Der blonde Araber
Journal zur Übersetzung von Riad Sattoufs Der Araber von morgen
Riad Sattoufs „L’Arabe du futur“ ist in den Jahren 2014 bis 2022 als sechsbändiger autobiographischer Zyklus mit insgesamt mehr als 1050 Seiten erschienen und hat in Frankreich vom ersten Band an Furore gemacht. Die Gesamtauflage übersteigt zwei Millionen Exemplare, und auf dem wichtigsten europäischen Comicfestival in Angoulême wurde Sattouf jeweils zu Beginn und Ende seiner Arbeitsphase ausgezeichnet: 2015 mit dem Preis für das beste Album, der ihm für den Auftaktband zugesprochen wurde, und 2023 nach Abschluss des gesamten Zyklus mit dem Großen Preis der Stadt Angoulême, der renommiertesten Auszeichnung des Festivals. Kein anderer Comic seit Marjane Satrapis „Persepolis“ zwanzig Jahre zuvor hat ein so breites Echo bei Publikum und Medien in Frankreich gefunden. Zudem wurde die Reihe in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Auch ins Deutsche, von mir, aber das anfangs nur als Notlösung. Ich hatte den Auftaktband bei einem Frankreichbesuch im Mai 2014 gekauft und war so angetan davon, dass ich ihm im Monat danach eine Folge meines wöchentlichen Comic-Blogs auf FAZ.NET widmete. Ob das die entscheidende Empfehlung gewesen war oder der Band auf andere Weise nach München ins Büro von Wolfgang Ferchl gelangt war, der als Lektor und Verleger der Zamonien-Bücher von Walter Moers sein sicheres Auge für illustrierte Qualität und Verkäuflichkeit bewiesen hatte, habe ich nie erkundet. Jedenfalls war Ferchl, mit dem mich seit meinem von ihm verlegerisch betreuten Moebius-Buch bei der Anderen Bibliothek eine Freundschaft verband, einige Wochen später am Telefon, um sich mit mir zu beraten, wie man „L’Arabe du futur“ am besten in Deutschland bekanntmachen könnte. Denn als nunmehriger Chef des Knaus-Verlags, in dem noch nie ein Comic verlegt worden war, hatte Ferchl seinem Instinkt (und seiner Faszination für den Nahen Osten) nachgegeben und kurzentschlossen die Übersetzungsrechte an Sattoufs Buch erwerben lassen.
Ein kurzer Rückblick auf die deutsche Marktlage für Comics vor rund einem Jahrzehnt: 2014 war ein Jahr, in dem etliche literarische Verlage auf den Geschmack gekommen waren, seitdem Suhrkamp 2012 ins Geschäft mit Graphic Novels eingestiegen war und dank Nicolas Mahlers Adaption von Thomas Bernhards Roman „Alte Meister“ auch gleich einen großen Erfolg gelandet hatte. Das verstärkte die Nachfrage nach deutschsprachigen Comic-Erzählern, und dass ich Suhrkamp damals bei der Auswahl von Zeichnern beriet, war bekannt, weil ich anfangs als Herausgeber der dort erscheinenden Comics firmierte. Riad Sattouf aber war kein Deutscher und hierzulande damals noch kaum bekannt; nur beim Berliner Comicverlag Reprodukt war 2010 das kleine autobiographische Heft „Meine Beschneidung“ erschienen, sechs Jahre nach der französischen Originallausgabe (deren Restauflage Sattouf, das nur nebenbei erwähnt, bei einsetzendem Erfolg seines „L’Arabe du futur“ komplett aufkaufte, weil er die darin dokumentierte Episode in seinem Zyklus noch einmal erzählen wollte) und ohne irgendeine Resonanz. Damit schien Sattouf für Deutschland verbrannt, denn obwohl er im selben Jahr 2010 in Angoulême seinen ersten Preis für das beste Album des Jahres gewonnen hatte, mit „Plus fort que les plus forts“, dem dritten Band seiner Serie „Pascal Brutal“ (bis heute unübersetzt), und für sein Debüt als Kinoregisseur, den Spielfilm „Les beaux gosses“, den César (das französische Äquivalent zum Oscar) erhielt, wurde jahrelang keine Lizenz für seine Comics mehr nach Deutschland verkauft, und „Jungs bleiben Jungs“ (so der deutsche Verleihtitel von „Les beaux gosses“) floppte an der hiesigen Kinokasse. Das spielte dem Knaus-Verlag in die Karten. Große Konkurrenz gab es nicht beim Erwerb der Übersetzungsrechte für „L‘Arabe du futur“.
