Dreigroschenjournal
I. Die Platte mit dem Sprung
Freitag, 25. August 2023 – 8:59
Und der Haifisch ... Et le requin ...
Freitag, 25. August 2023 – 9:02
Und der Haifisch ... Et le requin ...
Freitag, 25. August 2023 – 9:28
Und der Haifisch ... Et le requin ...
Freitag, 25. August 2023 – 10:50
Und der Haifisch ... Et le requin ...
Freitag, 25. August 2023 – 12:42
Und der Haifisch ... Et le requin ...
Freitag, 25. August 2023 – 15:54
Und der Haifisch ... Et le requin– – –
Mittwoch, 5. Juli 20233
Aix-en-Provence, gegen 2 Uhr morgens
Vorhang. Alles verflogen wie ein Traum.
Der Text wurde von den Sachauspieler·innen gelesen, aufgesagt, gesungen, erst bei den Proben, dann auf der Bühne; zunächst a capella, schüchtern, abseits in der Künstlerloge halblaut skandiert, bevor er von Vincents und Alphonses Klavier ans Licht gebracht wurde, leise, dann crescendo, lauter, lauter; schließlich entfaltet und verherrlicht vom Atem der Musiker·innen, von Maximes ausholendem und gefräßigem Schwung, lauthals, aus Leibeskräften, bis zum Schlusschor, überschäumend von Inbrunst und Zorn, bis zum letzten Wort, von hundert Mündern auf einmal geschrien; und der Applaus ist verklungen, die Truppe hat die Bühne verlassen.
Ich möchte alles wiederfinden, die lebhafte Kraft der Arbeit in mir schlagen hören, ihr vitales Pulsieren, jede Schicht meines Denkens durchqueren, jeden seiner Umwege erneut vermessen, möchte in meinem kleinen Zimmer sein, all die Zeilen des Reimwörterbuchs noch einmal entlanggehen, die staubigen Platten noch einmal hören, und meine maroden Diktierbänder, und dann die Stimmen von Claïna und von Christian, von Birane und von Benjamin, die ihren Part zum ersten Mal singen, und die Stimme von Véronique, sublime Trash-Tragödin in der „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“, und die Mondstimme von Elsa im „Salomonsong“, und die Flammenstimme von Marie in der „Seeräuber-Jenny“, ich möchte wieder mit an Bord sein.
Doch sobald ich versuche, wieder einzutauchen, sehe und höre ich nur jene drei Worte, die ersten, die auf der Bühne erklingen, Kammerton des gesamten Stückes, die letzten, die Brecht für das Stück geschrieben hat, rasch aufs Papier geworfen, zwischen Tür und Angel, am Tag vor der Generalprobe, das merkt man, reines Hervorsprudeln, in dem sich die Verschmelzung von Sinn und Klang vollzieht – drei Worte, die seltsamsten und natürlichsten, die man sich vorstellen kann, drei kleine Worte, die alles Übrige verbergen, mir die Party verderben, auf eine armselige Dreigroschenjahrmarktsleinwand hingeschmiert:
Und / der / Haii – fisch …
Et / le / reuuh – quin…
Billige Lösung, einziges Wort für Wort der gesamten Übersetzung; die anscheinend keine Anstrengung kostende Blankolösung, null Vision, als ob ein Pianist sich damit begnügte, die Noten abzuspielen ohne die geringste Intention, die geringste Modulation, ohne Dynamik, weder legato noch rubato.
Vom Cover schaut mich höhnisch die Visage Brechts an. Sein Mund geschlossen. Vom Hai sieht man die Zähne, doch er zeigt nichts, genau wie der Bandit Macheath. Ich wusste immer, dass Brecht ein Lump ist, aber dass er es derart weit treibt ... In einem anderen Gedicht sagt er es unumwunden: „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“ Den Frauen (mit denen er immer der schlimmste Lump war) schleudert er das entgegen, doch die Ironie des Verses geht mir erst im Nachhinein auf: Man könnte meinen, er spräche zu seinen Übersetzer·innen.
Nutzlos, auf seinen Text zu bauen. Und ich lege mein ganzes Gewicht darauf ...
Ende März 2022
Ich durchstöbere die Antiquariate auf der Suche nach dem Dreigroschenbuch, in das Siegfried Unseld 1960 annähernd alles aufnahm, was damals über das Werk bekannt war, einschließlich der markantesten Erinnerungen jener, die bei der Uraufführung dabei waren. Da erfahre ich, dass Suhrkamp das Buch ursprünglich mit einer 45er-Single verkaufte, auf der Brecht selbst die Moritat singt. Das ist die Neupressung der 1929 von Electrola aufgenommenen 78er Scheibe. Die Original-Schellackplatte ist nirgendwo mehr erhältlich, und ich hätte ohnehin nicht den passenden Tonabnehmer, um sie abzuspielen.
