Journale Prosa Gefundenes, Wiedergefundenes

Gefundenes, Wiedergefundenes

Journal zur Übersetzung von István Keménys Essay 50 + 1 literarische Pfeiler

Lesen
Die Pfeiler
Unruh
Lefordíthatatlanok: Itt und ott oder die Zweiteilung der Welt
An einem Ort in der Mancha
Lefordíthatatlanok: ő und was damit einhergeht
Ady! Na, Ton?
Lefordíthatatlanok: kocsmázás, kurvázás Falstaffékkal – Das leichte Leben im Wirtshaus mit Falstaff und den anderen
Die Verschwiegenen
Registersprünge in die Freiheit?
Histos

Schreibheft Nr. 101, Rigodon-Verlag 2023.

Lesen

Zu Beginn war es nur ein Gedankenspiel, geboren aus einer vagen Erinnerung: Eine Übersetzerin Gustave Flauberts soll einmal gesagt haben, dass man, um ihn zu übersetzen, eigentlich alles gelesen haben müsste, was er gelesen hatte. Es ist nachvollziehbar, was sie damit meint, das macht die Vorstellung aber nicht weniger unheimlich. Glücklicherweise ist ein solches literarisches Stalking nicht realisierbar, nicht, wenn es sich um einen vor fast anderthalb Jahrhunderten verstorbenen Autor handelt und selbst bei uns eng vertrauten Personen nicht. Wir können nicht wissen, was ein anderer Mensch je gelesen hat, erinnern wir doch nicht einmal alle Titel, mit denen wir in unserem Leben in Berührung gekommen sind.

Doch was tut die Übersetzerin, die einundfünfzig kurze Essays übersetzen soll, in denen ein Autor über die Texte schreibt, die nach seinen eigenen Worten „eine elementare Wirkung“ auf ihn hatten, „als Dichter, als Prosaautor, als Kind“?1 Da die zu übersetzenden Texte Kommentare anderer Texte sind, denkt sie sich, dass es doch interessant wäre, all diese Texte tatsächlich zu lesen, den Rechercheaufwand, der mit einer Übersetzung einhergehen kann, mal in seiner Extremform zu zeigen: Sehr viel lesen, um knapp neunzig Seiten zu übersetzen. Den Gedanken, dass das „sehr viel“, strenggenommen mehrere Tausend Seiten bedeutet, verscheucht sie oder, was wahrscheinlicher ist, weiß sie von Anfang an, dass ohnehin nur ein flanierendes Lesen in Frage kommt, nicht nur aus Zeitgründen, sondern vor allem, weil ein gewisser Abstand zum Originaltext für das Gelingen einer Übersetzung mindestens genauso wichtig ist wie dessen gedankliche Durchdringung.

Sie beschließt also zu lesen, übersetzen, lesen, lesen, lesen, übersetzen und darüber dann auch noch ein Journal zu schreiben. So ist dieser Text entstanden.

 

ISTVÁN KEMÉNY: 50 +1 LITERARISCHE PFEILER

+ 1: William H. Gass: A Temple of Texts - Fifty Literary Pillars
Homer: Odyssee
Platon: Apologie des Sokrates
Das Lukasevangelium
William Shakespeare: Heinrich V.
Miguel de Cervantes: Don Quijote

Louis de Rouvroy, Herzog von Saint-Simon: Die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon
Daniel Defoe: Kapitän Singleton
James Fenimore Cooper: Lederstrumpf
Antoine Watteau: Einschiffung nach Kythera
Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther
Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit
Mihály Csokonai Vitéz: Gesammelte Gedichte
Emily Brontë: Sturmhöhe
Sándor Petőfi: Held János
Karl Marx und Friedrich Engels: Das kommunistische Manifest
Mark Twain: Huckleberry Finn
János Arany: Balladen
Imre Madách: Die Tragödie des Menschen
Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Lew Nikolajewitsch Tolstoi: Krieg und Frieden
Alles von Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Géza Gárdonyi: Sterne von Eger
Thomas Mann: Der Zauberberg
Dezső Kosztolányi: Die Abenteuer des Kornél Esti
Ladislav Klíma: Eine Autobiographie
T.S. Eliot: Das wüste Land
Antal Szerb: Hundert Gedichte
Milán Füst: Gedichte
Attila József: Sämtliche Gedichte
Frigyes Karinthy: Így írtok ti (So schreibt ihr)
Drei letzte Gedichte
Menyhért Lakatos: Bitterer Rauch
Piotr Szewc: Das Buch eines Tages, Zamość, Juli 1934
Jenő Szűcs: Die drei historischen Regionen Europas
Stanisław Lem: Kyberiade
Wenedikt Wassiljewitsch Jerofejew: Moskau – Petuški. Ein Poem
Die redselige Schildkröte (australische Märchen)
Endre Ady: Der verirrte Reiter
Endre Ady: „Alles Ganze ist zerbrochen”
Thor Heyerdahl: Kon-Tiki. Ein Floß treibt über den Pazifik
Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Leopard
Géza Ottlik: Buda
J.R.R. Tolkien: Der Hobbit
C. G. Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken
Bohumil Hrabal: Der sanfte Barbar
Gabriel García Márquez: Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Jorge Luis Borges: Der Süden
Roland Málik: Báb (Puppe)
Roberto Bolaño: Die wilden Detektive
Péter Esterházy: Ein Produktionsroman

Für dieses Vorhaben darf mich gerne jeder für verrückt erklären, allerdings erst nach der Lektüre von István Keménys Essays. Vorausgesetzt, er hat dann noch die Zeit, der niederen Beschäftigung des Tratschens nachzugehen und sitzt nicht schon längst mit Bohumil Hrabals Der sanfte Barbar, Roberto Bolaños Die wilden Detektive oder Dezső Kosztolányis Die Abenteuer des Kornél Esti im Sessel, im Zug oder unter einem Birnbaum. Nicht vielen Autor·innen ist es gegeben, so über die Arbeit der Kollegen und Kolleginnen, zu schreiben, dass in ihrem Text der Geist des Schreibenden und der des Beschriebenen gleichermaßen präsent sind. Antal Szerb konnte es, dessen auf Ungarisch 1941 erschienene Geschichte der Weltliteratur2 Generationen von Ungarn die Klassiker neu entdecken ließ und die, obwohl sie, wie alle anderen „Geschichten der Weltliteratur“ aus jener Zeit, einen großen Teil der Welt nicht berücksichtigt, durch ihren essayistischen Ton und sehr eigenen Beobachtungen bis heute ausgesprochen lesenswert ist. Antal Szerb taucht auch unter István Keménys literarischen Pfeilern auf, jedoch nicht mit diesem Werk, sondern mit dem Band Hundert Gedichte, einer von ihm zusammengestellten Lyrikanthologie. Auch Péter Esterházy, dessen Andenken Kemény diesen Text gewidmet hat, konnte es, wovon am besten seine Essays zeugen, in denen er oft auch über Literatur geschrieben hat, und die nun dank Heike Flemming, in ihrer Auswahl und Übersetzung, auf Deutsch vorliegen.

Die Pfeiler

Und auch István Kemény versteht sich darauf. In seinem 2017 erschienenen Essayband Lúdbőr schreibt er, nach dem Muster von William H. Gass’ The Temple of Text – Fifty Literary Pillars3 (1990), über die fünfzig Texte, die ihn in seinem Leben am meisten geprägt haben. Im Unterschied zu Gass’ Texten, die interessant sind, denen man jedoch anmerkt, dass sie auch einem Zweck dienen sollten4, spürt man bei István Keménys Texten, dass sie wohl vor allem aus der Lust entstanden sind, in die Vergangenheit zu springen, sich dort umzusehen und unterwegs die Beschaffenheit der die Zeiten verbindenden Fäden zu untersuchen. Der Schilderung der persönlichen, mit den einzelnen, von ihm ebenfalls literarische Pfeiler genannten Texten verbundenen, Erlebnisse entwachsen Beobachtungen über den Zustand des Landes in den verschiedenen Epochen, wobei sich der Autor nicht auf seine eigene Lebenszeit beschränkt, sondern sich zuweilen Jahrzehnte bis Jahrhunderte vor seine Geburt zurückbegibt. In dieser Lesebiographie versteckt sich also eine Autobiographie, darin wiederum eine Biographie Ungarns, und in Bewegung gehalten wird das Ganze von der Zeitmaschine, die István Kemény seit jeher in all seinen Werken baut.

