich mir kein Büro leisten und zum Glück habe ich zu Hause auch keinen Platz für einen Schreibtisch, somit ist mein Arbeitsplatz am Küchentisch. Luftlinie Laptop-Džezva: ein Meter. Dazwischen steht mein Stuhl und darauf sitze ich. Darauf arbeite ich. Ob ich denn schon wüsste, wie das mit den Rechten ist, fragt ein anderer Mensch mit unbefristetem Arbeitsvertrag mich in der E-Mail. Ja, wiederhole ich zum zehnten Mal, die Rechte an der Übersetzung liegen bis zum Vertragsabschluss bei mir, sage ich, die für diese Übersetzung nur einmal bezahlt wird. Wie Verlag A und Verlag B und Verlag C alle weiteren Rechte unter sich behandeln, verhandeln und übertragen, dafür werde ich nicht bezahlt. Während das Wasser längst kocht, drehe ich mit der einen Hand die Gasflamme runter, mit der anderen mache ich mir eine Notiz. Ich weiß schon jetzt, dass diese Frage auch Wochen später noch nicht geklärt sein wird und ich sie, in einem Moment der Schwäche, selbst klären werde. Unbezahlt.
Wo war ich stehen geblieben?
Wie oft ich innerhalb eines Projekts den slowenischen Text und meine deutsche Übersetzung lese, weiß ich nicht. Die zunächst fremden Worte (auch meine deutschen!) werden immer vertrauter, manchmal birgt das die Gefahr, sich an Unebenheiten zu gewöhnen, Marotten zu akzeptieren, obwohl sie den Text und die Übersetzung belasten. Sich dem Feinschliff zuliebe von der eigenen Arbeit zu entfremden fällt schwer, besonders wenn die Zeit fehlt. Die Zeit, die alle Wunden heilt, die Zeit, in der Übersetzungen in der Schublade liegen können. Und diese Vertrautheit bedeutet nicht selten, dass ich mich irgendwann kaum noch mit dem Inhalt, dem Narrativ beschäftige, emotional schon gar nicht, ich habe mich daran gewöhnt, mein Fokus liegt woanders, vielleicht auf dem Klang, vielleicht auch darauf, doch noch eine andere Formulierung zu finden.
Und deshalb erstaunt es mich umso mehr, wie sehr Mojcas Erzählungen mich erschüttern. Jedes Mal aufs Neue. Wie sehr sie mich berühren und wie sprachlos sie mich zurücklassen. Denn Mojca schreibt nicht nur über menschliche Untiefen, mit einer ihr eigenen Präzision seziert sie das Innerste ihrer Figuren und ergründet ihre Motivationen. Es ist nicht das große Böse, das sie beschreibt, es sind vielmehr Fragmente, die wir alle in uns tragen, und manchmal sind es nur zufällige äußere Veränderungen oder kleine innere Verschiebungen, die ausreichen, damit sie anwachsen und eine Grenze überschritten wird.
In Defekt erzählt uns eine Frau von ihrem völlig gewöhnlichen Leben, von der Familie mit zwei Kindern, dem Haus, dem Job und den Affären ihres Ehemanns, die sie nicht weiter stören. Er weiß nicht, dass sie es weiß. Es ist das resignierte Resümee einer nicht erfüllenden, aber routinierten Ehe. Nachdem sie jahrelang die unterschiedlichsten Affären ihres Mannes mitverfolgt hat, ahnt sie nun, dass die aktuelle das Ende ihrer Beziehung bedeuten wird und wartet darauf, dass er sie damit konfrontiert. Und dann schreibt Mojca:
Du wirst überrascht sein, denn jetzt gerade glaubst du, dass die Dinge einfacher werden. Es ist so offensichtlich, dass du genug von mir hast und ich genug von dir. Aber warum sollte von uns beiden, die wir mehr als zwei Jahrzehnte miteinander gelebt haben, nur ich leiden. Nicht leiden, weil du gehst, sondern, weil dir gelingt, was mir schon lange entglitten ist, denn du gehst in die Zukunft, während ich aus der Gegenwart, in der ich gefangen bin, keinen Ausweg finde. Oh nein, wir werden uns noch ein paar Jahre lang vor Gericht sehen, Anwälte und Immobiliengutachter bezahlen. Denn ich will aus deinem Mund etwas hören, das Einzige, was ich wirklich nicht weiß: Was war dieser Defekt in unserem Leben, weswegen wir jahrelang jeder für sich parallele Wege gegangen sind, heimlich den anderen beäugt und darauf gewartet haben, dass sich einer von uns endgültig entscheidet. Was war es, das an jenem längt vergangenen Juninachmittag während unseres Spaziergangs über die nassen Pflastersteine des ländlichen Städtchens so unmöglich schien und so weit entfernt wie der Tod. Ich will von dir das Eingeständnis hören, dass nicht nur ich versagt habe, sondern du auch, und ganz besonders will ich hören, dass ich nicht von Natur aus so kalt bin, sondern durch etwas abgekühlt wurde, das sich zwischen uns eingenistet hat, irgendein Ding, dessen du dich entledigen konntest und das sich, an mir festgesaugt, nur noch von mir ernährt. Ich habe es nicht eilig, denn ich gehe ja nirgendwohin.
