Journale Prosa Ein vierohriges Tiefenübersetzungsjournal

Ein vierohriges Tiefenübersetzungsjournal

zu Adèle Rosenfeld: Quallen haben keine Ohren

… traduire la vie sous son aspect universel, immense, et extraire de cette vie des images où nous aimerions à nous retrouver.1
Antonin Artaud

Louise, Adèle Rosenfelds Protagonistin, die von den Lippen zu lesen gelernt hat, fühlt und sieht ihr Hörvermögen im Laufe des Romans rapide schwinden und setzt sich mit der Frage auseinander, ob sie sich ein Cochlea-Implantat einsetzen lassen soll. Zu den Faktoren, die ihr das Lippenlesen erschweren, zählen die Lichtverhältnisse: die hereinbrechende Dämmerung, eine Wolke, die sich plötzlich vor die Sonne schiebt und den Mund ihres Gegenübers ins Dunkle taucht; Umgebungsgeräusche, die sich zu einem Rauschen, der sogenannten psychoakustischen Verzerrung, ausweiten; Sprechende, die sich im Bereich der mittleren Frequenzen bewegen. Louise lernt, die akustische Brennschärfe einzustellen, die urbane Klanglandschaft zu bewohnen (82), aus Hintergrundgeräuschen, etwa im Bus, die Stimmen herauszufiltern, anhand der hohen Frequenzen die Konsonanten zu erfassen, die den Wörtern Kontur verleihen und sie stützen wie Spalierstangen, während die Vokale sich an den Stängeln emporranken. Ein Spiel, an dem sie Gefallen findet. Während ihr Hörvermögen abnimmt, schärfen sich die übrigen Sinne. Gerüche übersetzen für Louise Geräusche, öffnen den vom Gehör verstopften Raum: Der Geruch von Abgasen signalisierte mir ein in der Nähe vorbeifahrendes Motorrad, das penetrant riechende Haarspray die Kopfbewegung einer Dauerwelle (114). Louise macht die Erfahrung, dass gehörlose Personen visuelle Bewegungen schneller und rascher verarbeiten können, merkt, wie sich ihre eigenen visuellen Fähigkeiten enorm verbessern: Die letzten Sonnenstrahlen machten die Modellierungen der Lippen nicht völlig zunichte; die Labiallaute drangen länger durch das Halbdunkel (128). Leicht geblähte Nasenlöcher, ein erstes mütterliches Stirnrunzeln sind ein Anzeichen dafür, dass bald die Wörter hervorsprudeln würden (173).  Die Gesichter von Louises Mitmenschen werden zu unappetitlichen, zerfurchten Landschaften mit vorgewölbten, fleischig-bläulichen Zungen, die zwischen Kuchenkrümeln ls und ts artikulieren, die mit rotweinverfärbten Lippen Explosivlaute aufeinanderprallen lassen. Ein Mundtheater. Wie eine Zitrone werden die Gesichtslandschaften nach kostbaren Satz- und Wortfetzen ausgepresst, damit die Stille, ein Feind, den es zu bekämpfen galt (143), Louise nicht aus der Wirklichkeit ausstößt. Doch die Stille kann auch Freundin sein. Vertraute Körper brauchen keine Wörter zwischen sich zu pflanzen: Die Stille hatte uns viel mehr zu sagen, sie ließ uns wachsen (142). Immer wieder stellt Louise bewusst ihr Hörgerät ab, ertaubt absichtlich, um den mütterlichen Ermahnungen oder der aggressiven Schalldecke (114) der Stadt zu entfliehen. Sobald die Geräusche ausgeblendet werden, intensivieren sich Gerüche und Visionen, wird die nächtliche Stadt zu einer blinkenden Landschaft voller Scheinwerfer, Verkehrsampeln und Displays, sind die Gerüche so angenehm wie die einer langersehnten Reise (114). Am Ende des Romans scheint sich die Ambivalenz der Stille für Louise aufzulösen und nicht Gegen-, sondern Bestandteil der Sprache zu sein: Die Stille war ein Ort, der sich innerhalb der Sprache bewohnen ließ. Die Stille befreite Wörter und Bilder, die von der Sprache gefangen gehalten wurden. Ich hatte mich also nicht verirrt, ich war noch auf dem Weg (200).

Geräusche in Gerüche übersetzen. Wäre Louise des Deutschen mächtig, würden die Wörter Geräusche und Gerüche wohl zu den harten Nüssen des Lippenlesens zählen, denn selbst bei besten Lichtverhältnissen würden äusch und üch mutmaßlich zu ununterscheidbaren Lauten. Selten habe ich im Laufe einer Übersetzung meinen beiden Sprachen so viel ablauschen dürfen wie in Quallen haben keine Ohren. Mich ein- und dazwischenhören müssen: Quallen waren kahl geboren, Quallen haben klar verloren, Quallen abends kabelloser, Qualmen alle meine Poren.