Die Suhrkampsingle muss ich haben, das ist der Tonträger, der mich zeitlich am nächsten an Brechts Stimme bringt. Ihr werde ich schon ein Geheimnis entlocken, eine verborgene Intonation. Auf der B-Seite ist das „Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“, harmonische Schwester der Moritat, Schwester auch im Tonfall des Textes, dieser kühlen und sarkastischen (oder zynischen?) Distanz, die es mir noch nicht gelingt, auf Französisch wiederzugeben, weder im geschriebenen Gedicht noch im gesungenen Text.
Die Platte ist da. Ich höre sie ein einziges Mal, dann entschließe ich mich, sie wie einen Talisman über meinem Schreibtisch aufzuhängen, in der Fensterecke, auf die das Licht fällt und die vom Bett aus zu sehen ist. Die Stimme auf ihr wird wie ein Geist meine Gedanken klären, sie im Schlaf befruchten.
Die Aufhängung mit kleinen Klebeecken dauert ihre Zeit (ich bin etwas zwanghaft, muss ich zugeben). Als endlich die richtige Symmetrie gefunden ist, trete ich ein paar Schritt zurück und begutachte, die Moritat summend, mein Werk. Auf dem Plattencover prangt ein Wort, sehr kategorisch: „unzerbrechlich“, wie es oft auf alten Pressungen steht.
Ich mustere es herausfordernd: Das wird sich noch erweisen, wir werden ja sehen, ob das Lied widerstehen wird.
Nach ein paar Sekunden löst sich die Platte wie von Zauberhand, fällt lotrecht nach unten, schlägt genau mit dem Rand auf dem Boden auf. Ich hechte hin: Das Vinyl ist gesprungen, ein winziges Stück herausgebrochen. Ich werde rasend, lege die Platte auf den Plattenteller – das winzige Stück trug in seinen Rillen haargenau die ersten Takte der Moritat und die von Brecht gesungene erste Strophe:
Und der Haifisch, der hat Zähne,
Und die trägt er im Gesicht,
Und Macheath, der hat ein Messer,
Doch das Messer sieht man nicht.
Die Stimme ist gebrochen. Unersetzlicher Verlust für mich als manischen Sammler; doch bald erkenne ich das Zeichen, das ich soeben zugeworfen bekam, fast wie ein Augenzwinkern von Bert. Vielleicht muss man sich getrauen, den Text zu zerschlagen, um ihn besser rekonstruieren zu können. Vielleicht liegt das Geheimnis in diesem Sprung?
Ich fühle mich ein wenig erleichtert. An die Arbeit.
II. Gefangener der Prosodie
März 2022 – Juli 2023
Was mich von Anfang an beim Prozess der Neuschöpfung der Songs gereizt hat, war – zumindest in den Grenzen dieses Werks – die Möglichkeit zur Aufhebung der ewigen Debatte um die Übersetzung von Gedichten in Versen und klassischen Formen: Muss man den jambischen Fünfheber, das kanonische Versmaß in der englischen und deutschen Dichtkunst, mit einem Dekasyllabus oder einem Alexandriner übersetzen, den vorherrschenden Versmaßen in unserer französischen Poesie? Noch kniffliger: Muss man das Wagnis eingehen, die Reime zu übersetzen, die in neuer Anordnung unweigerlich den Sinn des Originals verfälschen, seinen eigentlichen Charakter, weil es dadurch zu anderen Metaphern hingezogen wird, zu Phonemen, die die Ausgangssprache nicht enthält?
Nach Jahren nicht theoretisch untermauerter Reflexion war der gemeinsam mit Julien Lapeyre de Cabanes unternommene Versuch, Jan Wagners Regentonnenvariationen ins Französische zu übertragen, eine markante Etappe während meiner Annäherung an diese Übung gewesen. Dank der Dichtkunst Juliens und unter Jans ebenso wohlwollendem wie scharfem Blick hatte ich, wie mir schien, einige Fortschritte bei der Neuschöpfung geschriebener Formen gemacht.
Hier ist nun alles einfacher und zugleich schwieriger. Ich werde gebeten, die Lieder der Dreigroschenoper ins Französische zu übersetzen, eine Version zu liefern, die gewiss lesbar sein soll, aber bei der es vor allem darum geht, gesungen und auf der Bühne dargeboten zu werden. Dennoch sagt man mir nicht: adaptiere, man sagt mir: übersetze.
Die Schwierigkeit liegt ausschließlich in einer kleinen Zutat, welche die übliche poetische Gleichung komplizierter macht, ein kleines Wort, das schon bald in jeder Diskussion innerhalb des Teams herumgeistert und wie ein Mantra wiederkehrt: die PROSODIE
Wer kann sie genau definieren? Und wie kann sie, wie muss sie in der Wiedergabe der Dreigroschenoper in französischer Sprache funktionieren, dieser Anti-Oper, die eine brutale, korrosive Sprengladung auf die gesamte Tradition der klassischen lyrischen Kunst abfeuert, die gegeißelte Sprache aufsprengt, die Diktion in die Luft jagt?
