Tief Tauchen
Im Frühjahr 2022 bin ich erschöpft. Von zwei Jahren Pandemie mit einem gerade zwei und einem gerade vier Jahre alten Kind, ihrem unhintergehbaren Lebenshunger und meinem Schlafmangel, von zu vielen Aufgaben, vom Übersetzen. Drei übersetzte Bücher sind 2021 erschienen, gerade habe ich gemeinsam mit Marion Kraft die unter enormem Zeitdruck entstandene Übersetzung von Amanda Gormans Gedichtband „CALL US WHAT WE CARRY ‒ Was wir mit uns tragen abgegeben. Ich kann mich schlecht konzentrieren, würde am liebsten Wochen einfach im Bett verbringen oder in den Bergen. In dieser Erschöpfung findet Alexis Pauline Gumbs mich:
"What is the scale of breathing? You put your hand on your individual chest as it rises and falters all day. But is that the scale of breathing? You share air and chemical exchange with everyone in the room, everyone you pass by today. Is the scale of breathing within one species? All animals participate in this exchange of release for continued life. But not without the plants. The plants in their inverse process, release what we need, take what we give without being asked. And the planet, wrapped in ocean breathing, breathing into sky. What is the scale of breathing? You are part of it now. You are not alone."
"Was ist das Maß fürs Atmen? Du legst deine Hand auf deine Brust, die sich hebt und taumelt den ganzen Tag. Aber liegt darin das Maß fürs Atmen? Du teilst Atemluft und tauschst Stoffe aus mit jeder und jedem im Raum, allen, die du heute streifst. Beschränkt sich das Maß des Atmens auf eine Spezies? Alle Tiere haben, um zu leben, Teil an diesem Austausch von Freigesetztem. Doch nicht ohne die Pflanzen. Die Pflanzen setzen, in ihrem umgekehrten Prozess, frei, was wir brauchen, nehmen sich, was wir geben, ohne darum gebeten zu sein. Und der Planet, gehüllt in Meeresatmen, atmet zum Himmel. Was ist das Maß fürs Atmen? Du bist Teil davon. Du bist nicht allein."
So versuche ich jeden Tag zumindest zwei Stunden mit dem Text zu atmen, in seiner Strömung zu ziehen wie die Meeressäugetiere, von denen er spricht. Mehr wäre vielleicht auch gar nicht auszuhalten angesichts der menschliche Grausamkeit und Zerstörung, von denen berichtet wird, und des Mitgefühls und der Trauer, denen er Raum gibt. Die Form des Textes kommt meiner tranceartigen Arbeitsweise entgegen, Alexis Pauline Gumbs lädt sogar explizit dazu ein:
"I imagine that most people will not read the book front to back, but I have still organized it based on the Black feminist/marine mammal principle of flow, just in case. I imagine that folks will work with one meditation at a time as part of a daily meditation practice. So far people have shared with me that they have excerpted these meditations during their own keynote lectures, used them as a way to start the day."
"Ich kann mir vorstellen, dass die meisten das Buch nicht von vorne nach hinten lesen werden, aber ich habe es trotzdem nach dem Schwarzen feministischen und meeressäugetierischen Prinzip des Fließenden angeordnet, nur für den Fall. Ich stelle mir vor, dass Leser*innen mit jeweils einer Meditation arbeiten, als Teil einer täglichen Meditationspraxis. Leute haben mir mitgeteilt, dass sie diese Meditationen in Vorträgen zitiert haben, sie als Start in den Tag nutzen."
Geschrieben hat Alexis Pauline Gumbs diese Meditationen zunächst für Social Media. Inwiefern macht das für die Übersetzung einen Unterschied? Ich denke, die Ansprechsituation ist eine viel direktere als bei Texten, die für Bücher geschrieben sind. Die Leser*innen auf Social Media ‒ Alexis hat, Stand 2023, gut 38.500 Follower:innen auf Instagram ‒ bilden eine spezifischere Community, viele sind der Autorin persönlich oder durch Social-Media-Austausch bekannt oder sogar befreundet, wirken durch Kommentare und Feedback auf das Schreiben ein, haben Teil, formen nähere und weitere Kreise oder, um mit einem meeresbiologischen Fachbegriff zu sprechen, den Alexis Pauline Gumbs gern verwendet, eine Variation von „Schule“.
