Flüchtiger Humor
Journal zur Übersetzung von Everyday Escape von Shouichi Taguchi
Dieses Journal ist ein Werkstattbericht und gleichzeitig eine Rückschau: auf vier Manga-Bände und insgesamt zwei Jahre Arbeit. Zwei Jahre Zweifel: „Kann ich kein Japanisch oder klingt der Text auch für Muttersprachler·innen komisch?“ und natürlich „Bin ich nicht witzig oder ist es das Original nicht?“.
Über Humor kann man trefflich streiten. Einige zerreißt es bei Mario Barth schier vor Lachen, andere rollen nur genervt mit den Augen. Die einen lieben Asterix, die anderen finden ihn altbacken. Und so weiter und so fort. Humor zu übersetzen ist insofern immer eine Gratwanderung: nur weil ich persönlich über das Original nicht lachen kann, heißt das nicht, dass es nicht lustig ist. Und nur weil ich meine Übersetzung lustig finde, tun das nicht auch alle anderen.
Humor, der Endgegner im Übersetzungsleben
Die doppelte Grundfragestellung bei der Übersetzung von Humor ist eigentlich immer dieselbe:
Verstehe ich, dass und warum etwas witzig ist?
Finde ich einen Weg, den Witz adäquat zu übersetzen / ersetzen?
Das gilt auch für japanischen Humor, wie er im Manga vorkommt. Comedy-Manga gelten daher in Übersetzer·innen-Kreisen als mit das Schwerste, was man auf den Tisch bekommen kann. Und das selbst dann, wenn das Original enorm viel Identifikationspotenzial bietet, wie es bei dem vierbändigen Manga Everyday Escape von Shouichi Taguchi der Fall ist.
Shouichi Taguchi: Everyday Escape, 4 Bände, aus dem Japanischen von Verena Maser, Manga Cult 2022-2023.
„Escape“ bzw. „Flucht“ ist in diesem Fall gemeint im Sinne von „Alltagsflucht“ oder ganz modern: „Prokrastination“ (ein Wort, das leider viel zu lang ist, um in kleine, schmale Sprechblasen zu passen; mehr dazu später). Everyday Escape dreht sich um eine Mini-WG aus zwei jungen Frauen, die eine Manga-Zeichnerin, die andere arbeitslos. In kurzen Kapiteln versuchen beide mit oft sehr abstrusen Methoden ihrem (Nicht-)Arbeitsleben zu entkommen. Also total „relatable“, wie man unter jungen Leuten sagt, „emotional nachvollziehbar“. Was für mich beim Übersetzen heißt: die deutsche Version sollte einem breiten Publikum zugänglich sein, „zu japanisch“ sollte es nicht werden.
Leichter gesagt als getan.
Sag mir wie du heißt (bitte!!)
Die erste Herausforderung ist gleich, dass die beiden Protagonistinnen keine Namen haben. Im Japanischen bezeichnen sie einander als 先輩senpai und 後輩kōhai, gebräuchliche Anreden im Schul- oder Firmenkontext: senpai ist die Person, die schon länger dabei ist (aber nicht notwendigerweise auch in Jahren älter), kōhai ist die Person, die noch nicht so lange dabei ist. Unsere beiden Figuren kennen sich aus der Schule, die blonde Arbeitslose war ein Schuljahr über der schwarzhaarigen Manga-Zeichnerin.
Ich hätte die Begriffe senpai und kōhai übernehmen und den kulturellen Hintergrund in einer Fußnote erklären können. Aber die Faustregel lautet: Fußnoten verlangsamen den Lesefluss. Anders gesagt: Fußnoten sind (meistens) nicht witzig. Ich schwenke daher um und verwende lieber die Berufsbezeichnungen: Mangaka und Arbeitslose. „Mangaka“ steht zwar nicht im Duden, ist aber unter Fans inzwischen bekannt als Bezeichnung für Mangaschaffende jeden Geschlechts.