Der 1961 geborene Lyriker und Prosaautor wurde im deutschsprachigen Raum vor allem durch die Übersetzungen seiner Gedichte durch Orsolya Kalász und Monika Rinck bekannt. Diese sind seit 2007 in drei Bänden5 erschienen und einige auch auf lyrikline nachzulesen. 2013 erschien in meiner Übersetzung Liebe Unbekannte, ein Roman, über den sich vieles sagen ließe, wenn das der Ort dafür wäre, hier sei nur erwähnt, dass es Kemény gelungen ist, darin die Atmosphäre in den beiden Jahrzehnten vor dem Zusammenbruch des Kommunismus in Ungarn in ihrer ganzen Vielschichtigkeit einzufangen. Man spürt die Trägheit dieser Epoche, auch die Sauerstoffarmut, die Grenzen des Lebens, aber vor allem das Leben selbst, in einer Intensität wie in kaum einem anderen Roman über diese Zeit.

István Kemény ©Bálint Hirling

Doch nun zurück zu den literarischen Pfeilern. Ito Naga erwähnt in seinem Band Les Petits Vertiges den Begriff Yoin: „Resonanz der Dinge – „Yoin“ nennt man auf Japanisch die Resonanz der Dinge. Zum Beispiel, wenn man zum Abschluss eines Briefes eine leere Seite hinzufügt, damit dieser nicht abrupt endet und der Adressat den Empfindungen des Verfassers nachspüren kann.“6 Zwischen István Keménys einzelnen Kurzessays gibt es unzählige unter- und oberirdische Gänge, Brücken, Pontons, weshalb die einundfünfzig auch als ein Text gelesen werden können. Gleichzeitig ist es aber auch, als stünde nach jedem eine leere Seite, als seien sie durch Durchgangszimmer, Resonanzzimmer verbunden. Ein solcher Text ist nirgends besser aufgehoben als im Schreibheft, der Zeitschrift, die in den vergangenen vierzig Jahren einen in der deutschsprachigen Literaturlandschaft unvergleichbaren Hallraum für besondere Texte geschaffen hat und die zugleich ein hall ist, ein Saal, in dem sich eben diese Texte begegnen und miteinander ins Gespräch kommen können. Durch eine glückliche Fügung und das Kompositionsgeschick des Verlegers Norbert Wehr erscheint der Text im Heft Nr. 101, also nach der Jubiläumsausgabe, in der Frank Witzel in seinem Dossier Von aufgegebenen Autoren – 100 Vergessene, Verkannte, Verschollene an eben diese erinnert und die vielfältigen Bedingungen der Entwicklung einer literarischen Laufbahn beleuchtet. In István Keménys Text, in dem zahlreiche Klassiker des Literaturkanons vorkommen, auf die der Autor jedoch einen höchst unklassischen Blick wirft, trifft Witzels Essay auf einen hervorragenden Gesprächspartner.

So viel zum Hintergrund des Textes, dessen Übersetzung Gegenstand dieses Journals ist, wobei ich mit Übersetzung nicht unbedingt die konkrete Textarbeit meine. Im Zentrum dessen, was wir Übersetzen nennen, steht zwar die Übertragung eines Textes aus einer Sprache in eine andere, doch gibt es zahlreiche begleitende, auf den ersten Blick vom zu übersetzenden Text manchmal recht weit wegführende Tätigkeiten, Momente und Überlegungen, die ebenfalls Teil des gesamten Prozesses sind und dazu beitragen, dass als dessen Ergebnis ein lebendiger deutscher Text entsteht. Ausgehend von der Überzeugung, dass Übersetzen kein Vorgang mit klaren Abgrenzungen ist, kein Tunnel, in dem man sich von einem Ausgangstext zu einem Zieltext bewegt, sondern, wie jede andere künstlerische Tätigkeit auch, ein fortwährendes Hineinlauschen in die Welt, ein ständiger Aufenthalt im Resonanzraum des Textes, möchte ich mich im Folgenden den Rändern des übersetzerischen Tuns widmen. In diesem Zusammenhang soll es auch um allgemeinere Aspekte des Übersetzens aus dem Ungarischen ins Deutsche gehen, die mich während der Arbeit an diesem Text beschäftigt haben. Neben István Keménys Pfeilern habe ich während der Zeit dieses Übersetzungsprozesses natürlich auch anderes gelesen, zum Beispiel einige Einträge des Vocabulaire Européen des Philosophies, auch bekannt unter dem Titel Le dictionnaire des intraduisibles.7 Die Philosophie ist zugegebenermaßen nicht das geisteswissenschaftliche Gebiet, auf dem sich die Ungarn im Laufe der Jahrhunderte hervorgetan haben, es ist also nicht verwunderlich, dass man in diesem Wörterbuch vergeblich nach einem ungarischen Eintrag sucht8, doch gibt es auch in dieser Sprache viele Begriffe und Phänomene, die nicht nur intraduisibles sind, sondern auch von philosophischer Relevanz. Einige davon kommen auch in István Keménys Essays vor und sollen hier in den Kapiteln mit der Überschrift Lefordíthatatlanok9 – Ungarisch für „die Unübersetzbaren“ – betrachtet werden.

Unruh

Da ich bei dieser Arbeit die meiste Zeit mit Lesen verbracht habe, soll auch auf diese sonst eher im Dunkeln oder zumindest Dämmer bleibende Phase des Übersetzungsprozesses ein wenig Licht fallen. Was lesen wir außer dem zu übersetzenden Text, wieviel und wie?

Der erste von Keménys literarischen Pfeilern ist die Odyssee, einer der Texte, die unsere gesamte Kultur so durchdrungen haben, dass sie einem vertraut sind, ohne dass man sie je vollständig gelesen haben muss. Ich kannte ihn auch nur in Auszügen, obwohl Gábor Devecseris Übersetzung – die letzte metrische Übersetzung ins Ungarische, erschienen 1947 – seit langem in meinem Bücherregal stand. Auch Kurt Steinmanns Übersetzung (2007, ebenfalls in Hexametern) interessierte mich, also las ich beide parallel oder eher zwischen den Texten hin und herspringend.

Homérosz: Odüsszeia. Európa Könyvkiadó, Budapest 1967. Aus dem Griechischen ins Ungarische übersetzt von Gábor Devecseri.
Homer: Odyssee. Manesse Verlag, München 2007. Aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt von Kurt Steinmann

Daraus erwuchs mehr Frust als Freude, denn auf diese Art blieb es eine philologische Lektüre: Ich fand in beiden Übersetzungen schöne Lösungen, nahm diese aber eben nur als solche, isoliert wahr, schaffte es nicht, mich in den Text hineinzubegeben, waren es doch vollkommen unterschiedliche Klangwelten. Spätestens beim zweiten oder dritten Gesang war mir klar, dass ich mich für eine der beiden Übersetzungen entscheiden musste. Es wurde die Kurt Steinmanns, und so kam ich bereits bei dem allerersten der fünfzig Texte von dem von mir selbst festgelegten Weg ab und las nicht das gleiche Buch wie István Kemény. Ich könnte diese Entscheidung nicht genau begründen, denn ich fand beide Übersetzungen überzeugend. Vielleicht scheute ich die Kraft der Hexameter, spürte, dass sie zu dem meine eigene Arbeit bestimmenden Rhythmus werden könnten und ungarische Hexameter im Ohr bei einer Übersetzung ins Deutsche eher hinderlich wären.