Definitionen aus dem Robert :
Prosodie (didactique) :
1. Durée, mélodie et rythme des sons d’un poème ; règles concernant ces caractères des sons. La prosodie latine.[1. Dauer, Melodie und Rhythmus der Laute eines Gedichts; Regeln bezüglich jener Lauteigenschaften. Die lateinische Prosodie.]
2. Règles fixant les rapports entre paroles et musique du chant. [2. Regeln, die die Beziehungen zwischen Worten und Musik des Gesangs festlegen.]
3. Intonation et débit propres à une langue. Phonétique et prosodie françaises, allemandes. [3. Satzmelodie und Redefluss, die einer bestimmten Sprache eigen sind. Französische, deutsche Phonetik und Prosodie.]
Die Dreigroschen-Übersetzung mischt notwendigerweise die drei Wortbedeutungen. 1.) Das Gedicht muss zunächst Gedicht sein, Poesie, die auf der Seite, „im eigenen Kopf“, zu lesen ist (Brecht verwertet mehrere Gedichte aus seiner Jugend, von denen zwar manche von Franz Bruinier, dem ersten Komponisten, mit dem Brecht zusammenarbeitete, vertont wurden, die aber dennoch ursprünglich als geschriebene Texte entstanden waren); 2.) Es ist auch und vor allem Lied: Der Text muss sich Silbe für Silbe singen lassen, nach der Partitur von Kurt Weill, was bedeutet, letzte Definition (und Ironie des vom Robert zitierten Beispiels!), dass 3.) das auf Deutsch komponierte Lied mit Rücksicht auf die dem Französischen innewohnenden prosodischen Regeln (seine Syntax, seine Skandierung) neukomponiert werden muss. Müssen diese Regeln respektiert werden? Oder dürfen sie auch subversiv gebrochen werden?
Bien sûr, ce n’est pas la Seine,
Ce n’est pas le bois de Vincennes,
Mais c’est bien joli, tout de même,
À Gotinguène, à Gotinguène.
Gewiß, dort gibt es keine Seine
und auch den Wald nicht von Vincennes,
doch gäb’s viel, was zu sagen bliebe
von Göttingen, von Göttingen.
Pas de quais et pas de rengaines
Qui se lamentent et qui se traînent,
Mais l’amour y fleurit quand même,
À Gotinguène, à Gotinguène.
Paris besingt man immer wieder,
von Göttingen gibt’s keine Lieder,
und dabei blüht auch dort die Liebe
in Göttingen, in Göttingen.
Auf dem Plattencover ist zu erfahren, dass die zehn Lieder von Walter Brandin übersetzt wurden. Übersetzt? Bereits beim ersten Hören der deutschen Version merkt man, dass manche Bilder ganz verschwinden („c’est bien joli, tout de même“ – „es ist trotzdem recht hübsch“), während andere neu hineingeschmuggelt wurden (das allzeit besungene Paris). Die ganze Ambiguität dieses Übersetzens kommt langsam zum Vorschein, geht es doch um die prosodisch harmonische und akzeptable Wiedergabe eines populären Chansons. Der von Barbara vereint schon mit den ersten Strophen einen Teil dessen, was bei einem solchen Unterfangen unweigerlich auf dem Spiel steht. Die Songs aus der Dreigroschenoper, gleichermaßen Parodien von populären Liedern, Kabarettnummern und lyrischen Arien, treiben die Komplexität der Unternehmung ins Extrem.
Unser Ohr ist so sehr daran gewöhnt, dass wir es gar nicht mehr wahrnehmen: Alle starken Betonungen des französischen Textes sind am Versende platziert, auf sogenannten weiblichen Silben und Reimen, die auf einem stummen „e“ enden, das von der Sängerin je nach dem Tonfall, dem Gefühl, das sie dem Wort einhauchen möchte, mehr oder weniger stark betont wird: „Seine“ / „Vincennes“; „traînent“ / „même“.
Mindestens seit der Renaissance gibt es im französischen Lied, in der französischen Melodik für die Gedichtvertonung folgende klassische Regel (auch wenn sich die Formen natürlich weiterentwickelt haben): Die weichen, lyrischen oder melancholischen Versakzente, die weiblichen Silben, die durch den Reim zusammengehalten werden und deren Annäherung aneinander eine besondere Emotion hervorruft, gelten dann als schöner und anrührender, wenn sie sich an diese doppelte Modulation anschmiegen, auf der Pänultima, der vorletzten Silbe, dahinschmelzen, was die Möglichkeit eröffnet, entweder dieses stumme „e“ deutlich zu singen (aus der „Sei-ne“ wird „Sääh-nööh“) oder es hinauszuzögern, damit es nur noch kaum merklich zu hören ist („Sähnn‘“).