"Für Streifendelfine (Stenella coeruleoalba) bildet Schule die Grundeinheit ihres Lebens. Das Füttern der Kinder geschieht in Schulen von 25 bis 75 Delfinen. Und Schulen dauern fort. Schulen von Erwachsenen. Schulen von Jugendlichen. Schule ist nötig.
So haben sich zum Beispiel die Streifendelfine im Mittelmeer, als in den frühen neunziger Jahren ein Krankheitsausbruch die Schulgröße auf nur noch circa sieben schrumpfen ließ, umorganisiert und wieder in für sie optimalen Schulgrößen zusammengefunden.
Ich weiß, dass das, was Wissenschaftler*innen meinen, wenn sie Delfingruppen »Schulen« nennen, eigentlich nicht dem entspricht, was ich meine, wenn ich, Schwarze feministische Buchverrückte, »Schule« sage, aber diese Delfinschulen sind Organisationsstrukturen für Lernen, Ernährung und Überleben, sowohl generationenübergreifend als auch innerhalb von Generationen. Ich denke daran, wie mein Großvater »Schule« sagte (wie den geheimen Namen des wahren Gottes, das allernötigste Mögliche) und wie viel Vertrauen er der Idee von Schule entgegenbrachte, was manchmal bedeutete, in Bildungseinrichtungen zu investieren, die dieses Vertrauen vielleicht nicht verdienten.
Was, wenn unser alltäglicher Gebrauch des Wortes »Schule« nicht auf einen Vorgang oder eine Einrichtung verwiese, durch die wir indoktriniert werden, keine Struktur, mittels der Sozialkapital angehäuft und kontrolliert wird, sondern etwas Organischeres, etwas wie ein Maß fürs Kümmern. Was, wenn Schule das Maß wäre, mit dem wir füreinander sorgen und uns miteinander fortbewegen könnten. Das wäre, was wir meiner Ansicht nach an diesem Punkt in der Geschichte wirklich am dringlichsten lernen müssten."
Alexis Pauline Gumbs gelingt es in ihren dichten Passagen anschaulich, zugleich zu erklären und zu befragen. Solche Abschnitte können für sich stehen, bilden jedoch im Lauf der Lektüre ein umfassendes, immer wieder aufeinander verweisendes Reflexionsgeflecht, eine sich vertiefende Meditation. Anhand konkreter Geschehnisse stellt Alexis Pauline Gumbs verschiedene Meeressäugetiere in ihren ‒ natürlichen wie vom Menschen geformten ‒ Habitaten und Lebensweisen vor und versucht, von ihnen zu lernen. Umfangreich trägt sie wissenschaftliche Erkentnisse, indigenes und Schwarzes Wissen zusammen, ergänzt um eigene Beobachtungen und Erfahrungen, und fragt danach, wie wir von hier aus zu lebensfreundlicheren, zugewandteren, gleichberechtigteren, diskriminierungsärmeren Sichtweisen und Gesellschaften gelangen können. So spricht „Undrowned“ aus der Geschichte und Gegenwart Schwarzer, queerer, indigener Gemeinschaften und verbindet Wissenschaftskritik mit einer neuen Art des Nature Writings, verbindet Vorschläge zu konkreten Übungen des Heilens mit dem Einüben heilsamerer Lebenspraxen. Ganz zentral ist für Alexis Pauline Gumbs dabei die Sprache, das Überwinden abwertender, hierarchisierender und das Finden poetischer, befreiter, liebevoller Sprechweisen, die unter anderem an afro-futuristische Ideen anknüpfen. In der Einleitung fasst sie es so:
"Die zugänglichsten Handbücher im Moment sind der National Audubon Society Guide to Marine Mammals of the World und das Smithsonian Handbook: Whales, Dolphins & Porpoises. Sie versammeln die verfügbaren wissenschaftlichen Informationen über Verbreitungsgebiete, Verhaltensweisen und Erscheinungsformen aller Tiere, die Wissenschaftler*innen beobachtet haben … So ging ich ins Aquarium und kaufte beide diese Handbücher in der Hoffnung, aus ihnen etwas über meine Verwandten zu lernen. Was ich feststellte, war, dass die sogenannte »neutrale« Wissenschaftssprache