Riad Sattouf: Der Araber von morgen, Band 6. Eine Kindheit im Nahen Osten (1994-2011). Aus dem Französischen von Andreas Platthaus. Penguin Random House Verlagsgruppe, 2023.
Ferchl aber war überzeugt von dieser kulturübergreifenden Geschichte des 1978 geborenen Riad Sattouf, der als Kind eines syrischen Vaters und einer bretonischen Mutter in mehreren Ländern aufgewachsen war: Frankreich, Libyen und Syrien. Der von Sattouf in seinem Comic eingenommene Blick eines Kindes auf den jeweiligen Alltag und die verschiedenen Mentalitäten kam 2014 genau im richtigen Moment. Durch den Arabischen Frühling drei Jahre zuvor war das Augenmerk der ganzen Welt auf den Nahen Osten gerichtet, seitdem tobte der syrische Bürgerkrieg, und die Terrororganisation „Islamischer Staat“ war auf dem Vormarsch. Und damit nicht genug: Noch bevor die deutsche Übersetzung erscheinen sollte, wurde im Januar 2015 die Redaktion von „Charlie Hebdo“ in Paris von zwei Islamisten gestürmt, die dort ein Blutbad anrichteten; Sattouf hatte jahrelang für das Satireblatt gearbeitet. Als die deutsche Ausgabe im Frühjahr 2015 erschien, war das öffentliche Interesse dementsprechend gewaltig, und für hiesige Verhältnisse auch der Verkaufserfolg. Ferchls Gespür hatte ihn nicht getäuscht.
Mit zwei Ideen hatte er allerdings falsch gelegen. Die erste betraf den Titel des Buchs. „L’Arabe du futur“ klang dem Knaus-Verleger zu technisch; er hatte sich kurzentschlossen für „Der blonde Araber“ entschieden, denn als Kind war Riad Sattouf blondgelockt gewesen, und gleich auf der ersten Seite des Comics wird gezeigt, wie die Frauen dahinschmolzen beim Anblick dieses herzallerliebsten Jungen. Sattouf aber erwies sich nicht als kompromissbereit: In einer Mail vom 1. Oktober 2014 schrieb er, dass der vorgesehene deutsche Titel zwar lustig sei, „aber leider scheint er mir im Hinblick auf den Inhalt des Buchs zu reduziert. Außerdem muss der Titel zu dem passen, was der Vater am Ende der Geschichte sagt.“ In der Tat: Auf der vorletzten Seite des ersten Bandes proklamiert Riads Vater für die Zukunft seines dann sechsjährigen Sohnes: „L’Arabe du futur, il va à l’école“ (Der Araber von morgen geht zur Schule) – womit zum nächsten Band des Zyklus übergeleitet wird. Immerhin machte Sattouf seinerseits einen Alternativvorschlag für den deutschen Titel: „Der Überaraber“, als Anspielung auf Nietzsches Übermenschen. Aber schließlich bestand er doch auf die sinngemäße Übersetzung der französischen Bezeichnung, und Ferchl entschied sich für „Der Araber von morgen“, weil weder „Der Araber der Zukunft“ noch „Der zukünftige Araber“ eingängig geklungen hätten.