Wenn wir nun die deutsche Version anhören, stellen wir fest, dass sich die Regel verschiebt: Die starken Betonungen, die im Französischen auf die sogenannten weiblichen Reime und somit auf die vorletzte Silbe fallen, werden bei Brandin allesamt tonische Versakzente, die auf der ersten Silbe des Wortes liegen (auf Französisch treffend „syllabe d’attaque“ genannt) – aus dem einfachen Grund, dass im Deutschen die meisten Vokabeln mit einer betonten Silbe beginnen: „wieder“ / „Lieder“ / „Liebe“.
Da dieser tonische Anfangsakzent im Deutschen allgegenwärtig ist, lassen sich mit ihm sowohl akzentuierte als auch wenig akzentuierte Melodielinien abdecken; man wird innerhalb ein und desselben Verses die erste Silbe eines Wortes betonen oder nicht betonen können; und man wird alle weiblichen Reime am Ende eines französischen Verses problemlos durch ein auf der ersten Silbe akzentuiertes deutsches Substantiv ersetzen können, da die Sprache voll davon ist. Die zweite deutsche Silbe, die Bedeutung trägt und reiche Reime ermöglicht, muss selbstverständlich beim Gesang zu hören sein, doch kann sie sehr weich klingen, beinahe wie das französische stumme „e“: „Liiiie-bööh“ oder ganz kurz „Liie-be’“. Diese morphologische Besonderheit erlaubt in der klassischen Versbildung einen „doppelten Gebrauch“ der deutschen Substantive, dort wo das Französische strikt zwischen sogenannten weiblichen (klingenden) und sogenannten männlichen (stumpfen) Reimen unterscheidet.
Und da werden die Dinge nun spannend.
[Gesprochen]
Ihr Herrn, urteilt jetzt selbst, ist das ein Leben?
Ich finde nicht Geschmack an alledem.
Als kleines Kind schon hörte ich mit Beben:
Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!
[Chanté]
Da preist man uns das Leben großer Geister,
Das lebt mit einem Buch und nichts im Magen,
In einer Hütte, daran Ratten nagen.
Mir bleibe man vom Leib mit solchem Kleister!
Was auf den ersten Blick und beim ersten Anhören überrascht, ist der Rhythmus. Das Lied präsentiert sich als musikalische Nachahmung einer klassischen Ballade, der deutsche und französische Form glücklicherweise – bis zu einem gewissen Punkt – artverwandt sind. Das ruckartige Tempo des Shimmy, einem damals sehr populären Tanz, unterstreicht wunderbar den Takt des Verses:
Da – preist – man – uns | das – Le – ben – gro – sser – Gei – ster
1 2 3 4 | 1 2 3 4 5 6 7
Man sieht, dass dieser jambische Vers sich dank der Gesangslinie wie ein syllabischer Vers lesen lässt; das subtile, getaktete Gleichgewicht der Jamben ist hier weniger bestimmend – man kann den Vers skandieren, wie man einen französischen Dekasyllabus skandieren würde; sogar die Zäsur beim Hemistichion wird durch die Melodie Weills betont, nach der vierten Silbe.
Was uns ebenfalls beschäftigt, ist der Umstand, dass dieser klassische Balladenvers, wenn man ihn streng zählt, nicht zehn, sondern elf Silben hat; nach französischer Zählung wird er also ein Hendekasyllabus und würde somit gegen die traditionelle Regel verstoßen.
Wollte man das Gedicht unter Berücksichtigung der Form der französischen Ballade übersetzen, müsste man also die letzte Silbe weglassen und die zehn üblichen Silben beibehalten, idealerweise mit Zäsur beim Hemistichion nach der vierten. Bei den gesprochenen vier ersten Zeilen ist die Versuchung groß, so vorzugehen; sie würden für Ohren, die an die französische Diktion gewöhnt sind, dadurch nur besser klingen. Folgt man aber für die gesungenen Strophen dem gleichen Modell, bedeutet das bei jedem Vers die Weglassung der letzten Note – man singt also die letzte Note auf die zehnte Silbe, und das Orchester spielt die elfte Note „ins Leere“. Der gesamte Charakter des Liedes wird dadurch beeinträchtigt.