dieser Meereshandbücher gespickt ist mit Formulierungen der Abgrenzung und Abwertung (zum Beispiel der Begriff »herumstreunende Jugend«, um Mützenrobben zu beschreiben), mit unbeholfenen binären Zuschreibungen von biologischem Geschlecht sowie einer merkwürdigen Kriminalisierung jener Säugetiere, die sich dem Blick der Biolog*innen entzogen. Ich wollte nur wissen, welcher Wal welcher ist, und fand mich konfrontiert mit den kolonialen, rassistischen, sexistischen, heteropatriarchalen, kapitalistischen Konstrukten, die mich zu töten versuchen – das Netz, in dem ich bereits gefangen bin, sozusagen. Wie kann ich dir also erzählen, wen und was ich sah? …
Ich sehe dieses Buch nicht als Kritik an den beiden erwähnten Handbüchern. Ich sehe dieses Buch als ein Angebot an dich und als Ergebnis eines Prozesses, in dem ich stecke, namens Meeressäugetierpraktikum. Wenn es je eine Zeit gab, sich demütig den meeressäugetierischen Mentor*innen anzuvertrauen, dann jetzt. Habe ich erwähnt, dass der Meeresspiegel steigt? Hast du die Anpassung unseres Atmens bemerkt? Dies ist ein pragmatischer Studiengang. Gleichzeitig geht es in dieser Ausbildung für mich auch um eine verwandelte Beziehung zu meinem eigenen Atmen, dem Salzwasser in mir, der Tiefe meiner Trauer und den Schichten meiner Liebe. Und um Raum zu schaffen für das Lernen und Verlernen, das für mich in diesem Prozess notwendig ist, muss ich der gewaltvollen und kolonisierenden Sprache fast aller Texte, aus denen ich Informationen über Meeressäugetiere, ihr Leben, ihre Familien, ihre Superkräfte und Schwierigkeiten geschöpft habe, etwas entgegenhalten."
Die Verwandtschaft, von der Alexis Pauline Gumbs hier spricht, geht über eine allgemeine evolutionsbiologische weit hinaus. Die heute in den Amerikas lebenden Schwarzen, und in gewissem Sinne auch die Indigenen, ‒ Alexis Pauline Gumbs selbst hat sowohl indigene als auch Schwarze Wurzeln ‒ sind wie die heute lebenden Meeressäugetiere, insbesondere die großen Wale, Überlebende des transatlantischen Sklavenhandels. Dabei leben noch heute Individuen ‒ Grönlandwale etwa können bis zu 400 Jahre alt werden ‒, die Zeug:innen dieser monumentalen Verschleppungen und Ausrottungen sind. Ich sage Ausrottung. Im Sinne des Buches könnte man vielleicht treffender von Genozid sprechen. Denn eine Strategie, die Alexis Pauline Gumbs auf verschiedenen Ebenen nutzt, ist, Meeressäugetieren auf Augenhöhe zu begegnen. In der „weißen“ Theorietradition der Objektifizierung wird das gern „Anthropomorphizierung“, also Vermenschlichung, genannt und abgelehnt. Tiere sollen Tiere bleiben, kategorial getrennt vom Menschen. Aber Gumbs sieht darin ein Machtinstrument, das Unterdrückung und Ausrottung befördert. Anstatt also Begriffe wie Weibchen und Junges zu verwenden, setzt sie bewusst Mutter, Kind, Delfinin, um unsere Gleichwertigkeit als Säugetiere, als Geschöpfe, zum Ausdruck zu bringen und ein Mitfühlen zu erleichtern, sei es gegenüber Verfolgung oder Gefangenschaft, sei es gegenüber sozialen oder alltäglichen Lebenspraxen. Eine weitere Strategie ist es, anstatt Benennungen nach westlichen Entdeckern zu bestätigen, indigene Namen zu verwenden oder in Ausnahmefällen die lateinische Nomenklatur.
"Es war einmal ein riesiges Meeressäugetier, bis zu 23 Tonnen schwer, beheimatet in der Beringsee. 1741 »entdeckte« ein deutscher Naturforscher Hydrodamalis gigas, wie sie eindrucksvoll und prächtig schwamm, dreimal größer als heutige Seekühe. In nur 27 Jahren war die gesamte Art ausgerottet, erlegt auf Tausenden europäischen Jagdfahrten nach Pelz und Robbenfell.
