Journale Prosa „Die Zeichensetzung ist mein Atem im Satz“, und in der Übersetzung atme ich

„Die Zeichensetzung ist mein Atem im Satz“, und in der Übersetzung atme ich

Journal zur Übersetzung von Clarice Lispector: Wofür ich mein Leben gebe. Kolumnen 1946-1977

Dialog 1: Edition und Kooperation
Vorgeschichte 1: Wie eine literarische Autorin zur Kolumnistin wurde
Musik, Bilder und die Kulturszene von Rio oder: Was es nicht ins Buch schafft
Formalitäten
1. Vornamen, Siezen und Duzen
2. Pronomina, Genusmarkierungen
Vorgeschichte 2: wie ich nur kurzzeitig Übersetzer meines Leib-und-Magen-Autors wurde und dann auf lange Zeit der von Clarice Lispector
Klangfragen
Klang und Intuition oder: Wie Musik in Übersetzungen kommt
Dialog 2: Clarice und ein Kollege vom Sportteil
Technische Details
1. Sequentialität (und Wiederholungen)
2. Schlichtheit und Verknappung
3. Gerundien
4. Zeichensetzung und Atem
Übersetzung als iterativer Prozess
Epilog und Auftakt

„Merken Sie, wie unbekümmert ich schreibe?
Ohne viel Sinn, aber unbekümmert.
Wen schert schon der Sinn?
Der Sinn bin ich.“

Clarice Lispector, „Plötzliche Leichtigkeit“

„I still am working on fundamentals all the time.“
Pat Metheny (Interview mit Rick Beato, 2021)

Clarice Lispectors Statue am Felsen von Leme. Im Hintergrund der gleichnamige Strand, der in den von Copacabana übergeht. Foto: privat

Die brasilianische Autorin Clarice Lispector, deren Werk ich seit 2012 übersetze, wurde einem breiteren Publikum vor allem durch ihre wöchentlichen Kolumnen im Jornal do Brasil bekannt. Auf Deutsch war bisher – mit Ausnahme einiger weniger Kostproben im Schreibheft Nr. 81 (2013) – fast nichts davon zu lesen.

Von Lispectors im engeren Sinne literarischen Werken erschienen bei uns zuletzt die gesammelten Erzählungen (Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau sowie Aber es wird regnen, Penguin Hardcover 2019/20).

Ich habe bei anderer Gelegenheit im Online-Magazin Tell geschildert, was daran für mich als Leser so Besonderes ist; zum Übersetzen der Erzählungen steht einiges bei Tralalit. Haarscharfsinnige Blicke darauf wirft Teresa Präauer in ihrem Nachwort zum Auswahlband Ich und Jimmy: „Einen Eingang suchen und einen Ausgang finden“ (Manesse, München 2022) – einer der schönsten Zugänge zum Werk der Autorin, denen ich begegnet bin.

In diesem Journal möchte ich anhand von Clarice Lispectors crônicas – ihren literarischen Kolumnen – zentrale Fragen und Anregungen skizzieren, denen ich beim Übersetzen dieser Autorin begegne, etwa die Problematik der Abfolge ungewöhnlicher Gedanken und Wahrnehmungen, das Schreiben (und Übersetzen) am Klang entlang und die Erhaltung und Erschließung von Fremdem.

Daneben gebe ich anekdotische Einblicke ins übersetzerische Erleben der Arbeit und ihrer Randgebiete. Musikalische Einsprengsel sind in diesem Zusammenhang mehr als Lust und Tollerei: Wie in einem Abschnitt zu Musik und Intuition erklärt wird, speist sich daraus ein wesentlicher, wenn auch schwer greifbarer Aspekt der Übersetzungskunst.

Ein weiterer oft unbelichteter Faktor sind kooperative Elemente, Kollegenhilfe und der Austausch mit Lektorinnen (im Verlag und extern). Auch darauf werde ich näher eingehen.

TOLEDO-Journale sind ja weitgehend 'falsche Tagebücher': Sie erscheinen nicht fortlaufend, sondern zusammen mit dem Werk, von dessen Entstehung sie berichten – in diesem Fall stichwortartig und ideensammlerisch, ohne Datierung und Struktur.

Ausnahmen zur kopflosen Regel sind einige datierte Einträge, die selbst zwischen Tagebuch und Kolumne schweben. Wer sich vor allem für die hier üblichen Betrachtungen zum Übersetzen eines bestimmten Werks interessiert, mag diese persönlichen Passagen leichten Fußes überspringen.

Last, but not least montiere ich einige Sätze unkommentiert ein, die ich besonders mag oder lispector-typisch finde (und vielleicht ebenso wenig erklären will, wie man einen Witz erklärt).

„Die Frau seufzt. Das Mondlicht, so eine Gefahr. Ach.“

Clarice Lispector, Luis Ruby (Hrsg.): Wofür ich mein Leben gebe. Kolumnen 1946-1977. Penguin, 2023.

Dialog 1: Edition und Kooperation

Mit Wofür ich mein Leben gebe ist ein substantieller Teil von Clarice Lispectors kolumnistischem Werk erstmals auf Deutsch zu lesen. Freilich sollte sich unsere Ausgabe – so die Vorgabe des Verlags – auf ein gutes Drittel der Originalausgabe beschränken. Sie umfasst letztlich circa dreihundert Seiten.

Im Unterschied zum gewohnten Ablauf begann meine Arbeit an diesem Projekt daher nicht mit der Rohfassung, sondern bereits mit der Auswahl der Texte.

Dabei ging es neben der eigentlichen Auswahl auch um die Stimmigkeit der Zusammenstellung sowie um die Anordnung der ausgewählten Kolumnen. Mir wurde bald klar, dass die chronologische Folge wertvolle Informationen enthält – Einblicke ins Werden der Kolumnistin Lispector, von ihren frühen Versuchen noch aus den 40er Jahren über das sich Einfinden in eine stabile neue Rolle (jeden Samstag im JB) bis hin zur souveränen Handhabung dieses speziellen Sprechortes, bei sehr unterschiedlichen Themen und Stimmungen.

Die gesammelten Kolumnen beginnen also mit wenigen frühen Texten, die in der brasilianischen Gesamtausgabe wie ein anachronistischer Nachgedanke an den Schluss gestellt sind. Diese Anfänge mögen – in Ton und Genre – etwas Tastendes und Sprunghaftes haben. Aber man erlebt bei der Lektüre eben auch eine Entwicklung mit, biographische Anklänge eingeschlossen.

„Mama, ich hab grad ein Orkankind gesehen, aber das war noch ein Baby, ganz klitzeklein, das hat nur ganz leicht rumgeweht, nur so drei Blätter an der Ecke.“

Für die herausgeberischen Aspekte der Arbeit konnte ich mich immer wieder auf den Austausch mit der Lektorin Angelika Schedel stützen; während die Redaktion (wie schon bei den Erzählungen) in den Händen von Corinna Santa Cruz und Maria Hummitzsch lag. Der enge Dialog mit ihnen fand vor wenigen Wochen statt; die Fahnenkorrektur und Abstimmung letzter Details mit dem Lektorat liegt bei Abschluss des Journals (im Juni 2023) noch vor mir. Ich danke den dreien sehr für ihre Aufmerksamkeit, ihre Offenheit und ihre Ideen.