Diese simple Lösung hätte auch nach hinten losgehen können. Als ich mit der Arbeit an Everyday Escape beginne, waren in Japan erst zwei Bände erschienen und es war noch nicht klar, wie viele es insgesamt einmal werden würden. Die beiden Protagonistinnen hätten durchaus noch Namen bekommen können oder es hätte Wortspiele mit den Begriffen senpai und kōhai geben können. In solchen Situationen hilft leider nur Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Würde doch nur nicht der Zweifel beständig an mir nagen …
Der Witz des Nonsens
Die Protagonistinnen von Everyday Escape stehen in der Tradition des japanischen 漫才manzai: Bühnen-Comedy, die stets von einem (meist männlichen) Duo dargeboten wird. Der ボケboke kommt mit absurden Ideen um die Ecke, der ツッコミtsukkomi kommentiert das Geschehen mit ernster Miene. Wobei die Rollen zwischen Mangaka und Arbeitsloser durchaus mal wechseln können. Die meisten (abwegigen) Ideen für Alltagsfluchten kommen zwar von der Arbeitslosen, sie kann aber durchaus auch die Stimme der Vernunft sein.
Ein Kennzeichen von manzai ist in jedem Fall, dass es meist laut und schrill zugeht: es wird geschrien und es werden allerlei Grimassen gezogen, beides meist vom boke. Dieses überzogene Element findet sich auch in Everyday Escape. Siehe zum Beispiel eine Szene in Band 4: Mangaka und Arbeitslose versuchen zu schlafen, die Mangaka ist aber zu aufgeregt, da sie am nächsten Tag ihre Lieblingssängerin treffen wird. Als sie merkt, dass die Arbeitslose neben ihr eingeschlafen ist, ruft sie sehr laut
ハァどっこいしょ (Band 4, S. 12)
und die Arbeitslose neben ihr wacht schockiert auf, um sich anschließend lautstark zu beschweren.
どっこいしょdokkoisho bedeutet – nichts. Das Lexikon kennt es als Ruf zur Selbstmotivation sowie als rhythmischen Ruf in japanischen Volksliedern. Besonders prominent ist er in ソーラン節 Sōran bushi, einem Volkslied der nördlichsten Insel Hokkaido.
Video einer Performance in der Stadt Kōchi 2010
Der Witz liegt also weniger in dem, was gesagt wird, und mehr darin, dass es völlig aus dem Nichts kommt: Es ist das erste Panel einer neuen Doppelseite und die Lesenden rechnen ebenso wenig mit dem Schrei wie die Arbeitslose (auch wenn sie auf der vorherigen Doppelseite schon einmal unsanft geweckt wurde).
Für die deutsche Version muss also ebenfalls ein möglichst sinnbefreiter Spruch her. Etwas, das man laut schreien kann und was das Publikum aus einem anderen Kontext kennt. Am Ende steht in meinem Manuskript:
Ziiiieh! (Band 4, S. 10)
Vermutlich inspiriert von zu viel Vierschanzentournee im Winter. Dann kommen die Zweifel. Lässt sich ein einzelnes langes Wort mit vielen i’s überhaupt vernünftig in die vertikale Blase lettern? Als Manga-Übersetzerin muss ich zwar (zum Glück) keine Buchstaben zählen, die Größe und Form der Blase muss ich aber trotzdem im Auge behalten. Als Faustregel gilt, dass sich die Wörter möglichst ohne Worttrennung in die Blase „stapeln“ lassen sollten. Die Form sollte hinterher an ein Karo bzw. das Logo der Bausparkasse Schwäbisch Hall erinnern.
Der Kopf rattert also weiter, ich schlage meiner Redakteurin noch zwei Alternativen vor: „Heiho Heiho Heiho“ (das Lied der Zwerge aus Schneewittchen) und „Ufftata Uffta Uffta Ufftata“ (die Marschmusik von Loriots Opa Hoppenstedt). Und dann sitze ich an diesem Journal und finde plötzlich einen deutschen Wikipedia-Artikel zu Sōran bushi, der dokkoisho als „Hau ruck“ übersetzt. Und wieder kommen die Zweifel. Ist das besser? Ist es witzig? Ich diskutiere mit meiner Redakteurin, letztlich bleiben wir dann aber doch bei "Ziiiieh", weil es die Blase so schön ausfüllt.
Knautsch mich, ich bin arbeitslos
Nonsens-Aussagen sind auch sonst eine Spezialität von Autor Taguchi. Ein anderes Beispiel aus Band 4: die Arbeitslose beschließt, dass es endlich an der Zeit ist, sich einen Job zu suchen und zum Haushaltseinkommen beizutragen. Die Mangaka ist strikt dagegen, denn das wäre ja eine „Flucht vor der Realitätsflucht“. Oder um es anders auszudrücken:
先輩は私のために いつまでもモチモチしてなきゃだめなんです~~~!! (Band 4, S. 118)
Der Satz geht, wie das im Manga oft passiert, über zwei Sprechblasen. Wäre es witziger, aus dem einen Satz zwei kurze zu machen? Ich zweifle, bleibe schließlich bei der Original-Konstruktion.