Adèle Rosenfeld: Quallen haben keine Ohren. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Suhrkamp Verlag, 2023.

Selten hat jemand mein Gehör so geschärft wie Adèle Rosenfelds hörbeeinträchtigte Erzählerin Louise, die ihrerseits eine Langstreckenübersetzerin ist, eine Überbrückerin permanenter Differenzen. Sie übersetzt Gerüche, Mimik, Gesten in Sprache, Klang in Sinn. Manchmal saß ich ratlos vor der langue à trous, der durchlöcherten Sprache, die Louise von ihren Mitmenschen vorgesetzt bekommt, und spielte wie die Erzählerin angesichts der zwischendurch verstummenden Münder

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Die Passagen, in denen „die Sprache“ bröckelte und porös wurde, verlangten mir ein neues Hörverhalten ab und ließen mich in eine andere, in Louises Sprache, ein. Ich tastete mich auf schwankendem Boden voran, mein Gleichgewichtssinn ließ mich im Stich. Ich brauchte, so wie die Wörter Halt in den Konsonanten fanden, verlässliche Spalierstangen, um herauszuhören, wann sich hinter der phonetischen Umschrift ein verborgener Sinn verbarg, wann nur noch ein absurdes Rauschen. Hier ein Beispiel aus einem Gespräch zwischen Louise und ihrer Mutter, die, so legt es sich die Erzählerin zurecht, von einem Besuch bei einer Freundin berichtet:

„Tu en as déjà goûté ?“, m’a-t-elle demandé.
„De quoi, maman, des promenades en forêt?“
J’ai prié pour que la lumière ne change pas, que les nuages restent à leur place, pour ne pas briser le modelé parfait des lèvres de ma mère sur le canapé.
„Non, l’ail des ours tu en as déjà goûté, j’en ai acheté au (un nuage est passé, j’ai ripé sur les voyelles, ce n’était plus qu’un enchaînement de p, de d et de t, peut-être même des b, et le soleil est réapparu). D’ailleurs, valougie cétu l’artddictif dans les müeslies.“
     Les addictifs dans les muëslis. Bof, le sujet ne m’intéressait pas suffisamment pour maintenir mon attention.
„Pourquoi tu ne m’écoutes pas ?“, m’a-t-elle demandé, agacée.
„Le müesli, ça me déprime.“

Meine Spalierstange, die Autorin, hilft mir beim Übersetzen des letzten Satzes – D’ailleurs, Valérie a l’art instinctif de les (l’ail de l’ours) trouver dans les prairies, ah oui :-) ! –, den ich – Weißt du, Valerie findet sie immer einfach so auf der Wiese unterwegs – in das phonetische Rauschen zurückübersetze, bevor ich ihn auf eine neue, irrige Sinnebene hole. An manchen Stellen des Textes ist es wichtig, das Lippenlesen nachempfindbar zu machen und etwa visuell gut erkennbare Explosivlaute auch ins Deutsche zu holen. Hier allerdings übernehme ich die von Louise aufs Geratewohl herausgehörten Konsonanten, weil sie nur eine tastende Funktion haben und nicht haltgebend sind. In diesem Fall ist nicht der von Louise falsch rekonstruierte Sinn ausschlaggebend, sondern der, der sich hinter den unverständlichen Worten der Sprecherin verbirgt. Das Müsli darf in der Übersetzung also wegfallen:

„Hast du das schonmal probiert?“
„Was denn, Mama, Waldspaziergänge?“
Ich betete, dass das Licht sich nicht verändern möge,
dass die Wolken an Ort und Stelle blieben, um die perfekte
Form der Lippen meiner Mutter auf dem Sofa nicht
zu zerstören.
„Nein, Bärlauch, das hast du auch schonmal probiert, ich habe es
gekauft beim (eine Wolke zog auf, ich rutschte
an den Vokalen ab, es gab nur noch eine Folge aus ps, ds und ts,
vielleicht sogar ein paar bs, dann kam die Sonne wieder durch).
Übrigens, weissu Valei finsi immeinfa soauf Wien untergeht.
„Wien untergeht?“ Puh, das Thema war nicht interessant
genug, um meine Aufmerksamkeit zu halten.
„Warum hörst du mir eigentlich nicht zu?“, fragte sie
verärgert.
„Der Untergang von Wien deprimiert mich eben.“ (32)