Vorgeschichte 1: Wie eine literarische Autorin zur Kolumnistin wurde

„Arbeiten, wie soll das gehen? Wozu an diesem Samstag, der reine Luft ist, nichts als Luft?“

Als Clarice Lispectors Kolumnen in den späten 60er Jahren wöchentlich in der Samstagsbeilage einer großen Zeitung, dem Jornal do Brasil, veröffentlicht werden, gelingt es der in literarischen Kreisen schon lange hochgeschätzten Autorin, eine Beziehung zu einem weiteren Lesepublikum aufzubauen.

Angedacht, ja angebahnt war das allerdings schon zu ihrer Zeit als Diplomatengattin und junge Mutter in Washington. Damals versuchte die junge Zeitschrift Manchete – „das brasilianische Gegenstück zu Paris Match oder Life“ –, Clarice als Kolumnistin zu gewinnen. Besonders ein mit ihr befreundeter Autor, Fernando Sabino, setzte sich dafür ein. In der Biographie von Benjamin Moser, der sich um die erneuerte internationale Lispector-Rezeption verdient gemacht hat wie kein Zweiter, liest man hierzu:

„Fernando wurde erneut als Clarices Impresario tätig und schlug in ihrem Namen vor, so etwas wie eine 'Mitteilung aus den USA' in die neue Zeitschrift aufzunehmen. Sein Einfall wurde bereitwillig aufgegriffen, stieß jedoch auf ein Hindernis, als Clarice verlangte, anonym zu bleiben. Sie regte an, [ihr früheres Pseudonym] Teresa Quadros wiederaufleben zu lassen, doch die Manchete-Redaktion war nicht einverstanden. Fernando und sie tauschten im Lauf des Jahres 1953 immer wieder Briefe zu dem Thema aus, wobei Fernando sensibel auf Clarices störrische Abwehrhaltung einging.

'Sie [Teresa] ist viel besser als ich, ganz ehrlich: Die Zeitschrift wäre mit ihr viel besser bedient – sie ist eifrig, weiblich, aktiv, sie hat keinen niedrigen Blutdruck, manchmal ist sie sogar feministisch, kurz, eine gute Journalistin.' Worauf Fernando erwiderte: 'Es ist mir unangenehm, den anderen mitzuteilen, dass Du nicht unterzeichnen willst. Aus zwei Gründen: erstens, weil ich weiß, dass sie – trotz des großen Respekts und der eindeutigen Wertschätzung, die sie für die charmante Tereza Quadros hegen – Deinen Namen haben wollen. So haben wir die Sache besprochen. Ich weiß nicht, ob Dir klar ist, dass Du einen Namen hast.' 'Dann möchte ich aber nur mit C. L. zeichnen', kam Clarice ihm etwas widerborstig entgegen. Fernando antwortete: 'Was die Leute interessiert, ist Clarice Lispector, zumindest eine Clarice Lispector, die Nachrichten liefert – selbst wenn sie mit C. L. unterzeichnet.'

Letztlich sollte Clarice tatsächlich für Manchete schreiben, wenn auch erst 1968.“1

Nicht nur Bücher haben also ihre Schicksale, sondern auch Kolumnen.

Musik, Bilder und die Kulturszene von Rio oder: Was es nicht ins Buch schafft

31. März 2022

An dem Tag, an dem ich anfange, Clarice Lispectors crônicas zu übersetzen, geht es spät an den Schreibtisch. Erstens ist morgens Brot zu backen; zweitens wären da die Rituale der Prokrastination oder Selbstbefreiung: eine Mail an die Hausverwaltung, eine Zugbuchung, eine Heimwerkerei im Bad, das alles zum Klang von Paul Wellers Live at the BBC und Live Wood.

Ja, schön, und weiter?

„Ich bin einfach glücklich, fünfhundert Mal in Folge 'A Banda'2 zu hören, und neulich habe ich mit einem meiner Söhne dazu getanzt.“

„Oi, Chico!“, 23. März 1968

Von den verschiedenen Kolumnen, in denen der Musiker Chico Buarque auftritt – oft in scherzhafter Schreibung ‚Xico Buark‘ –, wird es am Ende keine in die Auswahl schaffen. Aber es wäre eine Schande, nicht wenigstens dieses Porträt des großen brasilianischen Liedermachers zu übermitteln:

„Die Schreibweise Xico Buark hat Millôr Fernandes an einem Abend im Antônio’s erfunden. Das gefiel mir so, wie ich als Kind gerne mit Wörtern spielte. Was Chico angeht, der lächelte nur ein doppeltes Lächeln: eines, weil er den Einfall lustig fand, und ein anderes, mechanisches und betrübtes, das Lächeln dessen, den der Ruhm vernichtet hat. Xico Buark mag nicht recht zu Chicos reiner und etwas melancholischer Gestalt passen, aber es passt doch dazu, wie er sich von anderen rufen lässt und auch kommt, zu seiner Fähigkeit zu lächeln, wobei die grünen Augen häufig offen bleiben und ohne ein Lachen darin. Er ist keineswegs ein Bub, aber wenn es im Tierreich ein nachdenkliches und schönes und ewig junges Tier namens Bube gäbe, dann gehörte Francisco Buarque de Holanda zu einer Bergrasse der Buben.“

„Lucidez do absurdo“, Jornal do Brasil, 28. April 1973

Auch einiges andere von Wert ist im gedruckten Buch kaum vermittelbar. Mit den plurimedialen Möglichkeiten der Onlinewelt lässt sich zumindest andeuten, was die Kolumnen der Autorin und ihr persönliches Leben mit ausmachte.

Clarice Lispector begegnete im kulturell reichen, aber doch einigermaßen übersichtlichen Rio de Janeiro der 60er Jahre einer Vielzahl von Künstlerinnen und Künstlern, sammelte Gemälde, ging auf Ausstellungen, die sie gelegentlich in ihrer Kolumne besprach.

Zum Beispiel die Arbeiten der – wie die Autorin – ukrainischstämmigen Graphikerin Vera Bocayuva Mindlin, deren Kunst Clarice am 4. November 1972 im Jornal do Brasil als Spiegel beschrieb („Os espelhos de Vera Mindlin“): „Man muss die heftige Abwesenheit von Farbe in einem Spiegel verstehen, um ihn nachbilden zu können, so wie die heftige Abwesenheit von Geschmack in Wasser.“

Im Netz finde ich ein Bild aus einer Serie dieser Künstlerin, „Espelhos“ (Spiegel), datiert auf 1963. Demnach schreibt Clarice Lispector neun Jahre später über eine Arbeit, die sich in ihrem Besitz befindet. Oder sie nimmt einen älteren Text für ihre Kolumne her, was immer mal wieder vorkam.