Du musst für mich …
… bis in alle Ewigkeit weich und elastisch sein! (Band 4, S. 116)
Weit mehr als die Satzaufteilung beschäftigt mich das Verb モチモチする mochimochi suru. Eigentlich eine klare Sache: mochimochi ist eine Lautmalerei, die etwas weiches, elastisches beschreibt. Typisches Beispiel: 餅 mochi, ein Reiskuchen mit süßer Füllung, hierzulande inzwischen in Form von Eis bekannt. Ob die Lautmalerei zuerst da war oder die Süßigkeit, lässt sich nicht klären. So oder so, mochimochi suru heißt, dass etwas weich und elastisch ist. Google Japan findet Beschreibungen von Haaren nach dem Waschen, von Brot sowie von diversen Tieren. Bloß: nicht von Personen.
Was also, liebe Mangaka, willst du uns mit deinem Ausruf sagen? Ich sehe mir die Reaktionen der anderen Figuren an, namentlich der Arbeitslosen und der Redakteurin der Mangaka: beide wiederholen das Wort mochimochi, einmal fragend, einmal sinnierend. Was wohl bedeuten soll, dass auch diese beiden die Aussage nicht verstehen und dass das der Witz an der Sache sein soll. Nach langem Grübeln entscheide ich mich, „weich und elastisch“ stehen zu lassen. Vielleicht ist es einfach nicht mein Humor. Oder ich habe schon zu lange darüber nachgedacht, um es noch ansatzweise lustig zu finden. Noch so eine Faustregel bei Comedy: je öfter du es hörst / liest, umso unwitziger wird es.
Wie im echten Leben
Was ich in vielen DÜF-Seminaren gelernt habe: wenn du an einer Stelle einen Witz opferst, versuch, an anderer Stelle einen einzubauen. Was ich im Arbeitsalltag gelernt habe: das ist leichter gesagt als getan, vor allem wenn einem durch die Bildebene und die Zahl der Sprechblasen vieles vorgegeben ist.
Manchmal hat man aber Glück. So in Kapitel 29: die Redakteurin der Mangaka erfährt am Telefon, dass ihr Vater ins Krankenhaus gebracht wurde und fährt mitten in der Nacht zur über eihundert Kilometer entfernten Halbinsel Izu – Mangaka und Arbeitslose im Schlepptau, versteht sich. Vor Ort erfährt sie dann von ihrer Mutter, dass alles halb so wild ist:
ここのとこ宴会続きで無茶してきたのよー (Band 4, S. 70)
Wörtlich „In letzter Zeit hat sich ein Empfang an den anderen gereiht und er hat es übertrieben.“
Die Tochter reagiert genervt:
そ それじゃ ただの食べすぎってこと?!
Sie präzisiert also, was für das (japanische) Publikum eigentlich bereits klar war: „übertreiben“ heißt „sich überfressen“.
Japanisch ist eine Kontextsprache, heißt es, viele Ausdrücke sind vage gehalten, aber aus dem Kontext der Unterhaltung ist für alle (muttersprachlich) Beteiligten klar, was gemeint ist. Allerdings nicht immer, deshalb kommen solche Präzisierungen durch den Gesprächspartner recht oft vor, sowohl in der Realität als auch im Manga. Beim Übersetzen sorgen sie für Kopfzerbrechen, denn oft sind sie im Deutschen überflüssig. Will man sie weglassen, muss man die Sprechblase dann aber anderweitig füllen. Speziell für Comedy gilt außerdem oft: Präzisierungen sind einfach nicht witzig.
Beim Lesen der Szene muss ich an meinen Vater denken, bei dem sich auch gerne ein Empfang mit Büffet an den nächsten reiht (wenn auch nicht mehr ganz so häufig wie früher). Und an die leicht resignierten Seufzer meiner Mutter. Und ich beschließe: diese leichte Resignation kann ich auch der Mutter der Redakteurin andichten, immerhin taucht sie wirklich nur in diesem einen Panel auf.
Ja, so ist das eben, wenn man ständig von Empfang zu Empfang tingelt. (Band 4, S. X)
Und nun kann die Redakteurin die Pointe liefern:
Mit anderen Worten …
… er hat sich einfach nur überfressen?! (Band 4, S. 68)
Ist es der Witz des Jahrtausends? Was war eigentlich meine Reaktion, als ich das Original zum ersten Mal gelesen habe? Hätte ich mir eine Liste machen sollen, welche Szenen ich besonders lustig fand? Der Zweifel sitzt weiter auf der Schulter.