Dann wiederum gibt es Stellen, an denen Louise das Gehörte in einzelne Silben aufspaltet, um sich einen Sinn zusammenzureimen: Le car asthmatique (charismatique), wobei ich diese Hörbewegung mitzumachen versuche: Karl ist manisch (charismatisch). Und es gibt solche, an denen bei Louise unbewusste Bedeutungsschichten aktiviert werden, die eine Art Subtext bilden. Wenn ihre Verzweiflung das Gehörte eindunkelt, sie in ihrer Orientierungslosigkeit épaumée hört statt épaulée, Bleisand statt Beistand. Wenn die Personalchefin mit ihr über Schwierigkeiten sprechen möchte, die ihr zu Ohren gekommen seien, und Louise, bei der permanent landunter herrscht und die sich assoziativ und metaphorisch zunehmend sous l‘eau bewegt, sich im Sinne ihrer inneren Unterwasserlandschaft verhört: „Wir haben Wind von schweren Haien bekommen.“ Je weiter der Hörverlust fortschreitet, desto weniger versucht die Erzählerin, einen möglichen Sinn zu rekonstruieren. Die Wortausfälle nehmen zu, wir driften mit Louise immer weiter nach Absurdistan ab.

„Sag es Ihnen schweigend, im Stil von Süßstofftabletten.“
Lachend schenkte ich mir Fanta ein.
„Emilien Dussan, verschluckter Rücken.“
Ich stellte mir vor, wie ein Männerkörper zwischen
den Wammen eines Wals verschwand.
„Ein Krebs umschlingt und die Garage einer Fabel.“
Ich schwamm in Bildern einer Garage (oder Karambolage)
auf dem Grund des Ozeans, in Bildern von Thomas’
Krabben-Fingern, die sich um meine schlangen, vom aufgehenden
Mund meiner Mutter mit Lippenstiftspuren auf den Zähnen (213-214).

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Die eigene wird für Louise mehr und mehr zur fremden Sprache. Louise wird zur Ausländerin im Inland. Nicht nur die verunsicherten Blicke der anderen, wenn sie mit großen Augen das Pingpong der Unterhaltung einzufangen (93) versucht, weisen ihr diese Rolle zu, auch sie selbst findet sich in ihr wieder: Ausländerin, die war ich. Eine Sprachentwurzelte (93). Eine, die sich nicht in dem sanften Surren einer bekannten, in der Menge widerhallenden Sprache wiegen kann, auf die das Französische auf der Straße wie das Gegacker von Batteriehühnern (94) wirkt; eine, die auch französische Filme nur mit Untertiteln sehen kann; die sich im Ausland wohler, in ihrem Nichtverstehen legitimer fühlt: Les voyages, on est là-bas mieux qu’ici, on est légitime d’être sourd, rien à expliquer, notiert Adèle in ihrem privaten Notizbuch, in das sie mir während der Übersetzung Einblicke gewährt. Vielleicht aber, lässt sie Louise mutmaßen, seien sie, die Sprachentwurzelten, auch mit einem besonderen Reichtum gesegnet. Der Anarchistischen Zeitschrift für Neurowissenschaften zufolge seien wir Menschen ursprünglich alle existierenden, aber auch alle möglichen Sprachen zu artikulieren imstande (192) gewesen und hätten das Lautmaterial sämtlicher Sprachen vom englischen th zum spanischen Zungen-R beherrscht. Erst durch die Aneignung der Muttersprache seien die ungenutzten Phoneme verlernt worden. Wurde unsere Sprache also reicher, wenn uns die Muttersprache vorenthalten wurde? Würde Louise, wenn sie sich gegen das Implantat entscheiden sollte, ihre Muttersprache komplett vergessen und wieder einen Zugang zu diesem universellen linguistischen Fundus finden (192)?  

Mit Louise-Adèle versetze ich mich zurück in meine Anfangszeit in Frankreich, als ich die grammatischen Strukturen der Sprache korrekt verinnerlicht hatte, leidlich gut lesen und im direkten Gespräch einigermaßen viel verstehen konnte, aber sobald es französisch aus dem Radio sprudelte, komplett ins Schleudern geriet: keine Spalierstangen weit und breit, ein melodischer Singsang, Satzfetzen. Schuld daran waren die berühmten Liaisons, die aus dem Deutschen unvertrauten Bindungen oder Verschleifungen zwischen den Wörtern. In einer Sprache, die zudem so reich an Homophonen, an gleichlautenden Wörtern ist wie das Französische, wurde dem Ver- und Vorbeihören damit ein roter Teppich ausgebreitet: être ange / étrange; est tacheté / est acheté / est à jeter, lese ich in Adèles Aufzeichnungen.