Von einer Reise nach Brasilien bringe ich die Druckgraphik „Pássaros“ [Vögel] mit, eine fröhliche, wiewohl aufs Wesentliche reduzierte Komposition in Grün- und Brauntönen mit starker Symmetrie und Textur, allein durch die Doppelung der Vögel mit dem Spiegel-Thema verbunden:

©privat

Von all diesen lokalen Größen ist eine auch hierzulande kein Unbekannter. Und so bildet die Ausnahme zum Verzicht auf insiderhafte kulturelle Bezüge ein langes Gespräch unserer Autorin mit dem Komponisten und Pianisten António Carlos Jobim, das sie als dreiteiliges Interview kolumnisierte. (Nebenbei lässt sich ein auf Wikipedia gezeigtes Foto der beiden in diesem Zusammenhang zuordnen und auf 1961 datieren.

Clarice Lispector und Tom Jobim. Public domain / Arquivo Nacional Collection

Formalitäten

1. Vornamen, Siezen und Duzen

„Ich glaube, ich würde noch über das Problem der brasilianischen Überproduktion von Kaffee etwas Persönliches schreiben.“

„Diese Kolumnen […] waren gewissermaßen ein Vorläufer von Facebook. Clarice ‚postete‘ im Jornal do Brasil ja sehr persönliche Dinge, was damals nicht üblich war. In dem Sinn, glaube ich, war sie ihrer Zeit ein Stück voraus. Sie wusste nicht, was sie in der Kolumne schreiben sollte, brachte darin aber sehr persönliche Sätze, manchmal fast schon wie auf Twitter, in 140 Zeichen.“

Paulo Gurgel Valente, Clarices Sohn (2014 im Interview mit Eucanaã Ferraz und Elizama Almeida)

Persönliche Kolumnen – und Clarice Lispector kann ziemlich abstrakt sein, aber kaum unpersönlich – leben vom Kontakt zum Publikum. Und der läuft direkt über die Anredeform. Rasch stößt man daher auf eine grundlegende übersetzerische Entscheidung.

Duzen Persönlichkeiten aus der Kulturszene von Rio de Janeiro einander bei ihrer ersten Begegnung? Im Deutschland der 60er Jahre kaum denkbar, heute schon – sodass die Übersetzung dabei bleiben kann?

Unsere Kultur ist seit den Zeiten, da Studenten einander noch siezten, um einiges formloser geworden. Doch Brasilien funktionierte schon damals völlig anders, auch was das Siezen und Duzen betrifft.

Es geht in dieser Frage also nicht um zeitlichen, sondern um kulturellen Abstand. Zwei Linien sind denkbar (klassisch binär nach Schleiermacher): Soll eine junge Interviewerin, die zu unserer Autorin – einer Frau Mitte vierzig – nach Hause kommt, zum auf Deutsch erwartbaren Sie greifen? Und ihrerseits natürlich auch gesiezt werden? Im Original steht freilich nur ihr Vorname, Cristina. Frau Rodrigues oder Mendoça oder Gusmão mag sie geheißen haben, es ist nicht zu erfahren.

Oder muten wir der deutschen Leserin, nein: sprechen wir ihr zu, dass sie diese Fremdheit als solche erkennt, daran vielleicht sogar interessiert ist? Das hieße übermitteln, wie dort miteinander umgegangen wurde, nämlich fraglos per Du, Respekt anderweitig ausdrückend. Ist Letzteres dem Text zu entnehmen?

Und wie redet die Autorin ihr Publikum an? Mit „vocês“, der Mehrzahl der Du-Form você.

Plural-Duzen (ein ‚ihr‘ für Leute, die man im Singular nicht duzen würde) kennt man aus Süddeutschland. Aber diese dialektale Lösung gibt das Genre nicht her. Also ab in die Konvention („das werte Publikum“). Oder man verlagert Formlosigkeit in andere sprachliche Elemente als die Anrede: „Como estão vocês?“ – „Wie geht's denn so?“

Wenn man sich etwas besser kennt (und im Text drin ist), geht einem das Sie schon leichter über die Lippen:

„Darf ich meine Leser um etwas bitten? Senden Sie Fernando Bernardes Bücher aus zweiter Hand, damit machen Sie ihm eine Freude. Seine Adresse lautet: Rua Imarui, 124, Bangu. Danke.“

„Ein unerhörter Vorfall und eine Bitte“, S. 50

Der Datenschutz wäre dann wieder ein eigenes Thema – noch so etwas, das in den 60er Jahren weniger hoch gehängt wurde, zumal in Brasilien. Doch wir bleiben bei einer ähnlichen Problematik, nebenbei ein Beispiel für Kooperation und selbstverständliche Kollegialität:

2. Pronomina, Genusmarkierungen


In einer frühen Kolumne, „Ein Versuch zu fühlen“ (August 1962), wird ausgiebig das Pronomen nós verwendet. Dazu muss man wissen, dass romanische Sprachen häufig ohne Personalpronomen auskommen, da die Verbformen entsprechende Markierungen enthalten: Die erste Person Plural zeigt einem das wir in der Endung –mos.

Das Pronomen ist im Portugiesischen also auffällig, betonter als üblich. Und distanzierter als die nähesprachliche Wendung a gente, die gerne für eine Gruppe (oder ein Paar) unter Einschluss des Sprechers verwendet wird.

Kann man das übermitteln? Oder ist man darauf angewiesen, es in den Ton dieser Kolumne einfließen zu lassen, ihr Grundregister?

Erstmal stelle ich eine Frage in einer Mailingliste für Übersetzer Portugiesisch <-> Deutsch (gegründet nach der ersten ViceVersa-Werkstatt 2012): Was hat es aus Sicht der Muttersprachler mit nós auf sich?

Im Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen erfahre ich rasch etwas über die Geschichte des heute formlosen „a gente“ und dass es auch in Portugal üblich ist, nicht nur in Brasilien; sowie von weiteren umgangssprachlichen Alternativen, „o pessoal“, „a galera“ ...

Paulo Rêgo schickt aus Lissabon einen YouTube-Link, um eine weitere Möglichkeit zu illustrieren, wie man sich in Portugal auf eine Gruppe beziehen kann, zu der man aber nicht zwangsläufig gehört: „a malta“. So dass ich beiläufig einen berühmten Liedermacher kennenlerne, Zeca Afonso, über den sich auch noch einiges erzählen ließe …

Für die Übersetzung von nós ergibt sich daraus nicht ganz so viel. Aber weiß man das vorher?

Ablenkung und Mehrwert unterscheiden, so wichtig ;-) Im Ernst, sich bei der Recherche lustvoll zu verlaufen, ist Teil des Reizes an diesem Beruf.