Auszug aus der im Jahr 2000 von der Kurt Weill Foundation for Music in New York veröffentlichten großen kritischen Partitur der Dreigroschenoper. Dieses Dokument druckt die vollständige Version von Brechts Text nach und liefert für jeden Song eine Orchesterpartitur, die nach ungefähr vierzig historischen Quellen erstellt wurde. Diese textgenetische Version des Werkes präsentiert zahlreiche Abweichungen von den klassischen Ausgaben des deutschen Textes, was die Übersetzung im Hinblick auf die Wahl bestimmter Wörter, bestimmter Reime vor nahezu unlösbare Probleme stellt.
Eine relativ wortgetreue Übersetzung des ersten Verses der Ballade macht recht gut verständlich, was ich zu beschreiben versuche (ich hebe die natürlich betonten Silben, die sich auch Weills Musik zu eigen macht, fett hervor):
Da – preist – man – uns | das – Le – ben – gro – sser – Gei – ster
1 2 3 4 | 1 2 3 4 5 6 7
On – nous – van – te | la – vie – des – grands – es – prits. /
1 2 3 4 | 1 2 3 4 5 6 7
Denkbare Lösung, doch sobald man sie singend ausprobiert, lässt die rhythmische und prosodische Mechanik die fehlende Silbe deutlich werden: Die beiden von Altsaxophon und Trompete staccato gespielten Noten, spöttisch-symmetrische Antwort auf die beiden letzten Silben, „Gei-ster“, verpuffen. Man spürt die Notwendigkeit des Jambus, der hier wirklich ein gesungener Jambus wird.
Man könnte freilich tricksen, einen zehnsilbigen Vers schmieden und die zehnte Note beim Singen zu einer elften hinüber verlängern – „la – vie – des – grands – es – prii – iiits“, sodass diese eine Silbe „-pri“ beide Noten verbindet und damit das Frage-Antwort-Spiel zwischen den zwei Schlusssilben und dem schelmischen doppelten Echo der Blechbläser wieder halbwegs ins Gleichgewicht bringt. Doch ganz gleich, wie man es singt, es wirkt immer armselig und plump.
Uns könnte also die Idee kommen, einfach eine Silbe hinzuzufügen, um auf elf zu kommen, zumal das Deutsche uns dazu einlädt, denn ein kleines Wort fehlt in meiner wörtlichen Übersetzung, das „da“: „Da preist man uns“, wobei „da“ einerseits auf die Mündlichkeit insistiert, als bloßes Füllwort am Satzbeginn, andererseits auch einen Akzent von Herablassung und Ironie hinzufügt, beinahe wie ein „Man preist uns das Leben großer Geister – dass ich nicht lache!“ Behalten wir uns diese Nuance für später vor und versuchen fürs erste, den Vers um eine Silbe zu verlängern, indem wir „da“ wörtlich durch „là“ ersetzen, oder besser noch, auf idiomatischere Weise, mehr im Tonfall Brechts (auch wenn es uns ein wenig vom Wortsinn entfernt), durch „v’là“ [Elision von „voilà“], und damit nebenbei eine hübsche Assonanz zu „vante“ herstellen:
V’là – qu’on – nous – van | te – la – vie – des – grands – es – prits.
1 2 3 4 1 2 3 4 5 6 7
Sieben! Erledigt, und weiter mit dem nächsten Vers..
Oder doch zu früh gejubelt? Genauer betrachtet haben wir hier ein typisches Beispiel für eine unharmonische Lösung, für die mir Maxime, Vincent und Alphonse, die musikalischen Architekten des Werkes, ordentlich eins auf die Finger geben würden. Alle natürlichen Betonungen (natürlich im Hinblick auf Rhythmus und Melodie des Lieds) befinden sich tatsächlich auf den falschen Silben, den falschen syntaktischen Elementen: auf Pronomen, Artikeln, Präpositionen („qu’on“, „la“, „des“) und, schlimmer noch, auf der ersten Silbe eines im Französischen endbetonten Substantivs, dem „es-“ von „esprit“. Auf schwachen, unbedeutenden Einheiten, für die eine Hervorhebung durch musikalische Skandierung folglich unpassend wäre.
Wir kommen auf das oben angesprochene Problem zurück: Für den Versschluss wäre es ideal, gemäß dem Modell der klassischen Melodie zwei Noten, zwei Silben mit betonter Pänultima zu haben – anders gesagt, einen femininen Reim..
Ich nehme das erste, das mir in den Sinn kommt: „On nous vante la vie des grands de ce monde.“ Das Bild verändert sich, der Sinn gleitet uns noch ein wenig mehr durch die Finger, aber trotzdem ist diese Wendung verführerisch und hat zudem den Vorteil, eine Elision von „de ce“ zu „d’ce“ anzubieten, die ebenfalls sehr im Geiste des Brechtschen Schandmauls ist.
On – nous – van – te | la – vie – des – grands – d’ce – mon – de.