Sie weiß, was wir wissen. Entdeckt zu werden ist gefährlich.
(…) Wie können wir die Gewalt des Bekanntseins beklagen und überleben? Wie kann Kapitalismus so schnell zerstören, was Milliarden Jahre benötigte, um zu entstehen?
Was wissen wir über dieses Säugetier der Afrotheria, verwandt mit Elefanten und Erdferkeln?
Sie besaß Blubber und wurde dafür gejagt. Man sagt, sie sang nicht. Ihr einziger Laut war das Atmen, doch sie hörte kilometerund aberkilometerweit. Was für ein Verlust an Hörvermögen. Wie können wir es ehren, das Archiv unseres Atmens?
Manche sagen, dein Tod war bloß Begleiterscheinung; du seist so bequem angesiedelt gewesen auf der bevorzugten Route der Robbenfänger und Fellhändler zwischen Russland und Nordamerika. Jene 27 Jahre waren ein einziger Goldrausch, befeuert vom Verlangen eleganter Europäer*innen nach Fellmützen und Pelz. Ein Modetrend, entfacht von der Kolonisierung Nordamerikas: ein vermeintlich endloser Quell an Fellen. Sie schlachteten und aßen dich auf ihren Fahrten. Fühlt sich dadurch jemand besser? Gewärmt? Dass deine Ausrottung – die erste bekannte durch Menschen verursachte Ausrottung eines Meeressäugetiers – Kollateralschaden war, auf der Jagd nach anderen Toden?"
Oder:
"Es gibt eine Delfinart, die nur vor den Küsten Aotearoas vorkommt und die die Maori manchmal tūpoupou nennen. Was auch aufsteigen, sich wälzen, schwer krank sein bedeutet. Es heißt, Maori-Meteorolog*innen beobachten diese Delfine seit Jahrhunderten, um Einsicht in das Wetter zu erlangen. Was uns bevorsteht und wie bald. Sollten wir aufs Meer ausfahren oder warten? Wird der Himmel auf uns fallen? Und wohin bringt uns der Wind?"
Besonderes Augenmerk legt Alexis Pauline Gumbs auf den Topos des Entdeckens/ Entdecktwerdens und die einseitige Perspektivierung westlicher Wissenschaft, die das Wissen und die Erfahrungen so vieler Menschen, und Tiere, negiert. Die vermeintlich sachliche wissenschaftliche Sprache kann dabei manchmal mehr verschweigen und verdecken, als sie vorgibt.
"Hast du von Clymene gehört? Ein beliebter Name in der griechischen Mythologie (und anscheinend auch auf dem Haarteil- und Perückenmarkt). Clymene heißt auch die Delfinart, an die Meeresbiolog* innen, die Hybridität erforschen, zuerst denken.
Wer ist sie? Eine Delfinart, die den Aufzeichnungen entging, erst kürzlich, 1981, als Art erkannt. Fehlbeschrieben, als Europäer*innen sie im 19. Jahrhundert erstmals bestimmten, und dann als Falschbestimmung abgetan. Was ist ihr Verbreitungsgebiet? Umriss und Verlauf der Route des transatlantischen Sklavenhandels. Von Westafrika bis in die Karibik und nach Nord- und Südamerika. Größe? Etwa die Größe eines geraubten Menschen. Gewicht? Etwa das Gewicht eines geraubten Menschen.
Die Clymene-Delfinin wirbelt in Revolutionen wie eine Kurzschnauzen-Spinner-Delfinin. Sie hat ein Schwarzes Cape wie eine Streifendelfinin. Wo kam sie her? Ihre Herkunft entzieht sich. Gentests ihrer Haut vor gut fünf Jahren in Portugal ergaben unterschiedliche Ergebnisse, je nach Sicht auf die Daten. Quantenhaut? Partikelgene?
Bei Zellkernanalysen schien die Clymene-Delfinin näher mit der Kurzschnauzen-Spinner-Delfinin verwandt, doch Analysen der mitochondrialen DNA (nur die mütterliche Linie rückverfolgend) zeigten eine engere Verwandtschaft zur Streifen-Delfinin. Was war passiert?