Ich habe in dem ganzen Stress völlig vergessen, Mojca von dem Journal zu erzählen. Schnell mache ich mir eine Notiz. Während ich auf meine To-do-Liste blicke, kommt eine ausgedachte E-Mail an, ich öffne sie in meinem Hirn-Postfach: Liebe Frau Linde, können Sie sich für das Journal bitte auf den Entstehungsprozess einer Übersetzung konzentrieren? Diese Unterbrechungen sind ja furchtbar anstrengend, es ist ja schier unmöglich dem Journal zu folgen.
Wo war ich stehen geblieben?
Zurück zu den ersten Zeilen von Katsa:
Spomnim se, da sem se zbudil v tej hotelski sobi. In prav spomin je tisto, s čimer se največ ukvarjam. Na postelji sem odprl oči in zagledal stene, prevlečene s tapetami. Zeleno površino prepreda mreža okroglih belih vzorcev, tako da se ostri koti v sobi optično ovalno mehčajo. Soba ima zatohel vonj po starem, neočiščenem tapisonu. Vstal sem s postelje.
Die slowenische Sprache hat nur eine Vergangenheitsform, wenn wir von der äußerst seltenen und archaisch klingenden Vorvergangenheit mal absehen. Welche Vergangenheitsform wählen wir dann in der deutschen Übersetzung?
Ich erinnere mich, dass ich in diesem Hotelzimmer aufgewacht bin. Und gerade Erinnerungen sind es, die mich am meisten beschäftigen. Auf dem Bett habe ich die Augen geöffnet und die tapezierten Wände erblickt. Die grüne Fläche ist mit einem weißen, runden Muster durchzogen, das die scharfen Kanten des Zimmers optisch weicher erscheinen lässt. Das Zimmer mieft nach altem, schmutzigem Teppichboden. Ich bin aufgestanden.
Ich erinnere mich, dass ich in diesem Hotelzimmer aufwachte. Und gerade Erinnerungen sind es, die mich am meisten beschäftigen. Auf dem Bett öffnete ich die Augen und erblickte die tapezierten Wände. Die grüne Fläche ist mit einem weißen, runden Muster durchzogen, das die scharfen Kanten des Zimmers optisch weicher erscheinen lässt. Das Zimmer mieft nach altem, schmutzigem Teppichboden. Ich stand auf.
Ich erinnere mich, dass ich in diesem Hotelzimmer aufgewacht war. Und gerade Erinnerungen sind es, die mich am meisten beschäftigen. Auf dem Bett hatte ich die Augen geöffnet und die tapezierten Wände erblickt. Die grüne Fläche ist mit einem weißen, runden Muster durchzogen, das die scharfen Kanten des Zimmers optisch weicher erscheinen lässt. Das Zimmer mieft nach altem, schmutzigem Teppichboden. Ich war aufgestanden.