1 2 3 4 | 1 2 3 4 5 6 7
Anscheinend kommen wir voran. Die Prosodie ist flüssig, der Vers bedeutungsvoll und bildhaft, und was am entscheidendsten ist: Er kann frei auf die Melodie von Weill gesungen werden, sowohl in punktierten Noten als auch fließender. Wenn wir aber den Vers auf Papier niederschreiben, wird uns nicht nur die Sinnverschiebung, das Zuvielübersetzte unverhohlen vor Augen geführt („de ce monde“ ist im deutschen Vers nicht einmal angedeutet), sondern wir sehen auch, dass die klassische, wohlgerundete Versform nicht respektiert wird:
On – nous – van – te – la – vie | des – grands – de – ce – monde.
1 2 3 4 5 6 | 1 2 3 4 5
Die Zäsur des Hemistichions befindet sich eigentlich nach der sechsten Silbe („vie“), nicht nach der vierten, und wenn der Vers nicht hoffnungslos hendekasyllabisch bleiben soll, müssen wir riskieren, „de ce“ mit der Elision „d’ce“ zu schreiben – in dem Wissen, dass Brecht mit Elisionen immer äußerst sparsam umgegangen ist.
Nun ja, Pech fürs Hemistichion, bekanntlich ist sein Platz im Laufe der Zeiten immer beweglicher geworden; und was die Metrik anbelangt, lässt sich freilich auch eine andere Lösung finden – beispielsweise:
On – nous – van – te – la – vie | de – ces – grands – sa - ges.
1 2 3 4 5 6 | 7 8 9 10 (11)
Ah, da haben wir’s: ein elfsilbiger Vers, der sich auch zehnsilbig lesen lässt (wenn das Wort „sages“ nur als eine Silbe gezählt wird), ohne unelegante Elision, mit weiblichem Endreim, und sein Sinn deutlich näher am Deutschen (ist der „Weise“ nicht ein naher Verwandter des „großen Geistes“?).
Behalten wir diese Lösung, bis wir eine bessere gefunden haben, und wenden wir uns, ermuntert über diesen ersten schlüssigen Entwurf, dem zweiten Vers zu.
Doch schlimmer noch: Wenn wir die Betonung harmonisch auf die letzte Silbe legen wollen, verschwindet das gesamte Repertoire der männlichen Reime in der Versenkung! Nur noch die auf einem stummen „e“ endenden Worte stehen uns zur Verfügung. Die Kombinationsmöglichkeiten schrumpfen also sichtlich zusammen, und wir werden uns verdammt abrackern und die Syntax gehörig durchwalken müssen, um zwei mal zwei weibliche Reime in Dialog miteinander zu bringen und dabei doch den Brechtschen Schwung zu bewahren.
Mais il y a plus grave : si l’on veut placer harmonieusement l’accent du chant sur la dernière syllabe, c’est tout le répertoire des rimes masculines qui passe à la trappe ! On n’a plus sous la main que les mots se terminant par des « e » muets. Les combinaisons se réduisent alors comme peau de chagrin, et il va falloir sacrément se démener, diablement triturer la syntaxe pour faire dialoguer deux fois deux rimes féminines tout en conservant la verve brechtienne.
So diktiert die Prosodie des Gesangs die Form des Gedichts. Die Regel ist aufgestellt, und wir werden an unseren Ambitionen auf eine perfekte Inkarnation des geschriebenen Textes Abstriche machen müssen.
Aber ist das nicht im Grunde beruhigend? Das bewahrt uns davor, die Dinge unnötig kompliziert zu machen. Die formale Vorgabe ist klar, unumgänglich, und wir werden die holprige Form unseres Gedichts auf dem Papier, diese verwässerten vier weiblichen Reime, immer mit dem Hinweis auf die Tyrannei des Gesangs rechtfertigen können. Außerdem halten die folgenden vier Verse ein wenig Trost für uns bereit: Sie enden alle, trocken und direkt, auf einer stumpfen Kadenz, dem Äquivalent unserer männlichen Reime. Man kann also, zumindest für diese Sequenz, mal eine männliche Silbe wählen (z.B. „esprit“, wie gerade eben), mal für eine weibliche Endung optieren, die man dann singt, indem man das „e“ stumm bleiben lässt (z.B. „monde“, ausgesprochen „mond‘“). So wird sich die Ausgewogenheit in der Ballade halbwegs wahren lassen.
Kehren wir zum zweiten Vers zurück. Den Beziehungen von Reim und Rhythmus, die er mit dem ersten Vers unterhält, muss gut nachgespürt werden, dann ist der Blick zu weiten auf die gesamte Strophe, um zu verstehen, wie sie zusammenwirkt und schwingt, ohne dabei je den Sinn aus den Augen zu verlieren. Von da an - - -
III. Ungehobelte Coda
Dienstag, 12. September 2023, 17:25
Teil 1 gelesen, OK, fehlt noch Ende Teil 2 und Übergang Teil 3, über die besonderen Schwierigkeiten bei der Moritat, die noch komplexer ist als die Ballade.