Die Hypothese lautet: Sie ist beides. Die Clymene-Delfinin ist ein Hybrid aus Spinner- und Streifendelfin*innen und darum womöglich die jüngste Delfinart, die in ihr Vorkommen evolvierte. Und obwohl hybride Arten üblicherweise von ihren Mutterarten getrennt werden müssen, um ihre eigenständigen Merkmale zu entwickeln, ist Clymene dies gelungen, während sie weiterhin in Herden von Streifen- und Spinnerdelfin*innen unterwegs war, wieder und wieder Clymenen zur Welt bringend. Ihre Korkenzieherdrehungen, ihre Schwarzen Lippen wirbelten von Westafrika zur Neuen Welt, über Jahrhunderte unter aller Augen verborgen."
Oder:
"Was bedeutet es, wenn Wissenschaftler*innen über einen Wal sagen, er sei »schüchtern«? Schwarzwale (von denen es womöglich drei verschiedene Arten gibt) stellen eines der größten Walrätsel dar. Ihr Schutzstatus lautet »Datenlage unzureichend«. Für die Wissenschaft scheint es also solche und solche Kenntnis zu geben.
Im Fall einer »neuen« Art Schwarzwale, die Philip Morin von der National Oceanic and Atmospheric Association (…) erforscht, gibt es Widersprüche. Laut Morin ist der Wal so geheimnisvoll, dass ihn noch niemand lebend zu Gesicht bekam. Der BBC hat er erzählt, es sei sogar selten, dass ein Schwarzwal tot an Land gespült werde. »Falls sie sterben …«, sagte er, »dann weit weg von den Küsten.« (Bedeutet das, er denkt, sie sterben vielleicht gar nicht?) Ich bin ganz für das Geheimnisvolle. Aber ich staune doch über das Fabrizieren von Neuheit. Besonders weil in demselben Artikel die dort, wo drei dieser »geheimnisvollen« Wale strandeten, ansässigen Japaner*innen damit zitiert werden, dass sie diese Spezies natürlich schon oft gesehen haben und sie karasu, Rabe, heiße, weil sie Schwarz ist.
Es gibt einen Unterschied zwischen schüchtern und wählerisch. Ich würde sagen, ein anderer Wal, der unter dem Namen Südlicher Schwarzwal beschrieben wird (den Naturschützer*innen und Handbücher als »schüchtern« bezeichnen), übt sich einfach in Tarnung. Das ist nicht dasselbe. »Zähne können im Sonnenlicht aufblitzen «, notiert das Smithsonian Handbook zu diesem Wal. Und auch wenn ich das Geheimnisvolle liebe, macht mich das stutzig. Wenn jemand dich meidet, meidet er dich vielleicht einfach. Wir haben das Recht, im Verborgenen zu bleiben. Darin liegt keine Einladung, uns zu kolonisieren. Keine Verführung. Grenzen können so schön sein. So viel lehren. Dieser Wal ist Schwarz, trägt aber manchmal so viele Algen, dass er braun erscheint oder orange. Eine von Wissenschaftler*innen verfolgte Gruppe dieser Wale blieb einmal eine Stunde unter Wasser, schwamm sechseinhalb Kilometer ohne aufzutauchen. Meinst du, die Forscher*innen verstanden den Wink?"
Doch Alexis Pauline Gumbs bleibt bei Kritik nicht stehen. Sehr eindringlich fragt sie nach Wegen, mit der scheinbar allgegenwärtigen Ignoranz und dem daraus folgenden Töten und Getötetwerden umzugehen, erzählt von gemeinschaftlichem Verhalten und Überlebensstrategien, die ihr bei Meeressäugetieren begegnet sind und die uns Menschen als Vorbild dienen können. Auch der Buchtitel „Undrowned“ ‒ Unertrunken ‒ spricht davon. Er verweist unter anderem auf die Fähigkeit von Meeressäugetieren, hunderte Meter tief und über eine Stunde lang zu tauchen, ohne zu ertrinken, weil sie mehr Sauerstoff als Menschen in Blut und Muskeln speichern und einen deutlich niedrigeren Ruhepuls haben. Er verweist auch auf das Überlebthaben jedes einzelnen Individuums unter schwer erträglichen Umständen: gejagt, gefangen in Ozenarien und anderen Zoos, bedroht von Umweltverschmutzung und Erwärmung der Meere, von Fangnetzen und dem Lärmen der Handels- und Kreuzfahrtrouten ‒ bis zur Verunmöglichung von Echoortung und Kommunikation ‒, von Mikroplastik, Medikamenten, Verklappung, Ölpesten, Überfischung, Ausbeutung der Tiefsee. Und Alexis Pauline Gumbs verliert dabei nicht aus dem Blick, wie groß die Herausforderungen sind, wie lang anhaltend unser Atem werden muss, um sie zu bewältigen, an ihnen zu wachsen, zu evolvieren. Und dass unser Evolvieren zugleich individuell und gemeinschaftlich, generationenübergreifend, artenübergreifend sein muss.