Humor, so glaube ich, ist etwas Spontanes. Zu viel nachdenken produziert selten etwas richtig Gutes. Was mir beim Übersetzen entgegenkommt: ich bin keine dieser „Mauerbauer·innen“ (wie es Karen Nölle mal nannte), bei denen jedes Wort stimmen muss, bevor der nächste Satz begonnen wird. Ich fliege erst einmal durch das Manuskript, produziere unsaubere und teils auch falsche Übersetzungen, um ein Gefühl für den „Flow“ der Dialoge zu bekommen. Erst danach geht es ans Feilen, ans „richtig schreiben“ – um dann manchmal festzustellen, dass die erste unsaubere Idee doch weit besser passt als die „Lexikon-korrekte“. Natürlich kann ich mir das nur erlauben, weil so ein Manga-Übersetzungsmanuskript selten mehr als 70 Seiten hat. Beim vierten Band von Everyday Escape sind es sogar nur 43.
Für Sake-Kennerinnen
Gibt es unübersetzbaren Humor? Manche behaupten, es lasse sich alles übersetzen. Richtig ist aber meines Erachtens auch: es ist dann oft nicht mehr richtig witzig. Vor allem dann nicht, wenn man Fußnoten braucht, um den Witz zu erklären.
Ein Beispiel dazu aus Band 3 von Everyday Escape, das zwei Dinge verbindet, die Wissen beim Publikum voraussetzen: Alkohol und Popkultur.
Everyday Escape ist gespickt mit Anspielungen auf tatsächlich existierende Marken für alkoholische Getränke. Im Original ist das Buch unter dem Schutzumschlag sogar mit fiktiven Bier- und Sake-Labels versehen, die diverse Anspielungen auf den Serientitel und den japanischen Verlag Ichijinsha enthalten (und die für die deutsche Fassung wohlweißlich nicht übernommen wurden).
In Band 3 nun ist die Arbeitslose krank und die Mangaka umsorgt sie, unter anderem mit einer altbewährten japanischen Hausfrauen-Medizin gegen Erkältung: たまご酒 tamago-zake (Band 3, S. 18).
Standardmäßig würde man dafür heißen Sake mit rohen Eiern und Zucker verquirlen. Die Mangaka verwendet aber lieber ihr eigenes Rezept: kalten 大吟醸酒 daiginjō-Sake mit vier rohen Eiern. Dass diese Mischung ziemlich eklig und vermutlich sogar ungesund sein muss, erschließt sich auch einem Japan-unkundigen Publikum. Dass es sich dabei gar nicht um tamago-zake handelt, kann ich nur in einer Fußnote erklären, was das rasante Tempo der Szene leider zerstört. Ich hätte „Eierlikör“ in die Sprechblase schreiben können, aber da Eierlikör bei uns nicht als Hausfrauen-Erkältungsmedizin gilt, wäre dann ein anderer Teil des Witzes verloren gegangen.
Vielleicht hätte ich auch noch erklären sollen, dass es sich bei daiginjō-Sake um Sake mit einem sehr hohen Anteil von poliertem Reis handelt, aber zwei Fußnoten auf einer Seite sind wirklich nur im absoluten Notfall erlaubt. Sake-Wissen gehört da nicht dazu, zumal es für das Verständnis der Szene keine Rolle spielt.
Nun zum zweiten Teil des Gags, der Popkultur-Referenz. Auch diese findet man zuhauf in Everyday Escape, aufgrund des Berufs der Mangaka geht es aber meistens um Manga und Anime. An dieser Stelle ausnahmsweise mal nicht:
ロッキーもこんなの飲んでましたよね? (Band 3, S. 18)
„Rocky hat damals auch so was getrunken.“ Ich gestehe: ich habe die Rocky-Filme nie gesehen. Das ist einfach nicht mein Genre. Also google ich nach: was hat Rocky getrunken und komme ich mit diesem Wissen vielleicht doch noch an tamago-zake vorbei? Es stellt sich raus: leider nicht. Rocky ging damals noch einen Schritt weiter als unsere Mangaka und trank gleich sechs rohe Eier pur. Ich versuche, mir den Geschmack nicht vorzustellen, während ich darüber grüble, ob mein Publikum den Film kennt und weiß, was Rocky getrunken hat.