Ende Teil 2: Offen ist noch die Beschreibung der übrigen formalen Zwänge in der „Ballade vom angenehmen Leben“, die als beispielhaft für alle Lieder gelten kann, wobei natürlich jedes Lied seine eigenen Schwierigkeiten und Herausforderungen aufweist:
– nachdem das Problem der „gegensätzlichen“ Prosodien im Französischen und im Deutschen umrissen ist, genauer das Problem der gesungenen Prosodie beschreiben; der Text muss bei Beibehaltung der Bilder und des Tonfalls des Deutschen auch alle phonetischen, euphonischen Aspekte berücksichtigen; wenn das Deutsche offene Vokale singt, braucht man auch im Französischen vorzugsweise offene Vokale, und die harten Konsonanten müssen an ihrem Platz bleiben, usw.; Beispiel: „Anstatt-dass“ / „Au-lieu-de“ – mit der wörtlichen Übersetzung verliert man absolut ALLES: sowohl den Klang als auch das Bild als auch das Register (hier den Humor, das Lästernde, das Dreckige)
– sodann stellt sich ein weiteres Problem, das der musikalischen Begleitung, ob nun solo (an Klavier, Orgel, Harmonium) oder mit Orchester; es zeigt sich, dass bestimmte gesungene Partien sich sehr harmonisch an die Partien bestimmter Instrumente anschmiegen; Beispiel: I. Dreigroschen-Finale („Über die Unsicherheit menschlicher Verhältnisse“), Partie der Polly, ein einziger Vers, zu dessen Übersetzung ich mehrere Monate gebraucht habe, weil mein Text immer hoffnungslos legato blieb und der Gesang so der pointierten Klarinette nicht folgen konnte (falls ich keine Zeit zum Redigieren habe, einen Auszug aus dem Diktiergerät bringen)
– dann zum Problem der Intertextualität übergehen, dem Genre der von Brecht und Weill verulkten Lieder, der allgemeinen Färbung, dem „Uneinssein“ mit der Welt (wofür Josée Kamoun den schönen Begriff „discord“ verwendet) - wie lässt sich diese permanente Distanzhaltung auf allen Ebenen (Ironie über die Ironie einer Ironie) im Französischen spürbar machen? (Wie nur? KEINE AHNUNG.)
– abschließen mit Villon: Brecht speist in fünf seiner Songs mehrere Dutzend Verse ein, die er bei François Villon, einem französischen Dichter aus dem Spätmittelalter, stibitzt hat; er entnimmt diese Verse der ersten deutschen Übersetzung von K. L. Ammer (1907), verändert sie aber nach Gutdünken, verändert die wichtigsten Wörter, oft jene, die den Reim bilden; die intertextuelle Kette ist hier von fürchterlicher Komplexität; vom Villon-Abenteuer mit Jacqueline erzählen, seiner Übersetzerin in ein modernes Französisch, darüber, wie wir es angestellt haben, gemeinsam im Jahr 2023 das Villon-Französisch in einen zeitgenössischen Brecht zu injizieren
Dann zurück zur Moritat, die all diese Schwierigkeiten wie in einem Kristall bündelt und noch jene des falschen Gassenhauers hinzupackt, mit nicht einem, sondern ZWEI starken Akzenten in jedem Vers. Und einen Schluss finden. Man wird verstehen, was ich eingangs mit meinem „Und der Haifisch“ in Endlosschleife sagen wollte – und ebenso, dass diese Aufgabe weder ein Ende haben noch vollkommen zufriedenstellend bewältigt werden kann.
Frühjahr 2023
Die Moritat vom armen Übersetzer
Ich kann nicht mehr länger feilen
Länger feilen kann ich nicht
Dieses eine Mal erlaubt mir
Aufzuhören ohne Schliff.
25. Juni 2023, 15:20
Letztes Telefonat mit Vincent, der die Proben begleitet, wir ändern in letzter Minute und vollständig zwei Strophen der Moritat. Ich atme auf, I’ve killed my darlings (besser so) und werde noch genügend Zeit haben, sie auch in der Buchversion zu tilgen. Unendliche Erleichterung über die gerettete Übersetzungslösung: Wie kann man dieses beinahe körperliche Gefühl jemanden nachempfinden lassen, der nie übersetzt hat?)
