Journale Prosa Worte wie Wasser

Worte wie Wasser

Journal zur Übersetzung von Bruno Pellegrinos Stadt auf Zeit

0 Weihnachten
1 „Jedes Schreiben ist kollektiv“
2 Walzer Für Niemand
3 Die provisorische Stadt

©Bruno Pellegrino

0 Weihnachten

Übersetzer·innen sind vieles, Übersetzer·innen können vor allem vieles sein, doch selten sind sie Figuren in einem Roman.

Der Name Bruno Pellegrino ist mir zum ersten Mal begegnet, als ich gerade in einer langen Schlange an der Kasse eines Berliner Buchladens stand. Es war der 22. Dezember 2015, und nicht nur ich war auf der Jagd nach letzten Geschenken, sondern gefühlt die halbe Stadt, deswegen die lange Schlange, deswegen der übervolle Buchladen, und weil mir beim Warten an der Kasse langweilig war und ich inzwischen sämtliche Klappentexte der Bücher in meinem Korb schon dreimal gelesen hatte, zog ich mein Handy aus der Tasche und checkte meine Mails. Und da war sie. Eine Anfrage vom Rotpunktverlag. Es ging um den Debütroman eines Westschweizer Autors, Abgabe sei ein halbes Jahr später, das Buch als PDF anbei. Es war für mich das größte Weihnachtsgeschenk überhaupt. Denn als Übersetzerin will man ja nur eins: übersetzen. Nachdem ich also den Roman gelesen und für mich geprüft hatte, ob ich der Meinung war, die richtige Stimme für diesen Text entwickeln zu können, sagte ich zu.

Bruno Pellegrino: Atlas Hotel. Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow. Rotpunktverlag, 2016.

Bruno Pellegrino: Wo der August ein Herbstmonat ist. Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow. verlag die brotsuppe, 2021.

 

Bruno Pellegrino: Stadt auf Zeit. Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow. verlag die brotsuppe, 2023.

 

1 „Jedes Schreiben ist kollektiv“

Atlas Hotel erschien 2016 im Rotpunktverlag, 2021 durfte ich Brunos zweiten Roman übersetzen, Wo der August ein Herbstmonat ist, diesmal für den verlag die brotsuppe. Und 2023 lag schließlich auch sein drittes Buch auf meinem Schreibtisch: Dans la ville provisoire.1 Zwischen 2016 und 2023 hatten Bruno und ich uns oft geschrieben, oft getroffen, in Lausanne, Genf, Berlin oder Frankfurt, in sommerheißen Parks oder bei eisiger Kälte vor der Schweizer Alpenkulisse, wir diskutierten, tauschten uns aus, über sein Schreiben, mein Übersetzen, Bücher überhaupt, und regelmäßig ließ ich meine zahlreichen Fragen auf ihn los, avalanche de questions nannte ich das, Fragenlawine.

Deutsche Übersetzung des Mailaustauschs:

„Jenseits des Kanals und des Gebäudes gegenüber, hinter den roten Ziegeldächern, noch mehr Dächer, Satellitenschüsseln, schmiedeeiserne girouettes, der mit einem Metallgerüst verstärkte Frontgiebel einer Kirche.“
Entscheidende Frage :-) Stellst du dir die girouettes (auf Dt.: Wetterfahne, Wetterhahn? – Anm. d. Übers.) eher in Form eines Hahns vor oder eher abstrakt?

Haha, das ist ja, als würde ich mir die Inneneinrichtung meiner Wohnung aussuchen! Ich glaube, ich tendiere zu der abstrakteren Form.

Am Ende übersetze ich den Text und nicht, was der·die Autor·in sagen wollte. Es geht darum, sich von der eigenen Lawine nicht begraben zu lassen. Aber der Dialog mit den Autor·innen, deren Werke ich übersetzen darf, beflügelt mich immer, ich liebe es, nach Details zu fragen; manchmal überrascht mich die Antwort, manchmal bestärkt sie mich, manchmal enttäuscht sie mich. Immer muss ich selbst entscheiden, was ich mit ihr anfange, wie nah ich sie an mich bzw. meine Übersetzung heranlasse oder ob ich sie doch loslassen muss. Alles gleiche ich mit dem Text ab, der vor mir liegt. Aber immer wieder steckt im Austausch mit den Autor·innen ein Schlüssel, den ich vorher noch nicht greifen konnte. Meine Gespräche mit Bruno, unsere Korrespondenz, sie inspirieren mich, sie begleiten mich, beim Lesen, beim Übersetzen, und manchmal geben sie mir den entscheidenden Impuls; dann erscheint mir plötzlich die Lösung, ein Wort, ein Satz, eine Wendung, ganz klar, im Grunde alternativlos, und dann ist es für einen Moment, als würden wir gemeinsam übersetzen. Auch wenn wir kein einziges Wort auf Deutsch austauschen.