Ich saß also im Zug, las den ersten Gesang in der letzten deutschen Übersetzung, bereit, in den Text einzutauchen. Es gelang mir nicht, ich blieb immer noch an der Oberfläche. Zerstreut blätterte ich in dem Buch, bis im Anhang mein Blick auf ein Wort fiel: Wiederholung. Kurt Steinmann schreibt in seiner Anmerkung zu der Übersetzung, dass ca. ein Drittel der Odyssee aus Wiederholungen besteht. Als ich das las, wusste ich, dass die Wiederholung, die als Gestaltungsmittel auch in István Keménys Schreiben, vor allem in seiner Lyrik nicht selten vorkommt, sich als geeignete Form für die Lektüre der Odyssee erweisen würde. Und ein weiteres Wort – Ilias – führte mich über die Alliteration zu Illich, Ivan und dessen Buch Im Weinberg des Textes, einem Kommentar zu Hugo von St. Victors Didascalicon, dem „ersten Buch, das über die Kunst des Lesens geschrieben wurde“10, in dem Illich unter anderem über die Unterschiede zwischen dem, was wir heute unter Lesen verstehen und dem was die Mönche im frühen Mittelalter getan haben, als sie lasen, schreibt:

„Der moderne Leser nimmt die Seite als Platte wahr, die seinen Verstand mit Zeichen versieht, und er erlebt seinen Verstand als Bildschirm, auf den die Seite projiziert wird und von dem sie mit einem Knopfdruck wieder ausgeblendet werden kann. Für den monastischen Leser, an den sich Hugo wendet, ist das Lesen keine derartige phantasmagorische, sondern eine eher leibliche Tätigkeit. Er nimmt die Zeilen auf, indem er sich nach ihrem Takt bewegt, und er erinnert sich an sie, indem er ihren Rhythmus erneut heraufbeschwört. So ist es nicht verwunderlich, daß uns die voruniversitären Klöster als Aufenthaltsorte für Murmler beschrieben werden.“11

Im Gegensatz zu den Mönchen von damals wollte ich nicht die Verlautbarung Gottes lesen, aber immerhin einen Text, der in der Übergangszeit zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit entstanden ist, also offensichtlich danach verlangte, halblaut gelesen zu werden. So kam es, dass ich an vierundzwanzig Tagen in der Folge jeden Morgen jeweils einen Gesang leise murmelnd las, was genau die richtige Einstimmung auf diese Übersetzung war. Keménys Essays sind zwar nicht in Hexametern verfasst, aber die Odyssee ist ein Bezugspunkt, die auch in einigen der weiteren Essays auftaucht, ja, wie eine Unterströmung unter dem gesamten Text fließt.

Es gibt aber noch einen anderen Grund, weshalb es sinnvoll war, die Odyssee zu lesen, auf diese Art zu lesen. Den Prozess des Übersetzens empfinde ich stets als ein Leben in zwar vorübergehender, aber doch beachtlicher Unordnung. Das kann mit den zu klärenden, recherchierenden, überarbeitenden Stellen zusammenhängen, die farbig markiert sind und dadurch das Schriftbild aufwühlen, aber vor allem damit, dass man all diese Stellen während der Arbeit an einem Text so lange mit sich trägt, bis man die Lösung gefunden hat. Bei der Übersetzung eines umfangreichen Textes sind Schreibtisch und Kopf voller Zettel verschiedener Größe mit Notizen zu unterschiedlichsten Themen. Wenn man den Umfang eines Textes an der Zeichenzahl misst, ist István Keménys 50 + 1 literarische Pfeiler kein umfangreicher Text, doch umfasst er so viele Zeiten, Zustände, Zusammenhänge, dass es auch hier zur Anhäufung der Zettel und der bekannten Unordnung kam. Das Ausmaß der äußeren und inneren Unordnung ist bei jeder Übersetzung unterschiedlich, und das Gleiche gilt für die Methoden, dieser beizukommen, aber meist haben sie, und das ist wenig überraschend, etwas mit Rhythmus zu tun. Die Unruh, das Herz der Uhr, ist das mechanische System, das für Präzision und den richtigen Takt sorgt. Im Herz der Übersetzung sitzen ebenfalls Präzision und der richtige Takt, weshalb es grundsätzlich und insbesondere bei zu großer Unordnung zunächst gilt, die dem Text und der gegebenen Situation entsprechende Unruh zu finden. In diesem Fall war es der gleichartige, aber nie gleichförmige Rhythmus der Hexameter. Drohte der von István Keménys Pfeilern abgesteckte Raum zu unüberschaubar zu werden, musste ich mich nur auf diesen besinnen und schon ordneten sich die Zettel von selbst.

Lefordíthatatlanok: Itt und ott oder die Zweiteilung der Welt

Im Ungarischen bekommen wir häufig einen Hinweis darauf, ob ein bestimmtes Ereignis hier itt (hier) oder ott (dort) stattfindet. Diese Adverbien kennt auch das Deutsche, doch setzt es sie sparsamer, meist in Situationen ein, in denen es tatsächlich um physisch nachvollziehbare räumliche Beziehungen geht. Das itt und ott des Ungarischen eignet sich zusätzlich dafür, Bezüge seelischer Räume zu markieren. In seinem Vergleich der Illias und der Odyssee schreibt István Kemény: „Mert ott az igazi hős, nem itt.“ Wörtlich würde das bedeuten: „Denn dort ist der wahre Held, nicht hier.“ Auf Deutsch ist diese Aufteilung nicht nachvollziehbar, durch den Kontext könnte man „hier“ und „dort“ zwar wahrscheinlich zuordnen, würde sich trotzdem nach der Funktion dieser Wörter fragen. Die Erklärung findet sich im Satz davor: „Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr macht es mir ein schlechtes Gewissen, dass ich eigentlich die Ilias mögen müsste und nicht die Odyssee.“ „Dort“ steht zweifellos für die Ilias und „hier“ für die Odyssee. Doch woher weiß ich das? Nicht durch die Reihenfolge, in der die beiden Werke erwähnt wären, diese könnte auch umgekehrt sein. Entscheidend ist, dass uns der Autor verrät: Die Ilias und die Odyssee befinden sich in unterschiedlicher emotionaler Entfernung von ihm. Das Deutsche kennt diese Form unterschwelliger Bekräftigung nicht, weshalb in der Übersetzung nur folgender schlichter Satz steht: „Der wahre Held kommt schließlich in dem ersten Epos vor.“
Diese sprachliche Zweiteilung der Welt, die sich auch in anderen Phänomenen spiegelt12, ist offenbar tief in der ungarischen Kultur verwurzelt und hatte einst wohl eine überlebensnotwendige strukturierende Funktion: Dass die Menschen sich in kleinen, mehr oder weniger autonomen Gemeinschaften, wie zum Beispiel einem Stamm, auf das „hier“ konzentrieren, ist durchaus sinnvoll. Nur scheint eben diese Funktion heute, genauer gesagt seit den Jahren nach dem „Systemwechsel“13 von 1990, außer Kontrolle geraten zu sein, so dass es heute kaum noch jemanden gibt, der sich nicht selbst links oder rechts, also hier oder dort zuordnen würde. Von dieser Erscheinung bleibt auch der Literaturbetrieb nicht verschont, doch gehört István Kemény zu den Autoren, die offenbar eine Schutzausrüstung gegen den Sog der Polarisierung und der dazugehörigen Rhetorik besitzen. Er weiß um die stabilisierende Wirkung der Dichotomie auf die menschliche Seele, spielt in seinen Texten selbst gerne mit Aufteilungen, doch erscheinen diese bei ihm nie als hermetisch in sich geschlossene Fakten, sondern lediglich als Trampolin für weiterführende Gedanken.