Doch keine Sekunde später überkommt mich das alte Übel, ich kann nicht anders, als wieder auf die ersten Worte zurückzukommen, auf den reuh-quin, nochmals Vincent zu fragen: Bist du dir sicher, wirklich SICHER, dass das die richtige Lösung ist? Er beruhigt mich, mit jener Sanftheit, jener Geduld, die ich kennen und schätzen gelernt habe, jenem unendlich wohltuenden Lächeln in der Stimme, das er während all unserer Gespräche bewahrt hat, selbst wenn ich wieder und wieder ein bestimmtes Wort hervorgekramt habe, das wir schon zehn Mal geändert hatten. Aber er hat weiß Gott schon Schlimmeres erlebt, und er sagt mir, ohne Ernst, ohne Schwere, als sei es die einfachste Sache der Welt: Du wirst schon sehen, das klappt gut.
Dienstag, 4. Juli 2023
Aix-en-Provence, Théâtre de l’Archevêché,
21:59
Den ganzen Tag Magengrimmen, Kloß im Hals, Ohrensausen. Entdeckung, dass man wie bei einer Bühnenrolle auch bei einem Text Lampenfieber haben kann. Ich denke lieber nicht daran, was wohl gerade die Schauspieler·innen durchmachen.
Ich sehe die Gesichter, ohne sie zu sehen, höre nicht, was man mir sagt, lache hohl. Meine Augen werden wie magnetisch vom großen eisernen Vorhang angezogen, der seltsamerweise etwas Beruhigendes hat.
Der unermesslich weite Himmel über mir ist sternenübersät, doch ohne Mond. Mein Geist findet einen Moment Ruhe, ich vermeine dort oben das Defilee all der Monde zu erkennen, die mich geleitet und getröstet haben – Monde von Soho, von Saint-Jean, von Neukölln, feine Sicheln, auf den Wassern des Kanals gespiegelt -, all den Mondschein, der mir Hoffnung gegeben hat, dass der Text endlich Gestalt annimmt und seine wahre Stimme findet.
Brecht & Weill : L'opéra de quat'sous. Festival d'Aix-en-Provence 2023 (arte concert)
*
Bertolt Brecht, L’opéra de quat’sous, suivi du film de quat’sous et du procès de quat’sous, übersetzt von Alexandre Pateau, Vorwort von Jean-Louis Besson, L’Arche éditeur 2023, 288 S., 21 €.
Bertolt Brecht, L’opéra de quat’sous, suivi du film de quat’sous et du procès de quat’sous, hg. und übersetzt von Alexandre Pateau, Vorwort von Jean-Louis Besson, L’Arche éditeur, 2023.
Die neue Inszenierung von Thomas Ostermeier, präsentiert auf dem 75. Festival d’art lyrique in Aix-en-Provence mit der Truppe der Comédie-Française und den Musikern· des Ensemble Balcon unter Leitung von Maxime Pascal, wird vom 23. September bis 5. November im Pariser Salle Richelieu wiederaufgeführt. Laut den Aushängen sind die Vorführungen ausverkauft, es gibt jedoch immer Restkarten an der Abendkasse, eine Stunde vor Aufführungsbeginn.
Die vollständige Aufzeichnung der Songs, gesungen von den Schauspieler·innen der Comédie-Française, mit Brechts Originalansagen auf Französisch eingesprochen von Thomas Ostermeier, ist erhältlich als CD oder Doppel-LP bei Alpha Classics sowie auf allen Audio-Online-Plattformen.
Wer sich noch weiter vertiefen möchte, kann hier fündig werden:
„Quelle comédie!“, Saisoneinführung 2023-2024 an der Comédie-Française mit der Opéra de quat’sous:
*
Danksagung
Ich danke Aurélie Maurin und Solveig Bostelmann sehr herzlich dafür, dass sie diese Tagebuchfragmente auf den TOLEDO-Seiten aufgenommen haben. Ich möchte gern von der kostbaren Gestaltungsfreiheit profitieren, die mir gewährt wurde, um zwei knappe Danksagungen aus der Neuausgabe der Opéra de quat’sous hier noch etwas ausführlicher zu wiederholen.
Ohne die Unterstützung von Camille, meiner Partnerin und stets ersten Leserin, und unserer Tochter Léonce wäre es mir buchstäblich unmöglich gewesen, diese Arbeit zu Ende zu bringen. Ich danke ihnen aus tiefstem Herzen.
Ich habe diese Übersetzung Frank Heibert gewidmet. Ich möchte ihm hier noch ausdrücklicher meine Reverenz erweisen und zum Ausdruck bringen, wie sehr sein Werk nicht nur als Übersetzer, sondern auch als Wegweiser und Pädagoge, seine so großzügige Vermittlungstätigkeit (insbesondere als Mentor im Georges-Arthur-Goldschmidt-Programm) eine Inspirations- und Motivationsquelle für zahlreiche jüngere Kollegen· ist, die hart arbeiten, um ihren Traum zu verwirklichen und aus der literarischen Übersetzung einen Beruf im nobelsten Sinn des Wortes zu machen.
Und ich danke meinem Freund Till für seine wunderbare Übersetzung dieser Seiten ins Deutsche.