Ich mache eine Anmerkung für die Redaktion, lasse die Aussage aber ansonsten unberührt. Wie heißt es doch immer? Das Publikum heutzutage hat ein Handy neben sich, zur Not kann es googeln. Aber ist das dann noch lustig?
Ich konzentriere mich lieber auf die Reaktion der kranken Arbeitslosen:
今日がアタシの命日かもしれない・・・ (Band 3, S. 19)
„Heute ist vielleicht mein Todestag“. Tja. Ganz nett, aber nicht so richtig lustig. Dabei ist es eine Pointe, nach der in der Szene erstmal ein Cut erfolgt. Noch dazu ist es ausnahmsweise mal eine Stelle ganz ohne Sprechblase, der Text könnte also theoretisch ellenlang werden … Andererseits ist es recht eindeutig ein lakonischer Kommentar im Stil einer tsukkomi-Figur, also liegt in der Kürze die Würze. Der erste spontane Einfall bleibt bis in die Druckversion erhalten:
Leb wohl Welt, es war schön mit dir … (Band 3, S. 17)
Im Nachhinein betrachtet, vielleicht hätte es doch „Adieu, schnöde Welt“ sein sollen? Der Zweifel, er hört nie auf zu nagen, erst recht nicht nach Erscheinen des Buches.
Ein abgekartetes Spiel
Der Endgegner in Sachen „unübersetzbar“ ist im Übrigen ganz klar das Kartenspiel かるた karuta, von dem es unzählige Varianten gibt. Wenn man Pech hat, bekommt man die mit den altjapanischen Gedichten. Zumindest in dieser Hinsicht ist Everyday Escape gnädig: in Band 3 kommt „nur“ 花札 hanafuda vor, eine Art Rommee mit verschiedenen Kartenkombinationen.1 Die Mangaka und die Arbeitslose spielen zu Neujahr die Variante こいこい koi-koi – oder besser gesagt: Strip-koi-koi. Wobei nicht so ganz klar wird, wer wann Kleidungsstücke ablegen muss. Ich überlege hin und her, ob ich die Namen der Kartenkombinationen übersetzen oder mit Fußnoten versehen soll, frage im Kolleg·innenkreis nach und höre schließlich: es gibt eine Hanafuda-Version für die Spielekonsole Nintendo Switch und in deren deutscher Übersetzung sind alle Kombinationen übersetzt. Ich übernehme die Namen und verlasse mich auf die Nintendo-Liebe und das Google-Geschick meines Publikums. Im Zuge dessen muss ich auch einen Witz opfern: Die Arbeitslose isst beim Kartenspielenミカン mikan, eine japanische Mandarine und sagt:
あ タネ (Band 3, S. 109)
Normalerweise würde ich das übersetzen mit „Oh. Ein Kern.“ oder „Mist. Ein Kern.“ Aber: タネ tane ist auch der Name einer bestimmten hanafuda-Kartensorte, nämlich der sogenannten „Tierkarten“. Da sich die Mangaka anschließend eines ihrer Kleidungsstücke entledigt, muss vor allem Bedeutung zwei erhalten bleiben und so muss der mikan-Kern leider die deutsche Version verlassen.
Bloß weg hier
Wenn ich in fünf Jahren auf meine Publikationsliste zurückschaue, wird Everyday Escape dann nur eine (zumindest lustige) Fußnote sein oder ein Werk, an das ich mich immer noch gerne erinnere? Sicher weiß ich das natürlich nicht. Aber meine Musik-App wird mich sicher noch das eine oder andere Mal an den Manga erinnern. Nämlich immer dann, wenn 二時間だけのバカンス Nijikan dake no vacance („Nur zwei Stunden Urlaub“) von Hikaru Utada und Sheena Ringo läuft.
Hikaru Utada und Sheena Ringo: 二時間だけのバカンス Nijikan dake no vacance („Nur zwei Stunden Urlaub“)
Auf dieses Lied spielt Everyday Escape in Band 3 bildlich an (S. 53; Danke an Gandalf Bartholomäus fürs Erkennen), denn es gibt den Geist des Manga erstaunlich gut wieder – und könnte fast eine Hymne sein für alle urlaubsreifen Menschen am Schreibtisch:
朝昼晩とがんばる 私たちのエスケープ Asa hiru ban to ganbaru / watashi-tachi no escape – „Morgens, mittags, abends geben wir hundert Prozent, (doch nun kommt) unsere Flucht“.