Deutsche Übersetzung des Mailaustauschs:

„Erst am Ende des Tages, wenn ich das vergitterte Gartentor schloss, frischten das Surren der Bootsmotoren zwischen den Häusern, der Geruch nach Algen, Urin und Chlor in den Gassen und quelque chose de flou dans la lumière meine Erinnerung wieder auf.“
„Quelque chose de flou dans la lumière“ – liest sich das „flou“ eher negativ oder eher positiv oder völlig neutral? Ist das so wie „sanft“? Oder „nicht klar“, „trübe“? Beziehungsweise: Beschreibt das „flou“ das Licht selbst oder drückt es vielmehr die Unfähigkeit des Erzählers aus zu benennen, was das Besondere an diesem Licht ist?
Für mich hat dieses „flou“ fast einen eigenen literarischen Wert, und das im positiven Sinne: Es ist alles, was du sagst, sanft, trübe, schwer zu definieren. In Tortues (Brunos viertem Buch – Anm. d. Übers.) sage ich, dass ich „dem flou verpflichtet“ sein will, wenn ich schreibe: Ich will den Dingen gerecht werden, die schwer zu greifen, die nicht eindeutig sind. Hier, in Venedig, ist auch oft das Licht so, zerstreut, dunstig, man weiß manchmal nicht einmal genau, woher es kommt.

So wird aus quelque chose de flou dans la lumière „eine gewisse Unschärfe des Lichts“.

Anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2023 hält Bruno für die „OFF Bühne Schweiz“ eine Rede auf Deutsch. Er beginnt sie mit dem Satz:

Jedes Schreiben ist kollektiv.

Er spricht über seine Anfänge als Autor, und dann beschreibt er einen Schlüsselmoment in Spiegelperspektive:

Und dann interessierte sich ein deutschsprachiger Verlag für meinen Debütroman und gab die Übersetzung einer Person in Auftrag, die ich nicht kannte: Lydia Dimitrow. Es war das erste Mal, dass ein Text von mir in eine andere Sprache übersetzt wurde. Ich wusste nicht, was mich erwartete, und fühlte mich ziemlich verletzlich. Lydia kontaktierte mich, wir haben uns getroffen, sie hat angefangen, mir Fragen zu stellen. Allgemeine Fragen zum Text, zur Handlung, zu den Figuren oder Landschaften. Und dann spezifischere Fragen: Dieses Adjektiv auf Seite 20, das auf Seite 156 noch einmal auftaucht, war das beabsichtigt? Ich habe schnell verstanden, dass niemand meinen Text je so gründlich gelesen hatte. Nicht einmal ich selbst. Ihre Fragen haben mich herausgefordert, amüsiert, oft zum Lachen und zum Denken gebracht.

Ich muss schlucken. So fühlt es sich also an, von meiner Fragenlawine überrollt zu werden. Bruno fährt fort:

Als der Text auf Deutsch veröffentlicht wurde, war mein individuelles Buch offiziell zu einem kollektiven Buch geworden.

Übersetzungen sind für mich der Ort, an dem die Vielstimmigkeit unserer Welt, unserer Literaturen so klar hervortritt wie selten sonst. Ich glaube, darin liegt für mich die Faszination des Literaturübersetzens: Verschiedene Tonalitäten, Perspektiven kommen zusammen, legen sich übereinander, der Text gehört nicht mir, sondern uns, das Verschieben des eigenen Horizonts gehört zum Prozess unabdingbar dazu. Der vielbeschworenen Einsamkeit unseres Berufs steht entgegen, dass ich nie allein bin.

Bruno kommt in seiner Rede auf den Entstehungsprozess von Wo der August ein Herbstmonat ist zu sprechen:

Parallel dazu begann ich, ein zweites „individuelles“ Buch zu schreiben. Und da bemerkte ich, dass neben Ramuz, Proust, Duras und Gustave Roud – dem Dichter, der die Hauptfigur des Romans war und dessen Stimme mich verfolgte – ich auch mit Lydia, Lydias Stimme in meinem Kopf rechnen musste: Und dieses Adjektiv, bist du sicher? Warum sieht dieser Satz überhaupt so aus? Wie klingt das? Was meinst du genau? Ich meine: ganz genau?

Als ich da so auf der Frankfurter Messe in Halle 3.1 stehe und das höre, wird mir heiß und kalt. Ich hoffe sofort, dass meine Stimme in Brunos Kopf nicht unerbittlich klingt, sondern sanft. Neugierig. Dass sie nicht einengt, sondern etwas eröffnet. Doch die Hallräume, die beim Übersetzen entstehen, sind unberechenbar. Sie können weite Landschaften bergen, unbetretene Pfade, aber zuweilen auch eine raue See. 