Auch wenn diese emotionale Bedeutungsebene von itt und ott tatsächlich intraduisible ist, ist das Phänomen der Aufteilung der Welt zur besseren Verständlichkeit in den letzten Jahren allenthalben zu beobachten, nicht nur in Ungarn. Nur hat man es in den Gesellschaften, in denen der Prozess der Individualisierung eher begonnen hat, nicht mit einer Zweiteilung, sondern eher mit einer Fragmentierung der Welt zu tun. Neben hier und dort entstehen die kleinen Inseln des rieh und trod, dier und hort, in exakt dem Abstand voneinander, der es den Bewohner·innen nicht mehr ganz so leicht macht, von der einen zur anderen zu schwimmen. Unmöglich wäre es nicht, würde aber doch etwas Kraft erfordern, also beobachtet man das Treiben der anderen Insulaner lieber aus der Ferne und schüttelt den Kopf ob so viel Torheit.

An einem Ort in der Mancha

Die Geschichte, wie ich darauf kam, die Bücher zu lesen, auf die sich István Kemény in seinen Essays bezieht, kann so erzählt werden wie oben, aber auch anders. Manchmal denke ich, die Idee sei nichts als ein Vorwand gewesen, um einen lang gehegten Plan zu verwirklichen, wofür ich nie die Zeit fand: mir Susanne Langes Don Quijote-Übersetzung anzusehen. Im Gegensatz zur Odyssee konnte ich diesen Text immer und überall lesen, wahrscheinlich, weil sich Don Quijotes Welt mit ihren sehr durchlässigen Grenzen zwischen Fiktion und Realität mühelos mit unserer verbindet. Diese Mühelosigkeit beruht aber nicht nur auf der Tatsache, dass Cervantes einen zeitlosen Text erschaffen hat, sondern auch auf der Bravour der Übersetzerin:

„… denn alles, was er sah, fügte er im Flug nach seinen ungereimten Rittereien und seinen verfahrenen Gedanken.“14

Susanne Lange untermauert den Inhalt durch die Phonetik, auf all den „ei“ rutscht man beinahe aus, schliddert aus der Fiktion in die Realität und zurück. 

„Die Leute sagen, er soll sich besonders in der Wissenschaft der Sterne ausgekannt haben und darin, was Sonne und Mond oben am Himmel machen, und immer hat er uns pünktlich jeden Klicks vorausgesagt.
Eklipse nennt man das, mein Freund.“15

Auch hier: Das Wörtlein „Klicks“ hat mit seinem hellen Klang, der im Gegensatz zu der Bedeutung der eigentlich gemeinten Eklipse steht, eine unmittelbar physische Wirkung.

Bevor sich dieses Journal unversehens in eine Elogencollage verwandelt, falle ich mir selbst ins Wort und frage, ob es auch nur einen Begriff in István Keménys Essay gab, für dessen Übersetzung die Lektüre des Don Quijote unerlässlich gewesen wäre. Das, muss ich gestehen, gab es nicht. Und doch war es für die Übersetzung sinnvoll, gerade weil Don Quijote eine der bekanntesten Figuren der Literaturgeschichte ist und als solche stets der Gefahr ausgesetzt, ein Schatten seiner selbst zu werden. Er teilt das Schicksal mit den Elementen der Sprache, die durch zu viel Gebrauch abgenutzt wurden, wie zum Beispiel die Wendung geflügelte Worte. Bei Kurt Steinmann werden diese zu gefiederten Worten, was er in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung so begründet:

„Die Metapher stammt wohl nicht von den Flügeln eines schnell fliegenden Vogels her, sondern von den Pfeilen, deren an ihrem Ende angebrachten Federchen den geraden Flug des Geschosses unterstützen. Darum sind die ‚geflügelten Worte‘, wie sie uns aus Voß’ Übertragung so vertraut sind, durch die ‚gefiederten Worte‘ ersetzt.“16

Als dem Altgriechischen unkundige Leserin glaube ich Kurt Steinmann gerne, denn diese Wendung taucht in der Odyssee meist in Situationen auf, die mit einer gewissen Dringlichkeit aufgeladen sind. Zum ersten Mal verlassen die geflügelten oder gefiederten Worte Telemachos Lippen:

„Solches sann er im Kreise der Freier; da sah er Athene
Und ging stracks zum Eingangstor, denn Scham überkam ihn,
daß sein Gast so lange stand an der Tür; er trat näher,
griff seine Rechte und nahm ihm ab die eherne Lanze
und begann und sprach zu ihm die gefiederten Worte:
‚Sei gegrüßt, o Gast, bei uns wirst du herzlich bewirtet,
doch dann, hast du am Mahl dich gelabt, erklär dein Begehren!’“17

Ein weiterer Grund, warum ich ihm gerne glaube, ist, dass er durch die leichte Abwandlung eine erstarrte Wendung wiederbelebt hat. Solche Manöver sollte man als Neuübersetzer·in nur nach gründlichem Abwägen durchführen und vor allem nie aus dem Wunsch heraus, von den bisherigen Übersetzungen abzuweichen. Doch wenn sich die Entscheidung aus dem Text ergibt, kann sie zu einem Jungbrunnen der Wörter werden. „Sprach zu ihm die gefiederten Worte“ zu lesen, ist, wie wenn man jemanden, den man seit Jahren kennt, aber nur in einer erlernten Sprache hat sprechen hören, eines Tages in seiner Muttersprache hört. Oder in der Umgebung seiner Kindheit erlebt. Die Odyssee ist die Kindheitsumgebung dieser Wendung. Und der Roman Don Quijote die des Ritters von der traurigen Gestalt, den wohl nicht nur István Kemény zuerst als Figur eines Fernsehfilms kennengelernt hat.

Lefordíthatatlanok: ő und was damit einhergeht

Ő. Dieser eine Buchstabe steht im Ungarischen für „sie“ und „er“. Das ist besonders beachtlich bei einer Sprache, in der man den höchsten Grad an Verwirrtheit mit der Wendung „Er / sie weiß nicht einmal, ob er / sie ein Junge oder ein Mädchen ist“ ausdrückt. Dabei kommt es zum Beispiel in der Literatur immer wieder vor, dass man nicht weiß, ob es um einen Jungen oder ein Mädchen geht, da die Autorin und auch der Autor uns diese Information so lange vorenthalten können, wie sie wollen: In der Lyrik tun sie das gerne bis über den letzten Vers und selbst in der Prosa hin und wieder bis über die letzte Zeile hinaus. Obwohl sich aus diesem gefiederten ö für die Übersetzerin manche Schwierigkeit ergibt, gehört es für mich zu den schönsten Phänomenen der ungarischen Sprache. Die Nichtbeschäftigung mit dem Geschlecht hat etwas Erholsames und mitunter auch Konzentrationsförderndes an sich – was keine indirekte bissige Anmerkung zum Thema gendergerechte Sprache sein soll. Bei Sprachen, in denen es die Unterscheidung von Geschlechtern gibt, kommt man nicht umhin, darüber nachzudenken, wie man mit dieser umgeht. Auch Experimente wie die Einführung des geschlechtsneutralen Pronomens hen im Schwedischen, das sich ziemlich organisch aus den beiden Pronomen für sie (hon) und er (han) bilden ließ, sind ausgesprochen interessant. Doch während bei der Verwendung von hen – zumindest heute noch – der Aspekt der Geschlechtsneutralität im Fokus steht, kommt bei ő die Frage des Geschlechts gar nicht erst auf. Entweder man erhält diese Information aus dem Kontext oder nicht. Die Möglichkeit, mich oft in einer Sprache zu bewegen, in der über eine Person gesprochen werden kann, ohne sofort auf ihr Geschlecht aufmerksam zu machen, empfinde ich als Geschenk.