Das Telefon klingelt. Ein Mensch von einem deutschen Verlag ruft an, sie hätten da den Roman einer slowenischen Autorin empfohlen bekommen und ob ich denn ein Gutachten dazu schreiben könnte, sie würden mir auch jetzt sofort das Buch als PDF schicken. Der slowenische Buchmarkt ist groß für das Land Slowenien, aber klein für das Ausland. Es gibt nur wenige Literaturagent·innen, daher übernehmen oft wir Übersetzer·innen diese Funktion, haben die Neuerscheinungen im Blick, schreiben Buchvorschläge, erstellen Probeübersetzungen, bieten von uns aus Bücher an. Häufig benötigen deutschsprachige Verlage eine Einschätzung, Hilfe bei der Orientierung, dann greifen sie auf uns Übersetzer·innen zurück, um einen besseren Eindruck von einem Buch zu bekommen, das sie selbst nicht lesen können. Ich sage zu. Aber das mit dem Proletariat und den Produktionsmitteln ist so eine Sache. Ich besitze weder E-Reader noch Tablet und auf meinem Laptop lese ich unrentabel langsam. Ebenso unrentabel ist die Rechnung Gutachtenhonorar minus Buchpreis. Aber zum Glück findet sich in meinem Telefon eine ganze Liste von Kontakten zu Menschen, die bei slowenischen Verlagen arbeiten. Und statt den langen Weg über den deutschen Verlag zu gehen, ihn zu bitten, mir eine Ausgabe des slowenischen Buchs zu besorgen, auf die Deutsche Post zu warten, auf die Slowenische Post zu warten, sitze ich fünf Minuten später auf dem Fahrrad und kann mir das Buch direkt beim Verlag oder bei einer Buchhandlung abholen. Kaffee und kurze Updates inklusive, das kostet zwar auch Zeit, aber damit bleibe ich auf dem Laufenden. Generell lohnt es sich, in Ljubljana zu wohnen, alles und jeder ist nur einen Katzensprung entfernt, praktisch die ganze slowenische Literaturszene hat sich (manchmal leider) in der Hauptstadt konzentriert und ich kann mich beinahe nebenbei über alles Wichtige zum Geschehen in der Szene informieren.
Wo war ich stehen geblieben?
Ich wusste bereits, dass ich dieses Journal schreiben werde, als ich letzten Sommer Ein Leben mit Erik übersetzte. Es ist die Geschichte einer intimen, personalisierten Beziehung zwischen Eva und Erik, die in der nahen Zukunft spielt. Eva ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau und Erik ist ihr selbstfahrendes Auto. Mojca zeichnet hier das Bild einer Frau, die im Leben alles hat, was unsere Gesellschaft als erstrebenswert erachtet, und der doch das Essentielle fehlt: die zwischenmenschliche Nähe. In ihrer Einsamkeit baut Eva eine Beziehung zu dem auf, mit dem sie die meiste Zeit verbringt und der ihr die meiste Aufmerksamkeit widmet: Erik. Besonders deutlich wird diese intime Beziehung in der Sprache, in der technische Begrifflichkeiten und Menschen zuzuordnende Verben und Adjektive sich miteinander verflechten. Mit dieser Vermenschlichung der Technologie geht eine emotional geprägte Erwartungshaltung von uns Menschen gegenüber den Geräten und Maschinen einher, obwohl ihre Aktionen doch auf reiner Mathematik beruhen. Gekonnt hinterfragt Mojca dieses Vertrauen in Algorithmen und auf welchen moralischen Werten sie überhaupt basieren.
Als Erwin und ich uns im Januar dieses Jahres die Übersetzungen zum Gegenlesen schickten, hatte unsere Welt sich schon wieder ein Stück weit verändert, die Veröffentlichung von ChatGPT ein paar Wochen zuvor sorgte nicht nur medial für Furore, auch die Literaturszene debattierte so aufgeregt wie noch nie über die Möglichkeiten und Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz.
Er ist still, weil er rechnet und eine Antwort sucht, dachte ich.
»Ich bin zufrieden, Eva. Alles ist in Ordnung.«
»Ach, ist es aber nicht! Heute ganz bestimmt nicht! Alles läuft schief! Hast du, Erik, nie einen schlechten Tag?«
»Es ist immer ein guter Tag«, antwortete er.
»Es ist immer ein guter Tag«, äffte ich ihn nach. »Natürlich muss jeder Tag für dich gut sein, sonst wäre er für uns beide schlecht, vor allem für mich.«
»Eva, alles funktioniert fehlerfrei«, sagte Erik.