Paspas pas le pas le papa / le mauvais papa le mauve le pas – die beiden Verse stammen aus dem Gedicht PASSIONÉMENT des rumänischen Dichters Ghérasim Luca, das zu seinen sogenannten Stottergedichten zählt. Ähnlich wie die in ihrer eigentlichen Sprache immer fremder werdende Protagonistin Adèle Rosenfelds, schafft sich das lyrische Ich hier „gerade durch die Sprech- und Sprachfehler“ eine neue Sprache, „eine falsche Sprache bzw. eine Fremdsprache mit eigener Richtigkeit.“2 Es stottert sich Zeile um Zeile zu einer Liebeserklärung durch, so wie Louise sich Silbe um Silbe, Wort um Wort zu einem Sinn weiterhört. Hören und Lesen sind in Lucas Texten nicht voneinander zu trennen, ebenso wenig wie Verhören und Lippenlesen in den Sprechtexten, die Louise entziffern muss. Auch sie sieht der Sprache „gleichsam beim Denken zu (…) Der Redeschwall gleicht nicht dem geregelten Ping-Pong eines Dialogs, sondern einem Monolog mit gestörtem Rhythmus. Der Monolog ist sozusagen ganz Ohr, er hört sowohl nach innen wie nach außen.“3 Luca stößt ein sich selbst übersetzendes Sprechen an, das allerdings nicht von einer Fremd- in die Muttersprache übersetzt, sondern von einer Fremdsprache (dem Französischen) in eine fremde Sprache innerhalb der Fremdsprache. Seine Übersetzungsarbeit, bei der er ständig Wortgrenzen auflöst und neu zusammensetzt, gleicht Louises Silbenpuzzle. Damit folgt er auf der innersprachlichen Ebene einem ähnlichen Verfahren wie Ernst Jandl, der in seiner berühmten Oberflächenübersetzung die Lautlichkeit eines Gedichts von William Wordsworth zugrunde legt und darin die Wortgrenzen so verschiebt, dass sich im Deutschen eine neue semantische Struktur ergibt:

my heart leaps up when i behold
a rainbow in the sky

so was it when my life began
so is it now i am a man …

mai hart lieb zapfen eibe hold
er renn bohr in sees kai

so was sieht wenn mai läuft begehen
so es sieht nahe emma mähen …
4

Jandls Oberflächenübersetzung, die bewusst mit dem Erhabenen bricht, ist in Wirklichkeit eine Tiefenübersetzung, bei der nicht das Naheliegende übertragen wird, sondern ein „verdrängtes Assoziationsmaterial“.5 Mit dieser Methode hinterfragt der Dichter auch die traditionelle Übersetzungsauffassung, die auf selbstverständliche Weise das Semantische dem Lautlichen überordnet und darin manchmal geradezu „semanto-pedantisch“6 sein kann. Wenn Louise sich verhört, Schwierigkeiten mit schwere Haie übersetzt oder Klangkraft mit krankhaft, ist auch sie eine Tiefenübersetzerin, die mit ihrem Hörverhalten der Sprache Unsichtbares entlockt, die der Logik einer mechanischen Wörtlichkeit ihre poetische Verhörlogik entgegensetzt.


 

_­ _ L _ E N R _ T E N

Das Wort, als Übersetzung, macht den Unterschied, es definiert, grenzt ein, grenzt aus.7
Felix Philipp Ingold

Das Surrealistische von Luca, das Anarchische von Jandl, aber auch die populärkulturelle Faszination für das, was Axel Hacke als „das unerschöpfliche Verhörpotenzial der Fremdsprachen“8 bezeichnet, durchzieht Adèle Rosenfelds Text. Das Leichte, Spielerische kommt nie zu kurz, so ernsthaft das Thema und so unfreiwillig das Verhören ursprünglich auch ist. Auch Adèle Rosenfeld setzt das homophone Übersetzen als literarisches Verfahren ein, transzendiert poetisch die eigene Hörbeeinträchtigung und die ihrer Protagonistin. Damit gibt sie mir nicht nur Rätsel auf und zieht mich im Laufe des Übersetzungsprozesses mit in die Tiefen sprachlicher Assoziationsräume, sie hinterfragt mit ihren innersprachlichen Übersetzungen auch meine generelle Haltung (als Übersetzerin). Sie zwingt mich, aufmerksam für den sprachlichen Ausdruck zu bleiben, mich gewissen Übersetzungsstandards zu entziehen, dem Flüssigkeitsgebot zuwiderzuhandeln, Flukturierendes wertzuschätzen, Instabilität zu akzeptieren und an die Leser·innen weiterzugeben. Ich lasse mich anstecken vom Sprachfrust, der Sprachlust wird, lasse mich von der Autorin an die Hand nehmen, um ihren sprachlichen Hallraum zu betreten. Indem sich die Sprache, die Wörter öffnen, komme ich nicht nur Louise-Adèle, sondern auch der Singularität der Gehörlosen ein Stück weit näher. Ecriture de minorité = politique. Objectif : montrer à voir aux entendants, lese ich in Adèles Notizbüchern. Wäre es vermessen zu behaupten, dass auch ich an einem politischen Akt teilhabe, am engagierten Schreiben einer kulturellen Minderheit? Und zwar nicht, weil ich den Übersetzungsvertrag zu diesem Buch unterschrieben, sondern weil ich mich auf das immanente Wagnis der Sprache eingelassen habe?