Die zweite irrige Vorstellung des Verlegers betraf den Übersetzer. Es war ja nicht so, dass Ferchl mich angerufen hatte, um mir diese Aufgabe anzutragen; er wollte Vermarktungsexpertise einholen. Dazu gehörte auch seine Frage, was ich davon hielte, wenn man eine prominente Persönlichkeit mit familiärem Ursprung im Nahen Osten als Übersetzer gewinnen könnte: Ferchl schwebte entweder der Grünen-Politiker Cem Özdemir oder der Filmregisseur Fatih Akin vor; beide hatten ihre Wurzeln im Orient und großen Erfolg in Deutschland. Das schien mir eine gute Idee, wobei ich Bedenken äußerte, ob solch vielbeschäftigte Leute Zeit dafür finden würden, und wie es um ihr jeweiliges Französisch stand, wusste ich auch nicht. „Sonst musst du es eben machen“, lachte Ferchl und verabschiedete sich.
Ich nahm das nicht ernst. Zwar hatte ich vor mehr als zehn Jahren für den erwähnten Band über Moebius dessen damals noch unveröffentlichten autobiographischen Comic „Fumetti“ übersetzt, aber das war relativ wenig Text und trotzdem viel Mühe gewesen – und deshalb mein einziger Versuch als Übersetzer geblieben. Wie weit Ferchls Bemühungen um Özdemir oder Akin gereicht haben, weiß ich nicht; jedenfalls rief er zwei Monate später wieder an und sagte: „Jetzt musst du es eben machen.“ Freunden schlägt man so etwas nicht ab.
Hätte ich gewusst, dass mich dieses Unterfangen fast neun Jahre immer wieder beschäftigen würde, hätte ich abgesagt. Aber Sattouf selbst glaubte damals noch an insgesamt drei Teile, die jeweils im Abstand eines Jahres erscheinen sollten. Letzteres stimmte auch bis Band 3, der auf der letzten Seite aber immer noch die verheißungsvolle Floskel „À suivre …“ enthielt. Band 4 kam dann nach einer Pause von zwei Jahren, war aber mit 280 Seiten fast doppelt so dick wie die bisherigen. Und auch er endete mit „À suivre ….“. An den Abschluss des Zyklus habe ich erst geglaubt, als der sechste Band im November 2022 dann tatsächlich mit dem Wort „fin“ schloss. Zwischendurch hatte Sattouf mit „Les Cahiers d’Esther“ (seit 2016) und „Le jeune acteur“ (seit 2021) noch zwei weitere Serien begonnen, deren erste ich nicht übersetzte, weil sie bei einem anderen deutschen Verlag erschien (nun doch wieder Reprodukt), während die zweite, die „L’Arabe du futur“ in Aufmachung und autobiographischem Inhalt gleicht, als zu speziell für den deutschsprachigen Markt eingeschätzt wurde, sodass bislang niemand die Rechte erwarb.
Aber wie gesagt: Dass sich das Gesamtprojekt auf mehr als tausend Seiten belaufen würde (die zudem immer textreicher wurden), war 2014 nicht absehbar. Und der Reiz, sich daran zu versuchen, was aus zwei Gründen groß. Einmal gab es für mich an der literarischen Bedeutung von „L’Arabe du futur“ keinen Zweifel, und zum anderen sind die Anforderungen an eine Comicübersetzung derartig, dass sie mir als Zeitungsredakteur entgegenkommen: Comicübersetzungen haben es im Gegensatz zu „normalen“ literarischen Übertragungen mit klar definiertem Raum zu tun, Sprechblasen kann man nicht größer oder kleiner machen, um einen sich im Umfang gegenüber dem Originalwortlaut unterscheidenden übersetzten Text aufzunehmen. Wo man bei einem Roman einfach entsprechend mehr Seiten drucken würde, muss bei Comictexten gekürzt (im Deutschen meistens) oder verlängert (sehr selten) werden, um die ästhetische Geschlossenheit einer Seite zu wahren, zu der ja auch die Typographie gehört. Verkleinerung oder Vergrößerung der Buchstaben ist nur eine sehr eingeschränkte Option, weil auffällig kleiner wiedergegebene Passagen in Comics leises Sprechen oder gar Flüstern signalisieren, deutlich größer gedruckte dagegen suggerieren Geschrei. Aber an die Herausforderung, mit beschränktem Platz für einen Text zurechtzukommen und ihn gemäß dem zur Verfügung stehenden Raum zu kürzen oder zu verlängern, ist man als Zeitungsredakteur gewöhnt, während ein solches Verfahren gegen das Berufsverständnis normaler literarischer Übersetzer verstößt. Was ihnen schwerfallen musste, ist für mich leicht.