In seiner Lyrik nutzt auch István Kemény den gesamten Spielraum, den das ő und die daraus resultierenden grammatikalischen Gegebenheiten bieten, und der Titel seines Romans Liebe Unbekannte war auf Ungarisch ebenfalls weitaus mehrdeutiger, als er es im Deutschen werden konnte: Kedves ismeretlen kann sich auf sie, auf ihn oder auf es beziehen, zum Beispiel auf das liebe unbekannte Leben, da es sich um einen Entwicklungsroman handelt, kann sich der männliche Protagonist damit selbst ansprechen oder aber es kann der Anfang eines Briefes sein – die Bedeutung, auf die wir es im Deutschen leider reduzieren mussten. Bei den Essays, um die es hier geht, gibt es diese Mehrdeutigkeiten nicht, man weiß aus dem Kontext, um wen es geht, da man sich aber auf die Personen stets mit dem genderneutralen Pronomen bezieht, tritt die Information zum Geschlecht in den Hintergrund und der Mensch selbst in den Vordergrund. Im Zentrum der Betrachtung steht der Autor, die Autorin, über die Kemény spricht, die Protagonistin oder der Protagonist der Werke und deren Verhältnis zur Welt.

Diesem Prinzip entsprechend sind auch die meisten Berufsbezeichnungen im Ungarischen geschlechtsneutral, Ärztin und Arzt nennen sich orvos und Menschen, die sich dem Übersetzen verschrieben haben, unabhängig von ihrem Geschlecht: fordító. Da bei den wenigen Berufen, von denen es doch eine weibliche Form gibt, das Wort (Frau) an die Bezeichnung angehängt wird, könnte man es leicht mit dem auch im Deutschen bekannten generischen Maskulinum verwechseln, da das Ungarische aber, wie gesagt, kein Genus kennt, empfindet man die Berufsbezeichnung tatsächlich als geschlechtsneutral. Auf diesem Boden wurde auch die zentrale Gestalt des Gedichtszyklus aus István Keménys 2021 erschienenen Bandes Állástalan táncos18 geboren: Lovag Dulcinea, Ritter Dulcinea. Ausgehend vom ő ist eben vieles denkbar.

Ady! Na, Ton?

Es ist mir unmöglich, das Wort Adynaton nicht als Provokation zu verstehen, so vergeblich waren bisher all meine Versuche, die Lyrik von Endre Ady19 zu übersetzen. Vor ungefähr zwanzig Jahren kam es zu dem ersten, einige, zugegeben, nicht sehr zahlreiche, folgten, immer mit dem gleichen Ergebnis: Der Einsicht, dass ich nicht nur nicht in der Lage bin, den Ton dieses Dichters auf Deutsch zu treffen, sondern dass ich ihn nicht einmal höre. Über jeden seiner Verse legt sich für mich das Rauschen des großen Gefühls, so groß, so laut, dass ich nichts anderes mehr wahrnehme. Irgendwann musste ich mir also eingestehen: Eher gehe ich durch ein Nadelöhr, als dass ich ein Gedicht von Endre Ady übersetze.

Das wäre an sich nicht schlimm, wenn es sich bei diesem Lyriker nicht um denjenigen handeln würde, der für István Kemény eine ganz besondere Bedeutung hat und daher bei den literarischen Pfeilern gleich dreimal vorkommt: In zwei Essays, in denen es nur knappe Zitate gibt, die es überraschenderweise schafften, bis zu meinem Ohr vorzudringen, und die ich relativ problemlos übersetzen konnte. Doch dann war da noch der Text mit dem Titel Drei letzte Gedichte, in dem nach einer kurzen Einleitung das jeweils letzte Gedicht von Sándor Petőfi, Endre Ady und Miklós Radnóti abgedruckt ist. Alles gewichtige Lyrik, doch ging mir die Übersetzung der Gedichte von Petőfi und Radnóti relativ leicht von der Hand, nur bei Ady kam ich wieder einmal nicht vom Fleck. Ich verfiel in eine Starre, die wohl auch der Grund dafür war, dass ich nicht gleich auf die Idee kam, Wilhelm Droste zu schreiben. Dabei ist er der Ady-Übersetzer ins Deutsche, wobei ich die Betonung nicht nur im herkömmlichen Sinne meine – auch wenn das ebenfalls zutrifft –, sondern es mir eher darum geht, dass mir seine Nachdichtungen überhaupt erst den Zugang zu der Lyrik Endre Adys ermöglicht haben. Obwohl Ungarisch meine Vatersprache ist, musste ich dessen Gedichte erst einmal auf Deutsch in Wilhelm Drostes Interpretation lesen, um die Faszination nachempfinden zu können, die von diesem Dichter bis heute für viele ausgeht.

Also fragte ich Wilhelm, der bereits einen umfangreichen Auswahlband mit Ady-Gedichten herausgegeben hatte, ob er auch dieses übersetzt habe. Hatte er nicht, sah aber in meiner Frage eine gute Gelegenheit, es zu versuchen. Schon am nächsten Tag lag die Übersetzung in meinem Postfach, und wieder einmal war ich erstaunt, wie er mir die Essenz eines Ady-Gedichtes mit derselben Selbstverständlichkeit auf den Tisch stellen konnte, wie seinen Gästen den Espresso in den verschiedenen Literaturcafés, die er im Laufe der Jahrzehnte in Budapest betrieben hat. Vor mir lagen klare, unbemühte Verse, das große Gefühl war da, aber plötzlich klang es echt. In den kommenden Stunden flog das Gedicht noch einige Male zwischen Berlin und Budapest hin und her, bis es schließlich endgültig in Berlin landete, und ich feststellte, dass man viel öfter mit den Kollegen und Kolleginnen Federball spielen sollte. Es ist gut für die Kondition und zudem stimmungserhellend.

Lefordíthatatlanok: kocsmázás, kurvázás Falstaffékkal – Das leichte Leben im Wirtshaus mit Falstaff und den anderen

In Gemeinschaftsarbeit ist auch die letzte deutsche Übersetzung von William Shakespeares Heinrich V. entstanden, einem Drama, das ebenfalls zu István Keménys literarischen Pfeilern gehört. Sein Essay darüber ist ein kleines Fest der intraduisibles, gefeiert in der kocsma (Kneipe oder Wirtshaus). Kemény zitiert König Heinrich und kommentiert die Stelle:

Wie es immer üblich ist, dass Männer am fröhlichsten sind, wenn sie von zu Hause fort sind. Hier spricht der junge Heinrich V. von der Vorliebe der Männer, ins Wirtshaus zu gehen, doch sagt er es, als er plant, Frankreich anzugreifen: … und mein Segel der Größe zeigen, wenn ich mich in meinem Thron von Frankreich erhebe.20

„Von der Vorliebe der Männer, ins Wirtshaus zu gehen“ heißt auf Ungarisch: a kocsmázásról – ein schönes Beispiel für die Elemente, durch die ungarische Texte in deutscher Übersetzung oft um einiges umfangreicher werden, aber auch für die Wandlungsfähigkeit ungarischer Wörter. In dieser Sprache kann man im Grunde aus jedem Nomen ein anderes Nomen oder ein Verb bilden, das heißt, Neologismen entspringen nicht nur der Trickkiste derer, die sich besonders für die Möglichkeiten der Sprache interessieren, sondern gehören zum alltäglichen Sprachgebrauch. Ich kann zum Beispiel sagen: „Anna barackozik“ und jeder wird wissen, was gemeint ist, obwohl barackozik in keinem Wörterbuch steht. Was genau man darunter versteht, hängt von der Situation ab: barack bedeutet Aprikose oder Pfirsich, der obige Satz demnach „Anna aprikost/ pfirsicht.“ Das kann je nach Kontext bedeuten, dass sie dieses Obst pflückt, es zeichnet oder als Marmelade einkocht, auf jeden Fall macht sie etwas damit, zudem wäre es, da man die Verben auch aus Eigennamen bilden kann, möglich, dass Anna sich in irgendeiner Form (in welcher, wird durch unser Vorwissen bestimmt) über Barack Obama äußert.21