"Welche intergenerationellen Praktiken haben bei manchen Delfinen und Walen Dorsalfinnen hervorgebracht? Welche erfahrungsbasierte Weisheit führte bei Grönlandwalen zu immer größer werdenden Wirbelsäulen und Speck oder bei Flussdelfinen zum Seitwärtsschwimmen? Was wissen Blauwale, das sie tagelang fasten und planetweit singen lässt?
Ich glaube an die Möglichkeit dorsaler bzw. stabilisierender Praktiken in unseren eigenen Leben. Ich schwöre auf die Entwicklung von Rückgrat und Rumpfmuskulatur im verkrümmten Leben zumindest einer Person mit Skoliose (ich).
[...]
Ja. Ich will eine Finne. Ich denke, ich kann eine bilden, mit der nötigen Praxis.
Was sind deine dorsalen Praktiken? Welche evolutionären Wiederholungsmuster hast du ausgebildet, um dich durch Meere zu bewegen? Welche musst du ausbilden für die Wellen, die dich jetzt bewegen?"
Ihre 19 Meditionen ‒ Hören, Atmen, Erinnern, Üben, Kollaborieren, Verletzlich sein, Hier sein, Unbändig sein, Aus Konflikten lernen, Grenzen ehren, Dein Haar respektieren, Dem Kapitalismus ein Ende setzen, Verweigern, Sich ergeben, Vertiefen, Schwarz bleiben, Langsamer werden, Ausruhen, Kümmern ‒ beschließt Alexis Pauline Gumbs mit einer 20.: Übungen, für jede vorangegangene Meditation zwei, einmal „ÜBUNGEN (FÜR DICH ALLEIN)“, einmal
"ÜBUNGEN (FÜR DEINE SCHULE / DEIN TEAM)
Such dir für diese Übungen eine*n Freund*in oder zwei oder drei oder mach sie mit deiner Organisation, deinen Arbeitskolleg*innen, Nachbar*innen, Familie etc."
Zum Beispiel:
"Dem Kapitalismus ein Ende setzen:
Wir können den Kapitalismus beenden, ein transformiertes Verhältnis nach dem anderen. Wähle einen Aspekt unseres Wirtschaftssystems, der in diesem Buch erwähnte Meeressäugetiere verstrickt, und verändere dein Verhältnis zu ihm für mindestens dreißig Tage. Ich zum Beispiel habe mich selbst verpflichtet, nichts zu essen, was direkt aus dem Meer stammt. Gibt es ein Nahrungsmittel, das den Einsatz von Fischerbooten involviert, zu dem du deine Beziehung ändern kannst? Deine Beziehung zu Öl? Zu Tourismus? Ändere dein Verhältnis für mindestens dreißig Tage und schau, was du daraus über Vernetztheit, Komplizenschaft, Möglichkeitssinn und Freiheit lernen kannst."
Nun habe ich noch wenig zur eigentlichen Übersetzungsarbeit gesagt. Das Verblüffende und dabei besonders Herausfordernde war der leichtfüßige, oft poetisch dichte Tonfall, mit dem Gumbs komplexe Sachverhalte auf den Punkt bringt. Hier kamen mir meine vielfältigen Erfahrungen beim Übersetzen, Schreiben und Lektorieren von Lyrik entgegen. Und auch meine durch die Pandemiejahre mit zwei Kleinkindern intensivierte Nutzung von Instagram. Für das richtige Vokabular die einzelnen Arten betreffend, oder um Begrifflichkeiten zu entscheiden, musste ich oft länger recherchieren, „tief tauchen“, wie Alexis Pauline Gumbs es nennt. Von diesen Tauchgängen habe ich mehr mitgebracht, als ich hier formulieren kann. Zu eigenen Tauchgängen kann ich mit Alexis nur ermutigen.