Interkulturelle und historische Unterschiede, Nähe- und Distanzsprache tauchen wieder auf, wenn die Kolumnen sich dem Personal zuwenden – nicht o pessoal, sondern den Dienstboten – was nach Oberschicht klingt, in Brasilien aber viel weiter verbreitet ist – also den Hausangestellten. Außer, Clarice bezieht sich auf Jean Genets Stück, denn das heißt auf Deutsch nun einmal Die Zofen. Von schlechtem Gewissen getrieben und unter dem Eindruck des kürzlich gesehen Dramas schreibt sie:

„Und Hausangestellte zu haben, nennen wir sie doch endlich Dienstmädchen, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“

„Dies irae“, S. 47

Aber das hält nicht lange vor, der Alltag ist stärker und sie im Extremfall doch auch mal die „gnädige Frau“. Im Anschreiben eines Nachtwächters und Lesers wird die überzogene Förmlichkeit kommentiert, sodass man übersetzerisch relativ freie Hand hat:

„Ich habe einen Brief bekommen, sauber getippt, in gutem Portugiesisch und ohne Schnörkel, wenn auch allzu ehrerbietig: Ich werde durchgehend mit „hochverehrte Dame“ angesprochen.“

„Ein unerhörter Vorfall und eine Bitte“, S. 50

Besagtem Nachtwächter soll das geneigte Publikum gebrauchte Bücher schicken (siehe oben), angesprochen mit „die Leser“, „os leitores“: Hier wird im Original (1967) nicht gegendert, und die Übersetzung nimmt bewusst Abstand davon, die zeitliche und kulturelle Distanz zu kaschieren.

Dass auch Clarice Lispector solche Entscheidungen bewusst traf, erfahren wir wiederum in der Kolumne „Das fröhliche Interview“:

„Dann fragte sie, ob ich mich als brasilianische Autorin sehen würde oder einfach als Autorin. Ich antwortete, zunächst einmal könne eine Frau noch so weiblich sein, sie sei dennoch keine Autorin, sondern ein Autor. Schriftsteller haben kein Geschlecht, oder besser, sie haben deren zwei, in recht unterschiedlicher Dosierung, versteht sich.“

„Das fröhliche Interview“, S. 64ff, Zitat 67

Dieser Standpunkt mag veraltet erscheinen, er ist hier (in welchem Mischungsverhältnis auch immer) historische und persönliche Information und wird als solche wiedergegeben.

Entsprechende Passagen finden sich übrigens auch in narrativ angelegten Kolumnen (grammatikalische Markierungen von mir unterstrichen):

„Então – só o entendeu depois – pintou demais os olhos e demais a boca até que seu rosto parecia uma máscara: ela estava pondo sobre si mesma alguém outro: esse alguém era fantasticamente desinibido, era vaidoso, tinha orgulho de si mesmo. Esse alguém era exatamente o que ela não era. Mas na hora de sair de casa, fraquejou: não estaria exigindo demais de si mesma? Toda vestida, com uma máscara de pintura no rosto – ah persona, como não te usar e enfim ser! –, sem coragem, sentou-se na poltrona de sua sala tão conhecida e seu coração pedia para ela não ir.“ (160)

Das heißt dann auf Deutsch:

„Dann – das begriff sie erst später – schminkte sie sich übertrieben die Augen und übertrieben den Mund, bis ihr Gesicht einer Maske glich: Sie war dabei, sich jemand anderen überzustülpen: Dieser Jemand war phantastisch ungezwungen, war eitel und stolz auf sich. Dieser Jemand war genau, was sie nicht war. Aber als es Zeit wurde, das Haus zu verlassen, befielen sie Zweifel: Verlangte sie nicht zu viel von sich? In Schale geworfen, mit einer Maske aus Schminke im Gesicht – ach, persona, wie ohne dich auskommen und endlich sein! –, mutlos setzte sie sich in ihren Wohnzimmersessel, Sessel und Raum so vertraut, und ihr Herz bat sie, nicht hinzugehen.“

„Die Mutprobe“, 26. Oktober 1968, S. 135ff, Zitat 136

Das Portugiesische markiert das Geschlecht seltener als das Deutsche mit Personalpronomina und gar nicht in den Possessiva, dafür aber zwingend in Adjektiven. Das Demonstrativpronomen markiert in beiden Sprachen das Geschlecht. All diese Elemente treten in der zitierten Passage auf; wollte die Autorin statt des generischen Maskulinums („esse alguem“) die Protagonistin als Frau markieren oder jedenfalls keinen Kontrast schaffen, so könnte sie zum Beispiel von essa pessoa sprechen.

Gerade die nachfolgenden Adjektive mit ihrer männlichen Endung sind so markant, dass man wohl eher von einer Entscheidung als einem Automatismus ausgehen darf. So oder so lässt es sich auf Deutsch analog handhaben, wenn auch mit anderen Mitteln, wie eben skizziert und durch Unterstreichung hervorgehoben.

Und überhaupt konnte die Autorin auch ganz anders.

Allmählich sahen sie das Sie-er, und sobald das Er-sie vor ihnen in der Helligkeit erschien, die vor ihr-ihm ausstrahlte, sagten sie, gelähmt wohl von dem, was Schön ist: 'Ah, Ah.'
[...] Die Latenz pulsierte leicht, rhythmisch, ununterbrochen. Alle waren latent alles."

„Wo wart ihr in der Nacht“, in: Aber es wird regnen, a.a.O., S. 98ff (Zitate 99, 101)

Vorgeschichte 2: wie ich nur kurzzeitig Übersetzer meines Leib-und-Magen-Autors wurde und dann auf lange Zeit der von Clarice Lispector

12. September 2022

Gestern – am 11. September – starb in Madrid der große spanische Schriftsteller Javier Marías.

Als ich Anfang der 90er Jahre an der Universität Heidelberg studierte, ließ uns der Romanist Gerhard Frey in einem seiner Übersetzungskurse an Textstellen aus El hombre sentimental knobeln, Marías' Roman von 1986, der hierzulande ohne größeres Aufsehen unter dem Titel Der Gefühlsmensch erschienen war (übersetzt von Elke Wehr, Piper 1992). Erst Jahre später sollte der Autor mit Mein Herz so weiß ein weites Publikum erreichen, auch dank seltener, geradezu hymnischer Einigkeit im Literarischen Quartett. Wann sonst hätte man von Reich-Ranicki einen so konzilianten, ja harmoniestiftenden Satz gehört: „Es spricht nicht gegen den Roman, ganz umgekehrt [sic], dass Ihnen ganz andere Elemente, Szenen auffallen als mir.“

Ich erzähle das aus zwei Gründen. Der erste ist, dass ich Marías' Bücher nach jener ersten Begegnung in einem Heidelberger Sommersemester ausgiebig und intensiv gelesen habe. Diese Lektüren haben mich sehr bereichert und wirken bis heute nach. Bei einem Autor, zu dessen zentralen Themen das Erinnern zählt, werde ich mir dafür Zeit nehmen und meine Dankbarkeit vielleicht irgendwann anders ausdrücken können.