Der erste Band von „L’Arabe du futur“ wirkte zudem insofern trügerisch einfach zu übersetzen, als er nur ein einziges spezifisches Problem bot, das nicht mit meinem zweibändigen Sachs-Vilatte-Wörterbuch aus dem Jahr 1956, einem Erbe meines frankophilen Schwiegervaters, und gängigen Übersetzungswebsites im Internet gelöst werden konnte. Es war auch nicht so, dass ich diesen Aspekt übersehen hätte, aber er gestaltete sich anders problematisch, als befürchtet. Auf meine besorgte Frage, wie ich es mit den vereinzelten arabischen Dialogen im Comic halten sollte, hatte Sattouf mir noch vor Beginn meiner Arbeit, als wir uns betreffs grundsätzlicher Fragen verständigten, geschrieben, darüber sollte ich mir keine Gedanken machen und die arabischen Passagen einfach so lassen, wie sie im französischen Original waren: „Was da steht, hat gar keine Bedeutung, sondern dient nur der Veranschaulichung des Verlusts jedes Bezugspunkts. Man will zwar als Leser wissen, was da gesagt wird, aber man ist wie das Kind selbst: verloren.“ Was weder Sattouf noch ich jedoch bedacht hatten, ist die unterschiedliche Transkription arabischer Ausdrücke in unseren beiden Sprachen. Als ich auf Landkarten nach der genauen Lage des syrischen Dorfes Ter Maaleh suchte, aus dem Riads Vater stammt und in dem sich wesentliche Teile des Comics abspielen, bemerkte ich, dass die Ortschaft in deutscher Transkription als Ter Maela firmierte. Und solche Abweichungen gab es immer wieder bei phonetisch in lateinischen Buchstaben wiedergegebenen arabischen Worten, so dass der Übersetzungsaufwand gerade dort unerfreulich groß war, wo eigentlich gar nichts übersetzt werden musste. Es war vielmehr ein Umschreibungsaufwand, der miteinschloss, dass ich jedes von Sattouf verwendete transkribierte arabische Wort auf dessen Schreibweise durch deutsche Arabisten untersuchen musste. Und dort, wo ich kein Beispiel dafür fand, zumindest auf die Konsistenz der Schreibweise achtete, damit nicht typisch französisch transkribierte arabische Worte zwischen typisch deutsch geschriebenen auftauchten. Manche von mir gewählte Schreibweise erfolgt deshalb in bloßer Analogie zu derjenigen von anderen Begriffen, die ich irgendwo dokumentiert gefunden hatte.