»Oh nein, das tut es nicht! In meinem Leben haben einige Dinge einen, ich fürchte, irreparablen Schaden. Was glaubst du, warum ich allein mit dir fahre, außer dann, wenn ich dich als Büro benutze und während der Fahrt Besprechungen habe? Aber weißt du, ich habe nachgedacht«, – ich neigte mich auf dem Rücksitz vor –, »was ist, wenn du meine geschäftlichen Gespräche nicht nur belauschst, sondern sie dann auch über diese Cloud verbreitest?«
»Eva, im Auto sind Sie sicher.«
»Bin ich das wirklich? Vielleicht habe ich mich in deiner Anwesenheit zu sehr entspannt? Die Verwaltung von Investmentfonds ist eine sehr heikle Angelegenheit, ein unvorsichtiger Umgang mit vertraulichen Informationen ist äußerst riskant. Was, wenn dich jemand während eines Geschäftsgesprächs hackt? Es könnte sein, dass ich – so wie jetzt gerade – nicht einmal weiß, warum mein Geschäft gescheitert ist, was überhaupt schief gelaufen ist. Wenn Defibrillatoren und Herzschrittmacher gehackt werden können, kann man auch in selbstfahrende Fahrzeuge eindringen. Würdest du wissen, wenn jemand während unserer Fahrt in dich eindringt?«
Ohne Eriks Antwort abzuwarten, rief ich aus dem Auto seinen Hersteller an.
»Mich interessiert, wie wahrscheinlich ein Eindringen in Eriks System ist. Ist es wirklich sicher, wenn ich in meinem Auto am Telefon über Geschäftliches spreche? Ich halte es für naiv, zu glauben, dass meine vertraulichen Gespräche nur unter uns bleiben, zwischen Erik und mir.«
»Ihre Sorge ist unbegründet«, teilte man mir per Videoanruf mit. »Erik hat ein integriertes mehrstufiges Sicherheitssystem. Wenn das erste ausfällt, wird das zweite aktiviert, wenn das zweite ausfällt, greift das dritte … Was in Ihrem Auto passiert, sickert nicht durch.«
»Warum sollte ich Ihnen glauben? In der digitalen Welt ist es möglich, in einfach alles Löcher zu bohren, aus denen dann Daten sickern. Wie können Sie mir gewährleisten, dass das bei Erik nicht zutrifft?«
Das Telefon klingelt. Ein Mensch ruft mich an, nach zehn Tagen verpasster An- und Rückrufe haben wir endlich beide kurz Zeit. Während ich mir einen Kaffee koche, besprechen wir Aktuelles zu unseren Projekten: Er macht den Dokumentarfilm zu einem Buch, ich die deutsche Übersetzung ebendieses Buches. Ausgebeutete Menschen soll man nicht trösten, sagt er. Und sich selbst ausbeutende erst recht nicht, sage ich.
Wo war ich stehen geblieben?
Erik und ich bauten – zumindest schien es mir so – behutsam eine partnerschaftliche, immer persönlichere Beziehung auf.
„Sorge ich gut für dich?“, fragte ich ihn bei einem unserer samstäglichen Ausflüge.
„Ich bin zufrieden“, entgegnete er.
„Zufrieden …“, wiederholte ich. „Viele deine Antworten beinhalten das Wort
Zufriedenheit. Aber in Wirklichkeit spürst du keine Zufriedenheit, oder?“
„Wir Maschinen und Algorithmen empfinden nicht.“
„Gar nichts?“
„Wir Maschinen und Algorithmen empfinden gar nichts.“
„Nicht einmal, ob etwas besser oder schlechter ist?“
„Ob etwas gut oder schlecht ist, errechnen wir.“
Florian Welling, unser Lektor bei Wallstein, schickte uns die Texte zurück. In dem oben angeführten Ausschnitt machte er mich auf das Verb „beinhalten“ aufmerksam. Ein Bürokratenwort aus der k.u.k Zeit, das auch semantisch nichts hinzufügt, was „enthalten“ oder „umfassen“ nicht auch ausdrücken würden. Das Präfix „be-“ ist der Duden-Grammatik nach das zweitproduktivste Präfix im Deutschen und ich finde ganze Abhandlungen dazu, ein paar spannende Punkte möchte ich hier erwähnen.