Der zweite Grund ist – eine Erinnerung. Salamanca, Februar 1995: kalte Luft, leuchtender Sandstein, ein blauer Himmel ohne nördliche Blässe, maximaler Kontrast zu spätjugendlicher Melancholie. Ich sitze in einer Institutsbibliothek am Rande der Altstadt und versuche, den Anfang von Corazón tan blanco zu übersetzen.

Weit davon entfernt, über das Übersetzen als Beruf nachzudenken, biss ich mir an der hochkomplexen Syntax, der präzise ausschweifenden, Möglichkeiten auffächernden Semantik sämtliche translatorischen Milchzähne aus. Dafür erhielt ich eine Ahnung davon, wie wach einen diese spezielle Art des Lesens und Wiederlesens machen kann. Wie glücklich!?

Fünfzehn Jahre später sollte ich Gelegenheit bekommen, etwa fünfhundert Seiten Marías zu übersetzen, das Ende der Trilogie Dein Gesicht morgen, deren deutsche Fassung Elke Wehr nicht mehr hatte vollenden können. Anschließend wechselte der Autor zu einem Verlag, für den ich (noch) nicht arbeitete, womit meine kurze Phase als ‚echter‘ Marías-Übersetzer schon wieder beendet war.

You win some, you lose some, oder umgekehrt: Kurz darauf fragte mich die Lektorin Corinna Santa Cruz, ob ich einen Roman von Clarice Lispector übersetzen würde, den der Schöffling Verlag erstmals auf Deutsch herausbringen wollte: O lustre, der schließlich unter dem Titel Der Lüster erschien. Mit der Arbeit daran begannen wiederum einzigartig intensive Leseerfahrungen über ein ganzes Werk hin, auch sie wirken bis heute fort, nun allerdings dauerhaft im Modus des Übersetzens.

Auf den ersten Blick verbindet wenig diese zwei für mich fundamentalen Autoren. Auf den zweiten vielleicht Eigen-Sinn und daraus entstehende lexikalische Präzision; eine Unbedingtheit des Interesses und die damit einhergehende (auch) sprachliche Kompromisslosigkeit; und nicht zuletzt ein aus der Lektüre von Lyrik gespeistes Gefühl für

Klangfragen

„Wem werde ich meinen Tod schenken? Der so sein wird wie die ersten frischen Hitzestrahlen einer neuen Jahreszeit. Ah, wie lässt sich Schmerz doch besser ertragen und verstehen als dieses Versprechen von kühler, flüssiger Frühlingsfreude.“

„Frühling, der Schreibmaschine nach“, S. 44, Zitat S. 45

In der wohl autobiographischen Kolumne „Banhos de mar“ erinnert sich Clarice Lispector, wie sie als Kind morgendlichen Seebädern entgegenfieberte. Der abendliche Gedanke an deren Wiederholung machte sie „séria de tanta ventura e aventura“.

Dieses ventura ist ein ungewöhnliches Wort, auch bei Clarice Lispector, die Glück in der Regel felicidade nennt, in bestimmten Kontexten auch beatitude verwendet (ebenso konstant in der Übersetzung: Seligkeit). Hier scheint die Nachbarschaft von „ventura“ und „aventura“ eine entscheidende Rolle zu spielen. So heißt es nun auf Deutsch, nach etlichen Durchgangsstadien:

„Und wenn mir einfiel, dass sich am nächsten Tag das Meer für mich wiederholen würde, wurde ich ganz ernst vor seligem Feuer und Abenteuer.“

„Seebäder“, S. 158ff, Zitat S. 160

Das am 2. Februar 1947 als Kolumne publizierte Gedicht „Der Junge“ ist Keim der späteren Erzählung (oder des Prosagedichts) „Da will ich hin“ (enthalten im zweiten Band der gesammelten Erzählungen, Aber es wird regnen). Dessen Titel, ein dreimal wiederkehrender Vers aus dem Gedicht, muss erhalten bleiben; er ist mit anderen Vers-Enden durch Reim verbunden. Will man die Reime nicht ignorieren, gerät man dadurch in ein relativ enges Spiel. Hier ein paar Etappen, auch freiere Experimente, und das Endresultat:

Parece a história de um menino
Que foi e não voltou
É para lá que eu vou

Wie in der Geschichte des Jungen,
Der fortging und nicht wiederkam. [wörtlich]
Da will ich hin.

Wie in der Geschichte des Jungen,
Der fortging, der ich bin?
Da will ich hin.

Wie in der Geschichte des Jungen,
Der ging, mit welchem Sinn?
Da will ich hin.

Wie in der Geschichte des Jungen,
Der blieb, wohin er ging.
Da will ich hin.

„Der Junge“, S. 19

Die Kolumne, aus der die folgende Passage stammt, dürfte dem heutigen Zeitgeist Anlass zu Kolonialismus-Reflexionen geben, angefangen mit dem Titel „Schwarze Rehe“. Aber ich übersetze Sprache zwar mit einem offenen Ohr für Ober- und Untertöne, aber doch so, wie ich sie vorfinde. Interpretieren und streiten mögen die Leser, auch genießen. Und das alles können sie am besten, wenn sie übermittelt bekommen, was da in seiner eigenen Zeit steht:

„Eine, deren Sohn ich tätschle, sagt: „Baby nice, baby cry money“ – und ihre Stimme ist so melodisch, dass es sich anhört, als würde sie einen Krug mit Wasser füllen. Captain Young gibt ihr einen Nickel. „Baby cry big big money“, beschwert sie sich und neigt den Krug mit ihrer Stimme voller Lachen. Sie lachen alle viel, selbst die mit melancholischen Gesichtern. Man hört darin keinerlei Häme oder Machtgier: Das Lachen ist eine Mischung aus Faszination, dem Wunsch zu gefallen, Bescheidenheit, Neugier und Freude. Eine der Frauen sieht mich aufmerksam an, ich werde fast verlegen. Da sprudelt sie plötzlich einen langen, langen Satz hervor, eine hitzige Rede ohne Wut, in der ich kein r und kein s erkenne, nur Variationen auf der l-Skala, wellige Litanei.  Ich wende mich an den Dolmetscher. Der fasst kurz und knapp zusammen: „She likes you.“ Dann bricht eine weitere Litanei aus der jungen Frau hervor, die diesmal gleich mehrere Krüge mit singendem Regen füllt.“

„Schwarze Rehe“, S. 165

Mein Augenmerk in dieser Passage galt den Alliterationen (vor allem auf 'l'), Kadenzen wie von fallendem Wasser, entsprechend der Bildlichkeit im Text.

Klang und Intuition oder: Wie Musik in Übersetzungen kommt

“Kind of oddly, all of this centers around time. Which is: however you get to a note, it's when you get to the note that is really the thing. And in my case, I spend a lot of time thinking about where in the beat it's gonna fall.”
Pat Metheny (Interview mit Rick Beato, 2021)

Ich habe seit früher Jugend viel Jazz gehört, später alles Mögliche andere, auch ausgiebig brasilianische Populärmusik. Was Pat Metheny 2021 in seinem Interview mit Rick Beato sagt, mag Erfahrungen veranschaulichen, die in ein generelles Gefühl für Timing eingesickert sind (zusammen mit anderen, aktiveren etwa im Sport). Das wiederum spielt, wie ich glaube, beim Übersetzen eine hintergründige, aber ganz wesentliche Rolle.