Doch was hat das mit König Heinrich V. und dem Wirtshaus, auf das er anspielt, zu tun? Das Wort kocsmázás wurde auf ähnliche Weise gebildet. Es ist eine mehrstufige Ableitung des aus dem Slawischen krčma übernommenen Nomens kocsma22: kocsma > kocsmázik (ins Wirtshaus gehen) > kocsmázás (zur genauen Bedeutung: siehe weiter unten). Allerdings wird es, im Gegensatz zu barackozik, schon seit langem und so oft gebraucht, dass es mit der Zeit Einzug in verschiedene Wörterbücher gehalten hat, zum Beispiel in das Standardwörterbuch Ungarisch-Deutsch von Előd Halász:

Kocsmázás: ↓ kocsmázik; Kneiperei, Zechbummel, Bierreise. Kocsmázik: kneipen, in Wirtshäusern verkehren, Wirtshäuser besuchen, (sich aus)bummeln, schwiemeln; schwuddern; eine Bierreise machen.23

Neben den offensichtlichen gibt es einen weiteren Grund, warum ich mich für keine dieser Übersetzungsmöglichkeiten entschieden habe. Der Kern von kocsmázás besteht zwar tatsächlich im Besuch des Wirtshauses, der Kneipe, doch hat sich dieser Begriff im Laufe der Jahrhunderte mit all den Konnotationen aufgeladen, die die Männer, zu deren Leben kocsmázás gehörte, mit einem Gefühl von Zusammengehörigkeit, ja, zuweilen Stolz erfüllte, aber auch mit denen, die die Perspektive der von kocsmázás indirekt Betroffenen spiegeln: All die Versprechen, heute nicht so lange zu bleiben, die Kehlen hinuntergelaufenen Tage- und Wochenlöhne, die schmollenden, weinenden, greinenden Ehefrauen, aber vor allem die vom Alkohol in ein immer weniger schuldbewusstes Schulterzucken verwandelten Sorgen, die mit fortschreitendem Abend immer lauter werdenden Stimmen, bis zu dem Punkt, an dem sie verstummen, das gemeinsame Schweigen, Wiedererwachen der von Obstgeistern belebten Männergeister, erneutes Kräftemessen, die kocsma als Arena. Es ist kein schönes Wort, klingt wie eine Pfütze verschütteten Bieres, in der sich jedoch die unzähligen immergleichen, immer anderen Abende spiegeln, an denen die Männer, die hier Könige sind, ihr Segel der Größe zeigen.24

Ich möchte nicht behaupten, mit meiner Übersetzung das gesamte Bedeutungsspektrum abzudecken – wie gesagt, als ein Phänomen, das all die Ereignisse und Ereignislosigkeiten, den Kummer und die Wunder in sich trägt, die viele Generationen von Wirtshaus- und Kneipengängern an diesem Ort erlebt haben, ist kocsmázás unübersetzbar – aber durch den von „Vorliebe“ ausgehenden kleinen Hauch von Ironie, in Verbindung mit der darin enthaltenen Prise Liebe, lässt sich vielleicht doch zumindest etwas von der Gesamtbedeutung erahnen.

Die zweite, wenn auch nicht vollkommen unübersetzbare, aber doch dem Ungarischen eigene sprachliche Erscheinung ist das Suffix -ék, was mir an dieser Stelle deshalb erwähnenswert scheint, weil es, ähnlich wie die aus Nomen abgeleiteten anderen Nomen oder Verben, eine Eigenheit des Ungarischen deutlich machen, die darin besteht, nicht alles explizit zu benennen, sondern viel Vorwissen seitens des Zuhörers oder der Leserin vorauszusetzen. Die Endung -ék wird an Eigennamen angehängt, bedeutet soviel wie „XY und Co.“ und ist zwar ebenfalls eher umgangssprachlich, wirkt aber nicht so salopp und wird viel häufiger verwendet. In dem Essay über Heinrich V. schreibt István Kemény: „… nem ment el Falstaffékkal kereskedőket kirabolni a IV. Henrik első részében“, was ich mit „im ersten Teil von Heinrich IV., zog er nicht mit Falstaff und den anderen los, um Händler auszurauben“ übersetzt habe. Indem Kemény Falstaffék schreibt, setzt er voraus, dass die Leserin Heinrich IV., Teil 1 kennt und weiß, dass es sich um Falstaffs Saufkumpanen handelt. In diesem Fall habe ich die Haltung, dieses Wissen vorauszusetzen, übernommen, in einem anderen, erschien es mir angebrachter, konkret zu benennen, wer mit -ék gemeint ist: In dem Text über Daniel Defoes Kapitän Singleton habe ich „Singeltonék“ mit „Singleton und die Piraten“ übersetzt. Grundsätzlich bin ich eher dafür, den Leser·innen viel zuzutrauen, es kann aber Gründe geben, die es erforderlich machen, das -ék zu konkretisieren.25

Der dritte unübersetzbare Begriff in diesem Text ist kurvázás. Wie man vielleicht erkennt, wurde er nach dem gleichen Muster gebildet wie kocsmázás, aus dem Wort kurva, das ebenfalls slawischen Ursprungs und als Schimpfwort auch in deutschen Städten hin und wieder zu hören ist. Es ist eine pejorative Bezeichnung für Prostituierte, entspricht ungefähr dem Wort Hure. In diesem Fall gäbe es im Deutschen mit Herumhuren sogar ein Wort, das auf ähnlichem Weg (Nomen> Verb> Nomen) entstanden ist, doch ich habe mich dagegen entschieden, denn es übertrifft das ungarische Wort in seiner Derbheit um ein Vielfaches. Im Original steht kurvázás an dritter Stelle in einer Aufzählung von vier Begriffen, die ungefähr gleichwertig negativ konnotiert sind oder sich zumindest nur langsam steigern. Bei der Übersetzung war es mir wichtig, das Intensitätsverhältnis innerhalb der Aufzählung aufrechtzuerhalten und den mit den eher düsteren Nomen kontrastierenden beschwingten Satzrhythmus nachzubilden:

„Doch dieser Kerl namens Harry hat als Trinkbruder des alten Gauners, des brillanten Falstaff, im Wirtshaus eine Ausbildung auf Universitätsniveau genossen. Eine allumfassende Schulung in Nihilismus, Trinken, leichtem Leben und Eigennutz.“26

Leichtes Leben klingt verglichen mit kurvázás brav, die Komponente, die bei der wörtlichen Übersetzung zu stark vertreten gewesen wäre, kommt nun etwas zu kurz, das möchte ich nicht bestreiten. Aber ich habe keine Alternative gefunden, die ihren Platz in der Aufzählung mit einer vergleichbaren Selbstverständlichkeit eingenommen hätte. Dieses Wort ist im Ungarischen derb, aber nicht besonders auffällig. Vielleicht war aber genau diese Unauffälligkeit, Selbstverständlichkeit der andere Grund für meine Entscheidung, vielleicht wurde meine Wahl von einer Empfindlichkeit beeinflusst, der ich mir zu dem Zeitpunkt selbst nicht bewusst war. Für jeden Menschen, somit auch jeden übersetzenden Menschen gibt es sprachliche Äußerungen, auf die er sensibler reagiert als andere. Darüber sprechen Übersetzerinnen und Übersetzer nicht gerne27, da von ihnen mit gutem Grund erwartet wird, dass ihr sprachsensibler Umgang mit Texten nicht durch ihre persönlichen Sensibilitäten beeinflusst wird. Doch bedeutet das Schweigen nicht, dass wir uns diesem Einfluss gänzlich entziehen könnten.