Mit zunehmendem Alter des Ich-Erzählers Riad und vor allem der immer stärkeren Verlagerung des Geschehens nach Frankreich wurden die Probleme zahlreicher. Das größte stellte der verwendete Jugendjargon dar. Nicht der von der arabischen Jugend in Syrien gebrauchte (denn den hat Riad Sattouf weder selbst erlernt noch überhaupt gesprochen, also erschöpft sich die Wortwahl seiner Cousins und Mitschüler im Original auf vage orientalisch-blumig klingende Formulierungen, die leicht im Deutschen nachzuahmen waren), sondern der in Frankreich verwendete Jugendjargon, dem der Ich-Erzähler dort als Sprachkundiger begegnet. Vor allem in der Schule, aber auch auf der Straße, wo der junge Riad in den zahlreichen arabischstämmigen Jugendlichen der großen französischen Städte ein Zerrbild seiner selbst identifiziert. Diese Einwandererkinder bezeichnen sich selbst als „rebeu“, und so nennen sie auch ihre Sprache – ein Kunstwort, das aus einer Vertauschung der beiden Worthälften von „beure“ („Berber“, die in Frankreich gängige Bezeichnung für muslimische Nordafrikaner) resultiert. Die Umkehrung der gewohnten Silbenfolge ist das generelle Verfahren dieses spezifischen Jugend-Slangs in Frankreich. Auf Deutsch gibt es nichts Vergleichbares (und just das Wort „Berber“ würde bei Vertauschung seiner beiden Silben ein ziemlich langweiliges Ergebnis hervorbringen), also musste dafür ein Sprachklang gesucht werden, der an das anknüpft, was unter muslimischen Jugendlichen in Deutschland gesprochen wird, ohne aber das rebellische Potenzial des französischen „rebeu“ abzumildern durch ein pittoreskes Sprechen jener Art, wie es etwa deutsche Comedians aus dem Migrantenmilieu kultivieren. Deshalb habe ich einen simulierten Soziolekt gewählt, der zwischen gängig klingenden Phrasen aggressiver Jugendsprache und Phantasieformulierungen changiert, oftmals verstärkt durch Wortverschleifungen wie „Was saggse da, Hurresonn?“ für „Was sagst du da, Hurensohn?“ oder „Wassenlos?“ für „Was ist los?“, die verschliffenen französischen Äquivalenten wie „T’as dchit quoi, ‘ssdeupute?“ (Tu as dit quoi, fils de pute?) oder „Keski“ (Qu’est-ce qui) entsprechen.
Genauso wichtig und noch viel präsenter in den Sprechblasen von „Der Araber von morgen“ ist indes der Jugendjargon von „Bio-Franzosen“, der teilweise Anleihen beim Rebeu nimmt oder sich bei Zitaten aus Fernsehen oder Popmusik bedient. Auch dabei ist schnell das Ende eines für deutsche Leserinnen und Leser verständlichen Sprachgebrauchs erreicht, da die jeweiligen Bezugsgrößen hierzulande nicht bekannt sind, geschweige denn die Originaltexte. So ist etwa in Band 5 des Zyklus von der in den neunziger Jahren populären französischen Hip-Hop-Band Suprême NTM die Rede, und aus ihrem 1990 veröffentlichten Hit „Le monde de demain“ gibt es zwei Textpassagen, die der ungläubig staunende Riad von einer Schulfreundin vorgespielt bekommt: „Trop paresseux pour travailler / Trop fier pour faire la charité / Oui je préfère la facilité / Considérant que le boulot / M'amènera plus vite au bout du rouleau / Alors réfléchissez, combien sont dans mon cas“ und „C'est que depuis trop longtemps / Les gens tournent le dos / Aux problèmes cruciaux / Aux problèmes sociaux / Qui asphyxient la jeunesse / […] / Ne vous étonnez pas / Si quotidiennement l'expansion de la violence est telle“ (nachzuhören auf Youtube). Dafür galt es, eine deutsche Entsprechung zu finden, die den Inhalt ebenso aufzunehmen versucht wie Rhythmik und charakteristisches Schema aus Binnen- und Endreimen. Doch das Ergebnis konnte natürlich nicht mehr als eine Annäherung sein, die verständlich macht, warum der halbwüchsige und unter den orientalischen Vorstellungen von Mutterwürde aufgewachsene Riad nicht nur durch den Bandnahmen (NTM steht für „nique ta mère“ – fick deine Mutter) verstört wird: „Wir sind zu stolz für milde Gaben, ihr werdet in uns Wilde haben, Streber nach eurem Bilde werden wir begraben – ihr Schaben!“ und „Zu lang schon ist die Intoleranz total, der Staat war asozial, die Politik banal. Das macht uns radikal. Drum macht den Mund zu, hier geht’s jetzt bunt zu, ich mach dich rund, du!“ Zugegeben: Da haben die deutschen Rapper von den Fantastischen Vier das Vorbild abgegeben.