Einen unmittelbaren Eindruck davon bekommt, wer auf den Link zum Zitat klickt und hört, wie Metheny im Anschluss daran das Spielen einer einzelnen Note auf seiner Gitarre variiert, während er weiterspricht. Diese anderthalb Minuten (1:43:15 bis 1:44:47) enthalten aufs Simpelste verdichtete Information darüber, wie Rhythmus und Timing funktionieren – und ein bewusster Umgang damit.

Auf vergleichbare Weise lese ich Originale laut, zum Fördern meines Gefühls für ihre Klanglichkeit, und ebenso meine eigene Version, zumal zum Ende der Arbeit hin. Schärfe das Timing, schärfe die Umsetzung.

Natürlich ist es auch wünschenswert, Rhythmik, Phrasierung, Akzentuierung beschreiben zu können und sich damit bewusst zu beschäftigen, etwa in metrischen Begriffen. Ich sehe das als intellektuelle Annäherung, die dazu dient, die Intuition zu fördern und ihr Willkür zu entziehen. Bevor man wieder darauf vertraut und letztlich auch körperlich etwas daraus macht.

Dialog 2: Clarice und ein Kollege vom Sportteil

9. Dezember 2022

Was hätte Armando Nogueira zum heutigen Ausscheiden Brasiliens im WM-Viertelfinale geschrieben?
Eines scheint mir sicher: Er hätte Verständnis für die Spieler gehabt, die ihren Elfmeter verschossen haben.

Bitte, wer?

Am 30. März 1968 veröffentlicht Clarice Lispector im Jornal do Brasil die Kolumne „Armando Nogueira, der Fußball und ich Ärmste“. Ihr genannter Kollege, ein bedeutender Sportjournalist und Kolumnist bei derselben Zeitung, hatte sie aufgefordert, doch einmal über Fußball zu schreiben. Dem kommt sie nun nach und retourniert die Herausforderung auf ihre Art: „Schreib etwas über das Leben, über das, was Du im Leben bedeuten würdest.“

Nebenbei gesagt, ist das natürlich kein normales Deutsch, so wie es auch kein normales Portugiesisch ist („o que você significaria na vida“). Zum Vergleich: Die aktuelle englische Ausgabe entscheidet sich für eine glattere, interpretierende Lösung. „Write about life, and what matters to you in life“ (Too much of life, übersetzt von Margaret Jull Costa und Robin Patterson, New Directions 2022, S. 97).

In Clarices Instruktionen an Nogueira heißt es weiter:

„Du darfst diese Kolumne, um die ich Dich bitte, gern durch die Fußballtür betreten: Das könnte es Dir erleichtern, die Scham abzulegen und unverblümt zu sprechen. Und noch eine weitere Erleichterung: Ich lasse Dich eine ganze Kolumne darüber schreiben, was Fußball für Dich persönlich bedeutet, und nicht nur als Sport: Daraus dürfte sich am Ende ergeben, was Du in Bezug auf das Leben empfindest.“

„Armando Nogueira, der Fußball und ich Ärmste“, S. 90ff, Zitat 94

Das Verb significar taucht hier also wieder auf, „bedeuten“ eben auch. Die englische Übersetzung berücksichtigt die Wiederholung ebenfalls: „I will allow you to write an entire column about what soccer means to you personally, and not just as a sport, which would end up revealing how you feel about life.“

Und ich bin froh, Nogueiras melancholisch funkelnde Antwort-Kolumne in die deutsche Ausgabe ‚geschmuggelt‘ zu haben (Im Sechzehner, 8. April 1968) – im Unterschied zur Originalausgabe und mutmaßlich zu den Übersetzungen in andere Sprachen.

Technische Details

1. Sequentialität (und Wiederholungen)


Beim Übersetzen ungewöhnlicher Gedanken und Bilder kommt es häufig aufs Nacheinander an:

„As rosas silvestres têm um mistério dos mais estranhos e delicados“, in natürlicher deutscher Syntax etwa: „Wildrosen haben eines der merkwürdigsten und zartesten Rätsel.“ Aber so hinge man in der Luft, wie man es im Original nicht tut, das einem ganz natürlich das Rätsel hinhält, um es anschließend zu qualifizieren. Also (Übergangsversion): „Wildrosen haben ein Rätsel, das zu den merkwürdigsten und zartesten gehört.“

Das freilich geht weniger umständlich, vielleicht eleganter und stimmiger (Schlussfassung):

„Wildrosen bergen eines der merkwürdigsten und zartesten Geheimnisse überhaupt.“

„Wildrosen“, S. 105

Auch auf dieses Thema pendelt sich die Intuition allmählich ein, oder vielleicht liegt es auch an der prinzipiellen Stimmigkeit des Originals – jedenfalls merke ich beim Überarbeiten immer wieder, wie Stellen, an denen ich (in meiner Version) stutze, von der Rückkehr zur Abfolge des Originals profitieren. Auch in relativ trivialen Fällen:

„Aber jede Nacht schließen sich, sobald er einschläft, neue stille Gesichter den bisherigen an.“

(vorletzte Version)

„Aber jede Nacht, sobald er einschläft, schließen sich neue stille Gesichter den bisherigen an.“

„Skizze vom Schlaf des Führers“, S. 174

(Im Original: „Mas cada noite, mal adormece, mais caras quietas vão-se reunindo às outras.“)

Die standardmäßige Stellung von Adjektiven nach dem Substantiv in romanischen Sprachen lässt sich auf verschiedene Weise auf Deutsch in der Originalabfolge halten. Die vermutlich auffälligste Technik dazu ist der Relativsatz:

„Domingo ia ser sempre aquela noite imensa e meditativa que gerou todos os futuros domingos e gerou navios cargueiros e gerou água oleosa e gerou leite com espuma e gerou a Lua e gerou a sombra gigantesca de uma  árvore apenas pequena e frágil. Como eu.“ (394)

„Sonntag würde für immer diese endlose, gedankenvolle Nacht sein, die alle künftigen Sonntage zeugte, und sie zeugte auch Frachtschiffe und zeugte öliges Wasser und zeugte Milch mit Schaum und zeugte den Mond und zeugte den riesenhaften Schatten eines Baums, der allenfalls klein und zerbrechlich war. Wie ich.“

„Der Familienausflug“, S. 230f, Zitat 231

Nebenbei bekommt dieser Satz Kraft und Halt durch die Wiederholung des Verbs „gerou“ („zeugte“) – ein Fall, in dem es keiner besonderen Aufmerksamkeit bedarf, um Wiederholungen zu bemerken und zu beachten. In vielen anderen Fällen ist das weniger offensichtlich, und ich halte es in gut gearbeiteten Texten für eine zentrale Dimension, die Übersetzungen, wie es nur geht, erhalten müssen.