Im Buch zählt Louise zu den sprechenden Oralisten und gehört damit einer vollkommen anderen Welt an als diejenigen Gehörlosen, die sich der Gebärdensprache bedienen. Die Gebärdensprachler·innen betrachten die Oralist·innen, die von klein auf ihr Restgehör aktiviert und das Lippenlesen gelernt haben, als Abtrünnige: Unsere unschönen Münder hatten keinerlei Überzeugungskraft, während ihre Zeichen unzählige Bilder heraufbeschworen (168). Sie inszenieren Rollenspiele, in denen sie sich im Tosen des Sturms auf offener See befinden und, um zu überleben, jemanden ins Wasser stoßen müssen: Alle behielten einen Gehörlosen an Bord, denn in der Dünung und im Wind erschienen uns allein die Gebärdensprache und das geübte Auge des Tauben unverzichtbar (168). Gesten und Bilder, die Leben retten können, so die Priorität der Pragmatiker. Den Oralisten aber gehört die Poesie des Verlesens und Verhörens. Ontophonie, nannte Ghérasim Luca seine Art des Weltzugangs, bei der der Klang das Wort offenbart. Seine Dichtung behandelt das Wort als Materie: „Bricht man die feste Form auf, wo sie verkrustet ist; treten neue Beziehungen zu Tage: Die Klanglichkeit erregt sich, schlummernde Geheimnisse werden laut, wer lauscht, wird eingeführt in eine Welt aus Vibrationen (…) Der, der das Wort öffnet, öffnet die Materie.“9 Luca oralisiert sich – sein berühmtes Statement lautet: je m’oralise (≠ je moralise) – auch er ist Oralist, wie Adèle, wie Louise. Und wie er sind auch Louise und Adèle Klangkünstlerinnen.

Louise protokolliert Klänge, um sie sich einzuprägen, sie aufzubewahren für Zeiten, in denen ihr Gehör sie möglicherweise ganz im Stich lässt. Sie legt ein Klangherbarium an, in dem sie als Gebrauchsnamen die Geräusche brutzelnder Zwiebeln, eines Gewitters oder eines Martinhorns festhält. Der Roman endet mit der Übersetzung dieser und anderer Geräusche in sprechende Bilder, ein schlichter Fünfzeiler, der uns hören lässt: 

Getuschel betrunkener Angeber

Kiefer, der die Pyrenäen zerkaut

Verlassene Gletscherkappe

Obertongesang von grünen Crocs

Lawine aus Kugelfangspielen

 

G­ _ L G E N R _ T E N

 

11.09.2023
Fußnoten
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Leseprobe PDF

©Annette Hauschild

Nicola Denis, 1972 im niedersächsischen Celle geboren. Nach einem Sprachaufenthalt in Paris 1991/1992 Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Romanistik in Köln. Auf die Magisterarbeit zu verschiedenen Übersetzungen von Molières Misanthrope 1997 folgte 2001 die Promotion mit einer komparatistischen Arbeit zur Übersetzungsgeschichte: Tartuffe in Deutschland (LIT Verlag 2002). Seit 1995 lebt Nicola Denis zusammen mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Westfrankreich. Seit 2002 ist sie hauptberuflich als Literaturübersetzerin aus dem Französischen mit den Schwerpunkten Belletristik, Essay und Kunstgeschichte tätig. Sie ist Mitglied der BücherFrauen, des Freundeskreises Literaturübersetzer·innen e.V. und des VdÜ. Vom Deutschen Übersetzerfonds wurde sie mit zahlreichen Arbeitsstipendien und zwei Exzellenzstipendien ausgezeichnet. 2021 erhielt sie für ihr übersetzerisches Gesamtwerk den Prix lémanique de la traduction, 2023 den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis. Im August 2022 erschien bei Klett-Cotta ihr literarisches Debüt Die Tanten.

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