Andere Songtexte dienten in „L’Arabe du futur“ nicht der Provokation, sondern der Rekonstruktion bestimmter Situationen, so etwa die in Frankreich populäre Schnulze „Les démons de minuit“ der Popgruppe Images, die in typischem Achtziger-Jahre-Synthie-Sound als Stimmungsmacher auf der Abschlussfete einer Klassenfahrt des zwölfjährigen Riad eingesetzt wird (in Band 4). Der Musiktitel ist in Deutschland unbekannt, also wäre das im Original zeitcharakteristische Stimmungsphänomen des Abends nur noch durch die Bilder vermittelbar, aber nicht durch den über alle Panels sich hinziehenden Text des Liedes. Als Ersatz habe ich einen ebenfalls aus derselben Zeit stammenden deutschen Party-Hit gewählt: „Dein ist mein ganzes Herz“ von Heinz-Rudolf Kunze, damals in seiner ironischen Popseligkeit ein sicherer Abräumer auf den Tanzflächen hiesiger Altersgenossen von Riad. Wie im Original der Text von Images bietet das deutsche Schlagertextschemata parodierende Lied von Kunze einen mitlaufenden Kommentar zu den von Riad neidisch beobachteten Mitschülern, die sich schon an einen Tanz mit dem anderen Geschlecht wagen.
Das subtilste Problem der Übersetzung von „L’Arabe du futur“ aber stellte das Französisch von Riads Vater dar, das sich im Laufe der dreiundreißigjährigen Handlungszeit verschlechtert: vom durchaus flüssigen Sprachgebrauch des als Geschichtsstudent nach Frankreich gekommenen Syrers zum nur noch stammelnden und orthographisch voller Fehler schreibenden Erwachsenen, der in seine Heimat zurückgekehrt ist und die erworbene Sprache wieder verlernt hat. Natürlich spielt dabei auch die Wahrnehmung seines Sohnes eine Rolle, dessen anfängliche kindliche Bewunderung für den Vater in immer größere Skepsis und schließlich Verachtung ihm gegenüber umschlägt, nachdem der Ich-Erzähler selbst studiert hat und ein erfolgreicher Comic-Autor geworden ist. Doch die Briefe, die den in Frankreich zurückgebliebenen Teil der Familie erreichen, sind tatsächlich geradezu groteske Elaborate, deren phonetisch geschriebene Wörter und grammatikalische Schnitzer entsprechend drastisch ins Deutsche gebracht werden mussten. Dabei war es wichtig, gemäß der Vorlage auch die Klischees vom Wortklang der Migranten aus dem Nahen Osten zu bedienen, denn Riad Sattouf hatte eine klare Vorgabe gemacht, was Kraftausdrücke und eben Klischees betraf: Wo sie im Französischen auftauchten, wollte er sie auch in der Übersetzung berücksichtigt sehen. Bei einem öffentlichen Gespräch in der Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt nach Erscheinen des vierten Bandes bezeichnete er als seine wichtigste Probe auf die Zuverlässigkeit einer Übersetzung die Lektüre jener Sprechblasen, in denen im Original das Wort „merde“ stehe: Die Äquivalente für „Scheiße“ seien ihm in den meisten Sprachen geläufig, und wenn sie an den entsprechenden Stellen vermieden würden, zeige das mangelnde Texttreue. Als Riad Sattoufs Übersetzer hat man also nicht nur die Lizenz zum Fluchen, sondern auch die Verpflichtung.