(Unser Bildungssystem täte gut daran, den Leuten unnötige, unbeabsichtigte und misslungene Wiederholungen auszureden, anstatt sie grundsätzlich dagegen zu indoktrinieren, wie man von Schülern oder Nachwuchsübersetzerinnen noch immer hört.)

Ein letztes Beispiel dieser immer wieder geübten Rückkehr zur Reihenfolge des Originals im letzten Überarbeitungsgang: „Suponhamos que eu finalmente esteja sorrindo logo hoje que não é día de eu sorrir.“

Von der vorletzten Fassung zur Endversion sieht das so aus:

„Nehmen wir an, dass ausgerechnet heute, da für mich kein Tag zum Lächeln ist, ich jetzt endlich lächeln würde.“

„Nehmen wir an, dass ich jetzt endlich lächeln würde, ausgerechnet heute, da für mich kein Tag zum Lächeln ist.“

„Nehmen wir an (und es stimmt nicht)“, S. 277

Intermezzo: Recherchewege und -abwege


Seekur“, heißt das so?

Googles Antwort ist durchaus informativ: einige Treffer zu ‚Seegurken‘.

Als ich jedoch auf meiner tatsächlichen Suche bestehe, erfahre ich Bahnbrechendes: „Seekur is a large, all-weather robot that can traverse rugged terrain.“

Im Text „Bäder im Meer“ heißt es schließlich, nach einer letzten Nachfrage aus dem Lektorat, „Seebadekur“.

2. Schlichtheit und Verknappung


Ich fahre mit Beispielen aus der letzten Überarbeitungsphase fort, an denen sich Tendenzen und Prinzipien veranschaulichen lassen. Zunächst mal ein paar einfache, ja banale Fälle:

„Wir unterhielten uns bis sechs Uhr in der Früh.“

> „Wir unterhielten uns bis sechs Uhr früh.“

„Plaudereien“, S. 128ff , Zitat 129

„Wir hielten uns nicht lange auf. Die Sonne war schon ganz aufgegangen“

> „Wir blieben nicht lange. Die Sonne war schon ganz aufgegangen“

„Seebäder“, S. 158ff, Zitat 160

„Mitten im Gespräch unterbrechen sie sich, sagen vorsichtig und freudig: Hello – lauschen auf den Nachhall dessen, was sie gesagt haben, lachen dann und sprechen weiter.“

> „Mitten im Gespräch unterbrechen sie sich, sagen vorsichtig und freudig: Hello – lauschen dem nach, was sie gesagt haben, lachen und sprechen weiter.“

„Schwarze Rehe“, S. 165

Über eine ganze Passage können solche Verknappungen den Text erheblich kürzer machen:

„Aninha ist eine schweigsame Frau aus dem Bundesstaat Minas Gerais und als Haushälterin bei mir tätig. Wenn sie einmal spricht, kommt diese gedämpfte Stimme.“

> „Aninha ist eine stille Frau aus Minas und als Hausmädchen bei mir. Und wenn sie spricht, kommt diese gedämpfte Stimme.“

Die Schweigsame aus Minas“, S. 51

Von 156 Zeichen bleiben nach einigen Durchgangsstadien noch 117, also fast ein Drittel weniger. Inhaltlich gründet dieses Resultat zu einem Gutteil auf dem Verzicht auf erklärende Elemente. In dieser Hinsicht ließen sich gewiss andere Schwerpunkte setzen. Das betrifft dann allerdings die Übersetzung im Ganzen und lässt sich an einer einzelnen Passage außerhalb ihres Kontexts kaum erwägen. (Bei der Schlussredaktion kommt an dieser Stelle der Wunsch nach einer Fußnote zu „Minas“ auf.)

Meine Lieblingsänderung ist hier die Reduktion von „schweigsam“ zu „still“. Das ist nicht nur kürzer, sondern meinem Eindruck nach auch präziser (im Sinn der beschriebenen Person) und kraftvoller.

3. Gerundien


Dem Deutschen fehlen Verlaufsformen, während romanische Sprachen mit dem Gerund gesegnet sind, das Englische bekanntlich mit der progressive form (die Problematik betrifft damit einen Großteil der auf Deutsch publizierten Übersetzungen, wenn auch manche mehr als andere – Elmore Leonards Kunst der Verlaufsform zum Beispiel dürfte im Deutschen auf schier unüberwindliche praktische Hürden stoßen, oder eher auf  eine klaffende grammatikalische Lücke).

Das Thema ist zu groß für dieses Journal. Ich beschränke mich darauf, zwei Beispiele für Clarice Lispectors charakteristisches Dehnen der Möglichkeiten ihrer Sprache zu geben.

„Ich wünschte, das Portugiesische würde in meinen Händen höchste Höhen erreichen.“

Beide stammen aus dem Redaktionsprozess, die Lösung des ersten entstand im abschließenden Telefonat:

„Aber innerhalb des großen, umfassenden Wartens, in dem man so vor sich hin sein konnte [Lektoratsanmerkung mit Original: „que era o modo de se estar sendo“], bat ich um eine Atempause. Diese Augustsommernacht war aus dem feinsten, für immer unzerstörbaren Stoff gewoben, so vor sich hin zu warten [„de se estar esperando“].“

Übergangsversion / Diskussionsgrundlage:

„Aber innerhalb des umfassenden Wartens, denn das war die Art, wie man sich dem Sein widmen konnte, bat ich um eine Atempause. Diese Augustsommernacht war aus dem feinsten, für immer unzerstörbaren Stoff gewoben, der darin bestand, / dem Stoff, sich dem Warten zu widmen.“

Endfassung:

„Aber innerhalb des umfassenden Wartens, denn das war die Art, wie man sich dem Sein widmen konnte, bat ich um eine Atempause. Diese Augustsommernacht war aus dem feinsten Stoff gewoben, dem für immer unzerstörbaren Stoff des Wartens.“

„Erinnerung an einen schwierigen Sommer“, S. 28ff. Zitat 29

Die Wiederholungsstruktur ist nun ein wenig verlagert, weicht den Gerundien aus und erfasst stattdessen das substantivierte Verb Warten. Der Satz ist dafür straffer, vielleicht eleganter.

