Journale Übersetze mich, bevor ich schreibe
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Übersetze mich, bevor ich schreibe

Theater (vor)übersetzen. Ein Podcast

2023 übersetzt Julie Tirard das Theaterstück Pirsch von Ivana Sokola. Anlässlich einer gemeinsamen Übersetzungsresidenz stellt sich die Frage nach der Zeitlichkeit der Übersetzung: Übersetzt sie den Text genau so, wie er ein Jahr zuvor geschrieben wurde oder nutzt sie die Übersetzung, um Änderungen einzubauen? Ausgehend von Ivana Sokolas Entscheidung, den Text erneut zu öffnen denkt Julie Tirard über diese Art des Arbeitens nach. Wie weit könnte das gehen? Was wäre, wenn die Übersetzung schon begonnen würde, bevor der Text überhaupt fertig ist? Was wäre, wenn wir die Texte direkt in zwei Sprachen erschaffen würden, statt sie zu übersetzen? Was wäre, wenn es kein Original mehr gäbe? Antworten in drei Podcastfolgen.

Dieser Podcast ist ebenfalls auf Spotify und Apple Podcasts verfügbar.

FOLGE EINS
DEN TEXT ERNEUT ÖFFNEN

Theatertexte übersetzen während sie noch im Entstehen begriffen sind, das Übersetzen in den Schaffensprozess integrieren – Julie Tirard beschreibt, wie ihr die Idee zu diesem Podcast kam und spricht mit zwei „ihrer“ Autorinnen: Ivana Sokola und Julia Haenni.

Den Text erneut öffnen

12:13

„Den Text erneut öffnen, das heißt, wieder in die Schaffensphase einzutauchen.

Es bedeutet, sich erneut auf die abenteuerliche Suche nach dem richtigen Wort, dem richtigen Bild zu begeben, die Sätze und Figuren zu hinterfragen, aber diesmal zu zweit.

Zu zweit diese beschwerliche Reise antreten: Die Wirklichkeit beim Eintauchen in den Text hinter sich lassen.

Keine Frage-Antwort-Übersetzung, sondern ein Kopfsprung in die Textbewegungen.

Seite an Seite, Hand in Hand.“

FOLGE ZWEI
„NOSTALGIE DER ABWESENDEN SPRACHE“1

In Gesprächen mit der haitianischen Autorin Andrise Pierre und dem luxemburgischen Autor Ian de Toffoli geht es um mentales Übersetzen und darum, welchen Einfluss mehrere Muttersprachen beim Schreiben haben.

Nostalgie der abwesenden Sprache

18:35

„Die meisten der zweisprachigen Autorinnen und Autoren übersetzen sich nicht selbst. Und die, die es tun, schreiben, wenn man genau hinsieht, einen anderen Text. Manchmal sogar etwas vollkommen anderes, nah an der Idee, aber an manchen Stellen doch sehr anders.

Die andere Sprache kann das Erlebte einer Figur nie in vollem Ausmaß empfangen. Weil ihr einfach Worte fehlen. Bezugspunkte. Beim Übersetzen werden die Lücken einer Sprache sichtbar. Dennoch ist jede Lücke auch ein Ort, in den man schlüpfen kann. Den man erkunden kann. In jeder Lücke gibt es unentdeckte Schätze.

Und die Suche danach macht süchtig.“

FOLGE DREI
ÜBERSETZE MICH, BEVOR ICH SCHREIBE

Oft macht Julie Tirard ihren Autorinnen Vorschläge. Im Falle der Übersetzung von Ivana Sokolas Stück Pirsch war es sogar ein großer Vorschlag: Das Geschlecht der Figuren zu ändern. In dieser dritten und letzten Folge fragt sie sich, inwiefern der (per se politische) Theatertext eine Überarbeitung braucht, um so lang wie möglich aktuell zu bleiben.

Übersetze mich, bevor ich schreibe

20:35

„Für mich ist ein Theatertext wie ein Haus. Es ist wichtig, dass mehrere die Schlüssel dazu haben.“

©Renard

Dieser Podcast wurde durch zahlreiche Lektüren, Radiosendungen, Gespräche und Übersetzungen genährt. Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber enthält die Inspirationen, die ich euch ganz spontan ans Herz legen möchte: Was die Besonderheiten bei der Theaterübersetzung betrifft, möchte ich das Werk Traduire le théâtre (es ist auf Französisch), herausgegeben von Céline Frigau Manning und Marie Nadia Karsky empfehlen und ganz besonders den Beitrag von Celia Bense Ferreira Alves über die Frage der Hierarchie zwischen Autorin und Übersetzerin. Wenn ihr Lust habt, etwas über Theaterübersetzerinnen und ihre Berufspraxis zu erfahren, gibt es auf der Website Plateforme.de eine Menge spannender Artikel und Interviews zu lesen. Für die französischsprachige Zuhörerschaft empfehle ich das Interview auf France Culture in dem Manou Farine mit Alexandre Pateau über seine Rolle als Übersetzer der Dreigroschenoper spricht. Er erzählt von seiner Zusammenarbeit mit Thomas Ostermeier und La Comédie Française. Das ist absolut spannend.

Zum Thema historische Sprachzirkulation kann ich The Fall of Language in the Time of English von Minae Mizumura empfehlen. Im Original auf Japanisch oder ins Englische übersetzt von Mari Yoshihara und Juliet Winters Carpenter.

Ich bedanke mich sehr bei Ivana, Ian, Julia und Andrise. Die Texte von Ian De Toffoli findet ihr (auf Deutsch und Französisch) bei Hydre Éditions. Frère et soeurs von Andrise Pierre wurde noch nicht verlegt, aber La petite fille que le soleil avait brulée ist erst kürzlich bei Espaces 34 in Frankreich erschienen.

Ich möchte Solveig Bostelmann und Aurélie Maurin von Herzen danken für ihr erneutes Vertrauen sowie für die mir zur Verfügung gestellten Mittel, die mir die Produktion dieses Podcast unter besten Bedingungen ermöglicht haben. Weiterhin danke ich dem Übersetzerhaus Looren für die Beherbergung. Paula Rauhut für die Übersetzung ins Deutsche und dafür, dass sie der Theaternärrin ihre Stimme geliehen hat. Und Sika Fakambi, die die deutsche Stimme von Andrise geworden ist.

22.01.2024
Fußnoten
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PDF

©Chloé Desnoyers

Julie Tirard ist in Aubagne (Frankreich) geboren. Sie schreibt Theater und Lyrik. Sie übersetzt feministische Texte (u.a. von Bettina Wilpert, Julia Haenni, Sivan Ben Yishai, Ivana Sokola, Eva Maria Leuenberger…) aus dem Deutschen und dem Englischen.

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