Beim Schreiben dieses Journals habe ich István Keménys Essay über Heinrich V. noch einmal im Original durchgelesen und dabei bemerkt, wie unangenehm mir das Wort kurvázás ist, und dass es mich auch ein bisschen wütend macht. Als ich weiter darüber nachdachte, stellte ich fest, dass es sich um ein „Männerwort“ handelt. Im Ungarischen gibt es keine ausgeprägten geschlechterspezifischen Unterschiede im Sprachgebrauch wie zum Beispiel im Japanischen, aber offenbar gibt es doch Wörter, die eher von Männern und gewiss auch solche, die eher von Frauen verwendet werden. Mir käme dieser Ausdruck nie über die Lippen, und ich kann mir auch keine Situation vorstellen, in der es eine andere Frau sagen würde – außer sie wollte sich durch ihre Wortwahl als Mann verkleiden. Dieser Begriff vermittelt eine Sicht auf Prostituierte, die sie zu Gegenständen macht. Fast wünschte ich mir die funkeläugige Göttin Athene herbei, damit sie fragt: „István, welch ein Wort entschlüpfte dem Zaun deiner Zähne?“ Doch das wäre ungerecht, denn so wenig, wie ich mir Frauen vorstellen kann, die es verwenden, so klar sehe ich so ziemlich alle Männer, die ich aus der Ferne, aber auch der Nähe kenne, vor mir, wie genau dieses Wort dem Zaun ihrer Zähne entschlüpft. Nicht oft und nur, wenn es passt – aber für sie gibt es eben die Momente, in denen es passen könnte.

In der Hoffnung, meine Entscheidung doch noch als eine in erster Linie übersetzerische zu rechtfertigen, versuche ich mir vorzustellen, wie deutschsprachige Autoren und Autorinnen, die sich nicht auf Provokation durch vulgäre Sprache spezialisiert haben, Herumhuren sagen. Es stellt sich kein glaubwürdiges Bild ein, das Wort scheint aus der Mode gekommen zu sein. Und da István Kemény in seinem Essay über den Dichter Mihály Csokonai Vitéz, von dem er sagt, er sei seiner Zeit voraus gewesen, gesteht, dass es ihm wichtig sei, nicht seiner Zeit hinterherzuhinken, kann ich davon ausgehen, dass er sich auf Deutsch auch nicht für Herumhuren entschieden hätte. Müsste ich den Text noch einmal übersetzen, würde ich diesen Begriff wieder vermeiden, aber versuchen, einen zu finden, der ein paar Gramm mehr wiegt und auch klanglich etwas rauer ist. Theoretisch könnte ich es auch jetzt noch ändern, die Übersetzung ist ja noch nicht im Druck, aber ich lasse diesen Schönheitsfehler lieber stehen, als Erinnerung daran, bei kommenden Übersetzungen aus unangenehmen sprachlichen Ecken nicht in die Arme der nächstbesten Lösung zu fliehen.

Die Verschwiegenen

Wörterbücher verraten nicht nur durch ihre Einträge viel über ihre Entstehungszeit, sondern auch dadurch, was nicht in ihnen aufgeführt ist. Bei der Übersetzung von István Keménys Essays sind mir zwei Wörter besonders aufgefallen, die in dem bereits erwähnten Standardwörterbuch Ungarisch-Deutsch nicht zu finden sind: öntörvényű und szembesül. Kemény schreibt über Mihály Csokonai Vitéz: „In der Zeit, in der er lebte, gab es keinen Platz für einen Dichter von großem Format, der nur seinen eigenen Regeln folgt.“ Dem Attribut öntörvényű entspricht der Relativsatz am Satzende. So stand es in der ersten Fassung und auch für die finale habe ich keine Alternative gefunden, bei der ich nicht hätte einen starken Bedeutungsverlust in Kauf nehmen müssen. In Online-Wörterbüchern findet man die Entsprechung „eigengesetzlich“, was mehr oder weniger die wörtliche Übersetzung wäre, aber während ich den öntörvényű költő sofort vor mir sehe, will der eigengesetzliche Dichter in meiner Vorstellung keine konsistente Gestalt annehmen, wenn überhaupt, dann die einer manischen, in ihrer eigenen Welt kreisenden Person. Nicht einmal das Wort Gesetz konnte ich übernehmen, obwohl „der seinem eigenen Gesetzt folgt“ ja auch auf Deutsch möglich gewesen wäre. Aber es klingt zu hart, man assoziiert damit andere Gemütszustände. Also warf ich einen Blick ins gedruckte Wörterbuch und, wie gesagt, da stand nichts. Ebenso wie es Ende des 18. Jahrhunderts für Csokonai als Dichter keinen Platz gab, sollte 1957, im Jahr, in dem das Wörterbuch erschien, und auch noch 1983, dem Jahr, in dem die überarbeitete Fassung herausgegeben wurde, wohl möglichst niemand auf die Idee kommen, seinen eigenen Regeln zu folgen.

Etwas anderes, das vom System offenbar ebenfalls nicht erwünscht war, verbirgt sich hinter dem Verb szembesül. Es bedeutet in etwa: sich mit etwas konfrontiert sehen, etwas vor Augen geführt bekommen. Die Auseinandersetzung mit einer Idee oder gar die Konfrontation mit der Vergangenheit war nichts, wozu das Regime der fünfziger Jahre die Menschen ermuntert hätte, auch das der achtziger nicht – eine Haltung, die inzwischen zur Tradition geworden ist.

Registersprünge in die Freiheit?

Brigitte Döbert weist im Zusammenhang mit ihrer Übersetzung von Bora Ćosić’ Roman Die Tutoren darauf hin, dass man sich in den Literaturen des serbokroatischen Sprachraums hemmungslos der Umgangssprache bediene, was „unseren Lesegewohnheiten und den hiesigen Selbstverständlichkeiten literarischer Gestaltung zuwiderläuft“.28 Ähnliches lässt sich auch über viele Autor·innen der ungarischen Literatur feststellen, zu denen auf jeden Fall auch István Kemény gehört. Damit ist nicht gemeint, dass Umgangssprache eingesetzt wird, um einem literarischen Text eine bestimmte Färbung zu geben oder eine Figur zu charakterisieren. Das gibt es zwar auch, besonders in den Texten der jungen Generation taucht Umgangssprache als ein solches Gestaltungselement auf, aber das ist nichts, was „unseren Lesegewohnheiten zuwiderläuft“, wir kennen es auch aus zeitgenössischen deutschsprachigen Texten. Es geht vielmehr darum, dass die Lexik dieses sprachlichen Registers einen Großteil der literarischen Texte in Ungarn seit spätestens den siebziger Jahren ganz selbstverständlich durchwirkt. Brigitte Döbert beschreibt das Phänomen, wie gesagt, für den serbokroatischen Sprachraum, auch bei der tschechischen Literatur lässt sich Ähnliches beobachten und mir fallen auch einige Beispiele aus der DDR-Literatur ein. In der slowenischen, slowakischen und polnischen Literatur kenne ich mich leider nicht gut genug aus, um die Rolle der Umgangssprache beurteilen zu können, aber ich möchte Folgendes ohnehin nicht als These, sondern als Frage in den Raum stellen: Ist es möglich, dass sich in den Literaturen Ostmitteleuropas – einer Region, deren Entwicklung seit dem Mittelalter und historisch bedingte Charakteristika der Historiker Jenő Szűcs in seinem ebenfalls zu István Keménys literarischen Pfeilern zählenden Aufsatz Die drei historischen Regionen Europas eindrücklich beschreibt – in den Jahrzehnten des sowjetischen Einflusses eine Neigung herausgebildet hat, der Standardsprache, die von den jeweiligen Regierungen zu Propagandazwecken vereinnahmt worden war und dadurch gewissermaßen ins Koma versetzt, durch das Verwenden von der als lebendig empfundenen Umgangssprache zu entfliehen? Dass man die Umgangssprache unbewusst oder auch bewusst als Gegengift zur schleichenden Zersetzung der Standardsprache durch die herrschende Ideologie einsetzte?