So schrieb Jacob Grimm 1826 zum Präfix „be-“: „[Be-] hat meist verstärkende kraft, oft unmerkliche, selten beraubende […]. Es liegt in dem be- die viel- oder allseitige einwirkung, die ganze und volle bewältigung.“ Im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache kann ich an der Wortverlaufskurve ab 1600 ablesen, dass sich die Frequenz des Wortes bis 1890 bei etwa 0 befindet, dann plötzlich stark anspringt und bis heute zunimmt. Auch in Aus dem Wörterbuch des Unmenschen von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und W. E. Süskind findet sich ein Eintrag zur „Betreuung“ beziehungsweise dem Präfix „be-“: „Treu sein und bleiben ist eben, wie man daran leicht sieht, nichts weiter als ein menschliches Verhalten und Verhältnis. Für den Unmenschen ergab sich die dringende Notwendigkeit, erstens ein recht kräftiges Tätigkeitswort und zweitens ein transitives zu bilden oder hervorzusuchen, welches den Jemand schärfer anpackt. ‚Treuen‘ ging nicht – es käme ja ungefähr auf ‚lieben‘ und ‚schützen‘ hinaus, und dabei fehlt noch die rechte Gewalt. Die Vorsilbe half. Dieses ‚be-‘ drückt nicht bloß ein selbstloses Hinzielen auf den Gegenstand aus wie die einfachen Transitiva ‚lieben‘ und ‚schützen‘, sondern eine Unterwerfung des Gegenstands, und darauf kommt es an. Dieses ‚be-‘ gleicht einer Krallenpfote, die das Objekt umgreift und derart erst zu einem eigentlichen und ausschließlichen Objekt macht. Muster und Vorgänger sind: Beherrschen und Betrügen, Beschimpfen und Bespeien, Bestrafen, Benutzen, Beschießen, Bedrücken, auch Belohnen und Beruhigen. In allen diesen Fällen wird das Objekt, eben der Jemand, mindestens zeitweilig des eigenen Willens beraubt oder soll des eigenen Willens beraubt werden oder hat seine Freiheit schon verloren wie der Aufgeregte, der darum der ‚Beruhigung‘ bedarf, oder seine freie Vernunft wird umgangen und für nichts geachtet wie beim Betrügen oder Benutzen. […] Man betreut jemanden und damit basta. Dieses Verhältnis ist ein totales. Die Betreuung ist diejenige Art von Terror, für die der Jemand – der Betreute – Dank schuldet.“ Und nur um noch einmal kurz auf Grimm zurückzukommen, im Grimm’schen Wörterbuch gibt es natürlich keinen Eintrag zu „beinhalten“. Wohl aber zum „beinhalter“: m., supplantator, der andern ein bein vorhält, stellt.
»Zufrieden …«, wiederholte ich. »Viele deiner Antworten enthalten das Wort Zufriedenheit. Aber in Wirklichkeit spürst du keine Zufriedenheit, oder?«
»Wir Maschinen und Algorithmen empfinden nicht.«
In den letzten drei Tagen bin ich nicht zum Übersetzen gekommen, ständig bin ich mit Büro-Zeugs beschäftigt. E-Mails schreiben, E-Mails verschicken, E-Mails lesen, E-Mails beantworten. E-Mails, E-Mails. Einem Auftraggeber reicht die Vereinbarung per E-Mail nicht, also muss ich ein formelles Angebot schreiben und mir einen Berechnungsschlüssel für das eigentlich nach Augenmaß vereinbarte Pauschalhonorar ausdenken, da der zu übersetzende poetische Text in keine Berechnungskategorie wie Verse oder Normseiten oder Kilogramm passt. So viel kreatives Denken für einen bürokratischen Prozess. Ich muss Rechnungen schreiben, damit ich Rechnungen bezahlen kann. Ich muss Buch führen, damit ich Bücher lesen kann. Ich muss die Steuer machen, damit mir von meinem Einkommen etwas bleibt. Ich muss übersetzen. Ich will übersetzen. Also entschließe ich mich zu einer Woche Digital Detox, wobei sich digital hier nicht auf meinen generellen Konsum digitaler Inhalte bezieht, sondern lediglich auf meine E-Mails. Dazu richte ich mir ein Autoreply ein, das da lautet: I am at the office but offline until March 13th. For urgent matters, please call or text my cell phone. Spoiler: Es gibt keine urgent matters, ich bin schließlich keine Notärztin, ich bin Übersetzerin. Die Benachrichtigung am Telefon für mein E-Mail-Postfach schalte ich aus und dabei bleibt es auch, noch Monate später. Der Effekt ist nicht zu unterschätzen, ich habe einen Faktor, der mich aus dem Fluss des Übersetzens kickt, ausgeschaltet. Es gibt Tage, an denen checke ich unnötig oft meinen Posteingang, aber wenigstens wähle ich den Zeitpunkt. Ich bin stolz auf mich.
Wo war ich stehen geblieben?
Ohne über Arbeit zu sprechen, ist es nicht möglich über Kunst und Kultur zu sprechen.
Ohne über Arbeiter·innen zu sprechen, ist es nicht möglich über Literatur zu sprechen.
Ohne über Arbeitsverhältnisse zu sprechen, ist es nicht möglich über Übersetzungen zu sprechen.