“eu não queria só ter um passado: queria sempre estar tendo um presente, e alguma partezinha de futuro.” (92)

„[Nicht nur in Sachen Fußball, sondern noch in vielen anderen Dingen] hätte ich nämlich gern mehr als nur eine Vergangenheit: Ich hätte gern fortlaufend eine Gegenwart und ein kleines Stückchen Zukunft.“

Die Redaktion schlägt vor, „fortlaufend“ zu „immer“ zu ändern, und regt damit folgende Endfassung an:

„Ich hätte gern immer weiter eine Gegenwart, und ein klitzekleines Stück Zukunft.“

„Armando Nogueira, der Fußball und ich Ärmste“, S. 90ff, Zitat 93

4. Zeichensetzung und Atem

„Nehmen wir an, eine hübsche Blume genügte, um mich zu erleuchten, was nicht zutrifft.“

Nebenbei findet im letztgenannten Beispiel ein Komma seinen Weg in den deutschen Text, das sich grammatikalisch kaum erklären ließe. Es hängt damit zusammen, und ich zitiere hier die Autorin, „[...] wie wichtig mir zum Beispiel Punkte und Kommata sind. Wie gesagt, die Zeichensetzung ist mein Atem im Satz.“ („Meine Sekretärin“, S. 145, Zitat 147)

Wer eine Weile übersetzt hat, weiß zumindest praktisch, dass Satzzeichen kein fester Teil einer Form sind. In Ausnahmefällen kann das anders sein, etwa wenn das Original auf Satzzeichen ganz verzichtet. Der Normalfall jedoch ist, dass Konventionen einer anderen Sprache und Zeit durch die der eigenen substituiert werden.

Nun weist Clarice Lispector explizit darauf hin, dass ihr dieses Thema sehr am Herzen liegt. In gewisser Weise kann ich es mir einfach machen und sagen: Kein Problem, mir auch. Und in der Übersetzung atme ich. Aber was ist dann mit ihr? Zumindest höre ich sie sagen, dass in ihrer Literatur bewusst geatmet wird. Was dann auch in meiner Übersetzung so sein soll und darf. Wenn es gut geht, ist da am Ende wieder ein natürlicher Atem, der wichtiger ist als Konventionen; allerdings auf meine Weise, die sich aus der Bewegung des Deutschen speist – und aus dem Fortgang des Originals.

Übersetzung als iterativer Prozess

Mit all diesen Beispielen geht es mir auch darum zu zeigen, dass die Übersetzung anspruchsvoller Texte ein langer Weg in mehreren Durchläufen ist, oder etwas geschraubt, aber prägnanter: ein iterativer Prozess.

Geist und Seele sind von Anfang an mit komplexen und ineinander verwobenen Fragen beschäftigt, mit bewussten und unbewussten Anteilen, und wie im hermeneutischen Zirkel ein Erkennen sich entwickeln kann, so können auch Lösungen reifen, für die man nicht von vornherein oder in einem Zug bereit ist.

Ein Sonderfall war in diesem konkreten Projekt die Überarbeitung der wenigen im Schreibheft erschienenen Kolumnen (bzw. meiner Übersetzungen davon). Ich konnte mit seither geschärften Kriterien und (weiter)entwickelten Mitteln ans Werk gehen, etwa bei der Bewahrung der Wortstellung des Originals, dem Verzicht auf Glättung, der Suche nach Einfachheit/Direktheit, dem konsequenten Umgang mit Wiederholungen.

Am Anfang der Kolumne „Seebäder“ (damals noch: „Bäder im Meer“) erscheint der Satz:

“Como explicar o que eu sentia de presente inaudito em sair de casa de madrugada e pegar o bonde que nos levaria para Olinda ainda na escuridão?”

Meine Übersetzung im Schreibheft Nr. 81 (2013) lautet folgendermaßen:

„Wie soll ich erklären, was für ein unerhörtes Geschenk es war, wenn wir frühmorgens das Haus verließen und in die leere Straßenbahn stiegen, die uns noch bei Dunkelheit nach Olinda brachte?“

Mit zehn Jahren Abstand zur deutschen Erstveröffentlichung gehe ich an diesen Satz nochmal ran, und so heißt es nun in Wofür ich mein Leben gebe:

„Wie soll ich erklären, was ich fühlte, etwas von einem unerhörten Geschenk, frühmorgens das Haus zu verlassen und in die leere Straßenbahn zu steigen, die uns nach Olinda bringen würde, noch bei Dunkelheit?“

Seebäder, S. 158

Die Perspektive ist damit näher an der mutmaßlich autobiographischen Figur der Erzählerin. Und man geht den Gang ihres Erlebens mit: Die Wahrnehmung der Dunkelheit kommt am Schluss.

Hoffentlich ist in der Darstellung von Varianten und Erwägungen auch erkennbar, dass einiges hätte anders ausfallen können, wenn auch nicht beliebig anders. (Stil heißt: nicht irgendwie.) Übersetzen ist als Kunst des Entscheidens von subjektiven Neigungen durchzogen; Konsistenz dabei in der Regel eine Tugend; Ausnahmen an den Originaltexten zu messen.

Falls irgendjemand das alles gelesen hat: Danke :-)

 

Epilog und Auftakt

Rio de Janeiro, April 2023

Die Mutter einer Freundin, die mir vor dreißig Jahren erste Brücken nach Brasilien baute (diesmal haben wir uns in São Paulo gesehen), empfängt mich in Rio. Und bringt mich zum Felsen von Leme, wo eine Statue meine Autorin ehrt, an ihrer Seite der Hund Ulysses.

Mich daneben mit seinem Artgenossen Reno zu fotografieren, ist ein so charmanter wie beiläufiger Spaß.

Aber Brasilien bleibt auch beim fünften Kontakt ein Herzensort, einige Kreise schließen sich – und bleiben offen. Clarice Lispector hätte ich ohne die Menschen, die mich mit diesem Land verbinden, nicht übersetzt. Luftwurzeln wären mir auch keine gewachsen. Nunca sem vocês.

©privat

„Anschließend machte ich mich daran, eine kleine Liste der Gefühle zu erstellen, deren Namen ich nicht kenne. Wenn ich ein liebevolles Geschenk von jemandem bekomme, den ich nicht mag – wie nennt man das, was ich empfinde? Die Sehnsucht nach einem Menschen, den wir nicht mehr mögen, diese Qual und dieser Groll – wie nennt man das? Beschäftigt sein – und plötzlich innehalten, weil mich auf einmal die Muße packt, etwas Aufhellendes und Seliges, als wäre ein wundersames Licht ins Zimmer gefallen – wie nennt man das, was man da empfunden hat?“

01.11.2023
Fußnoten
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PDF

©Ebba D. Drolshagen

Luis Ruby übersetzt seit zwanzig Jahren aus dem Spanischen, Italienischen, Portugiesischen und Englischen. Als Sohn einer spanischen Mutter und eines schlesisch-deutschen Vaters in Bayerisch-Schwaben aufgewachsen, lebt er seit Kindheit zwischen Kulturen und Sprachen und findet das so normal wie unergründlich. Zu den von ihm übersetzten Autorinnen und Autoren zählen neben Clarice Lispector u.a. Eduardo Halfon (Guatemala / USA), Hernán Ronsino (Argentinien), Irene Vallejo (Spanien) und Carlo Fruttero (Italien). Zur Zeit arbeitet er an einer Neuübersetzung von Boccaccios Decameron. Abseits der Schreibtischtätigkeit schätzt er den Austausch in Übersetzerwerkstätten, im VdÜ und bei Publikumsveranstaltungen aller Art.

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