Für István Kemény ist die Frage der Lebendigkeit der Sprache von zentraler Bedeutung, einer seiner Gedichtbände trägt sogar den Titel élőbeszéd (lebendige/ lebende Sprache) und auch der Ton der Essays ist davon geprägt. Von den zahlreichen Beispielen möchte ich nur eines aus dem Text über Stanisław Lems Kyberiade nennen:

„Es war ein dickes Lehrbuch, voll von Selbstrechtfertigungen, Lügen, Verdrehungen und natürlich Wahrheiten und Halbwahrheiten, hinter denen (wie eine Art Altes Testament) die marx’sche Theorie schwebte, wie aus der Flut entsprechender Andeutungen unschwer zu erkennen war.“

Was ich mit Verdrehung übersetzt habe, ist im Original ein viel umgangssprachlicheres Wort und mit einer anderen Bewegung assoziiert: csúsztatás bedeutet in etwa „Verschiebung der Tatsachen“, zugleich steckt darin auch das Verb csúsztat, „hinrutschen lassen“, was mir als ein charakteristisches Verb für das Leben in autoritären Regimes erscheint, die in allem, Denken, Reden und auch Bewegen das Geheime fördern.

Ich frage mich, in welche Richtung sich die ungarische Literatur in den kommenden Jahren entwickeln wird. Welche Möglichkeit des Widerstandes, der Abgrenzung gibt es, wenn die Vertreter des Regimes – wohlgemerkt auch der Opposition – sich stark umgangssprachlich bis vulgär ausdrücken? Wohin kann die Sprache fliehen? Zurück in die nicht so leicht erlernbare gebundene Form? Zurück zu den Hexametern?  

Histos

Schließlich war es ein ganzes Jahr, das ich mit dieser Übersetzung verbracht habe. Ein merk- und denkwürdiges Jahr, in dem ich zu einer anderen Leserin geworden bin. Zu einer, die ich schon einmal war, aber das ist lange her, fünfundzwanzig, dreißig Jahre. Ich hatte diese Zeit ganz vergessen, aber in den vergangenen Monaten musste ich immer wieder daran denken, wie ich zwischen meinem fünfzehnten und neunzehnten Lebensjahr jede Woche viele Stunden in der Bibliothek verbrachte. Zuerst, weil ich als Neuankömmling im Land keine Freunde, aber Bücher schon immer als gute Gesellschaft empfunden hatte, und später, weil ich nicht in der Stadt lebte, in der ich zur Schule ging, inzwischen aber Freunde hatte, die manchmal jedoch nicht gleich nach Schulschluss Zeit hatten und die Bibliothek der beste Aufenthaltsort war, um die Stunden bis zur Verabredung am späteren Nachmittag zu überbrücken. Es gab Bücher, die ich mir auslieh und in meinem Rucksack aus grünem Segeltuch mit nach Hause nahm, aber oft las ich nur vor Ort, holte einen Band aus dem Regal, setzte mich in einen der Sessel und nahm kaum noch etwas anderes wahr als den Text. Bevor ich ging, stellte ich das Buch zurück, meist hatte ich Glück und fand es beim nächsten Mal an derselben Stelle wieder. Wenn nicht, war es auch nicht schlimm, ich wusste, irgendwann würde es ins Regal zurückkehren und bis dahin würde ich durch andere Texte wandern können. So kam ich aus Theodor Fontanes Effi Briest in Bernward Vespers Die Reise, aus Ulrich Plenzdorfs Die Leiden des Jungen W. in E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels. Bis heute lese ich am liebsten viele Bücher parallel, manche in kurzer Zeit, manche über Jahre. Mein Empfinden, dass die Literatur ein Aufenthaltsort ist, eine Landschaft, in der es Gegenden gibt, die ich eingehend studieren möchte, andere, die mir jetzt oder für immer zu kühl, zu heiß, zu windig oder zu lieblich sind und wieder andere, zu denen ich immer wieder gerne zurückkehre, möglicherweise ohne sie jemals ganz zu erkunden, stammt wahrscheinlich aus dieser Zeit. Ob ich eine Übersetzungsanfrage annehme, entscheide ich auch danach, ob ich es mir vorstellen kann, mich so lange, wie ich für die Arbeit benötigen würde, Tage, Wochen, Monate, in der besagten sprachlichen Umgebung aufzuhalten. Inhaltlich ist vieles aushaltbar, solange ich mich in der Sprache der Autorin, des Autors gut bewegen kann.

Als Schülerin habe ich mich also vielleicht oder ganz sicher nicht so in die Texte vertieft wie die Mönche des frühen Mittelalters in ihre Manuskripte, außer Lyrik, die ich bis heute so lese, habe ich die Zeilen wohl auch nicht leise vor mich hingemurmelt, aber eines hatte ich mit den Mönchen doch gemeinsam: Das Lesen war eine ebenso körperliche wie geistige Tätigkeit, ich war auch physisch mit dem Text verbunden. Wenn ich nach dem Bild suche, wann das aufhörte, sehe ich mich, wie ich die Universitätsbibliothek betrete, nun mit einer schweren braunen Ledertasche über der Schulter. Mit dem Studium wurde ich offenbar zur modernen Leserin und die Seite zur Platte, die meinen Verstand mit Zeichen versah. Das kann ich in der Vergangenheit schreiben, denn die vielen Jahre des literarischen Übersetzens haben mich wieder dem verlorenen Lesen angenähert, dessen Verlust mir gar nicht bewusst war. Würde die Übersetzerin die Seite als Platte wahrnehmen, bliebe auch das, was sie in der anderen Sprache erschafft, nur zweidimensional. Und doch war der physische Aspekt des Lesens in den letzten Jahren verblasst, oder vielmehr vom Verstand in seine Einzelteile zerlegt worden: Die Augen nahmen das Schriftbild wahr, die Ohren den Klang und mitunter sogar der gesamte Körper den Rhythmus, aber diese Empfindungen liefen parallel ab, verflochten sich nicht miteinander. Und genau hierhin, zu Verflechtung, dem Gewebe, dem histos, hat mich das Lesen der vergangenen Monate zurückgebracht. „Das Wort histos bezeichnet den Webstuhl und das Gewebe“, schreibt Barbara Köhler in Penelopes Gewebe, „am genauesten aber vielleicht die Kettfäden, ein senkrecht Aufgestelltes – denn es kann auch den Mast eines Schiffes bezeichnen. Das zugehörige Verb histemi sagt: hinstellen, aufrichten, zum Stehen, zu Stande bringen.“29
Ich habe bei Weitem nicht alle Pfeiler István Keménys gelesen, manche habe ich eingehend studiert, bei manchen habe ich nur kurz verweilt, zu manchen werde ich bestimmt wiederkehren. Die im Raum schwebende Frage, ob es für die Übersetzung der einzelnen Texte notwendig gewesen war, so viel zu lesen, kann ich nicht eindeutig beantworten. Strenggenommen hätte es bei den meisten Essays wohl gereicht, die Zitate aus den entsprechenden deutschen Übersetzungen herauszusuchen. Aber wer weiß, ob das gesamte Tuch, zu dem der Autor diese einundfünfzig Kurzessays verwoben hat, ohne das Segeln zwischen den Pfeilern zu Stande gekommen wäre.

Auf dem Titelbild ist eine Zeichnung von Sebastian Rug zu sehen:
ohne Titel, 2016,
Bleistift auf Papier,
210 x 295 mm
Courtesy Galerie Werner Klein, Köln

24.08.2023
Fußnoten
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Leseprobe PDF

©Konstantin Déry

Timea Tankó, 1978 in Leipzig geboren, Kindheit in Ungarn und Deutschland. Sie studierte Übersetzen Französisch, Spanisch und Kulturwissenschaften. Heute lebt sie in Berlin und übersetzt aus dem Ungarischen (u.a. Ádám Bodor, Endor Endre Gelléri und István Kemény) und Französischen. Für ihre Übersetzung Apropos Casanova von Miklós Szentkuthy erhielt sie 2021 den Preis der Leipziger Buchmesse.

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