2 Walzer Für Niemand

Ich war ziemlich verblüfft, als Bruno mir eröffnete, dass im Zentrum seines neuen Romans eine Übersetzerin stehen würde. Es ist ein schmaler Band, knappe 140 Seiten, ein namenloser Ich-Erzähler wird von einer Stiftung beauftragt, das Werk einer bekannten Übersetzerin zu sichten. Ohne ihr je zu begegnen oder sie vorher gekannt zu haben, sortiert er in ihrer verlassenen Wohnung Bücher, Manuskripte, Zettel und Notizen, durchforstet Schränke und Schubladen, fährt über staubige Oberflächen und knittriges Papier.

Auf einem Tisch vor dem Fenster ergoss sich ein Meer von bedruckten und handgeschriebenen Blättern, Ordnern, ein Stapel Wörterbücher, die so aussahen, als hätte sie schon lange niemand mehr in die Hand genommen.2

Beim Lesen beschleicht mich das Gefühl, dass der Protagonist und ich im Grunde etwas sehr Ähnliches tun, er in der leeren Wohnung, ich beim Übersetzen. Er tastet sich durch einst bewohnte Räume, geht Fährten nach, versucht Details zu einem großen Ganzen zusammenzusetzen, sich ein Bild zu machen, zwischen den Zeilen zu lesen.

Ich musste mehrmals gehen, um den Großteil der Papiere einzusammeln, die überall im Haus verteilt herumlagen. Ein paar Mappen aus Karton waren unters Bett gerutscht. Einige der Manuskripte wirkten alt, waren mit braunen Flecken übersät wie eine Haut. Exemplare von Büchern, die sie übersetzt hatte, stapelten sich zu Dutzenden in ihrem Kleiderschrank. Im Bad entdeckte ich lose Blätter zwischen den Toilettenpapiervorräten und Notizbücher im Arzneischrank.3

Gleichzeitig fühle ich mich auch auf einer anderen Ebene seltsam angesprochen: Stellt man sich so die Wohnung, das Leben einer Übersetzerin vor? Stellt man sich mein Leben so vor? Oder wird meine Wohnung irgendwann einmal so aussehen?

Ihre Logik erschloss sich mir nicht. Die Bretter ihres Bücherregals im Wohnzimmer bogen sich unter allem möglichen Nippes, ausgebleichten Muscheln, Zuckerdosen aus Zinn, Schatullen, kleinen Figuren.4

Ich fühle mich ertappt. Meine Bücher im Wohnzimmerregal ordne ich nicht alphabetisch, sondern nach Sprache (Englisch im Original, Englisch in Übersetzung usw.), Genre (Roman, Gedichte, Sachbuch, Jugendbuch usw.) und Vorliebe (nur mit oder auch ohne Leiter zu erreichen, erste oder zweite Reihe etc.); aber mittendrin und überall dazwischen: ein kleiner Bär aus Holz, ein Globus, der auch leuchten kann, ein Wecker mit Temperaturanzeige, eine 90er-Jahre-Glasfaserlampe, eine weiße Winkekatze, ein Radiergummi in Form eines Aliens, Untersetzer mit Kois drauf, eine Schachtel mit alten Briefen, ein Holzkästchen mit ungewissem Inhalt, eine Kartensammlung mit dem Titel „Katzen-Orakel“, ein paar lose Fotos, ein Aufzieh-Roboter, ein alter Karamellbonbon, eine Batman-Figur.

Aber auch überall sonst türmten sich die Bücher, auf dem Sofa, dem Couchtisch, stapelweise neben dem Fernseher oder aufgereiht auf dem Boden.5

Ich muss mich schütteln, so albern komme ich mir vor. Das da in dem Roman bin ja nicht ich, und das denkt doch auch niemand, nur weil wir beide Übersetzerinnen sind, haben wir noch lange nicht viel gemeinsam. Aber dann gibt es da Passagen, die sich lesen, als hätte mir jemand bei der Arbeit unbemerkt über die Schulter geschaut. Oder noch schlimmer: in den Kopf.

In der Nacht riss sie ein Satz aus dem Schlaf. Sie schlug die Augen auf und wusste sofort, wie sie es angehen musste, aber bis sie ihre Nachttischlampe eingeschaltet, den Bademantel übergezogen und ihren alten Computer hochgefahren hatte, war ihr die Lösung wieder entglitten. (...)
Ihr Einfall hatte mit einer langen Reihung von Adjektiven zu tun, die dem Original einen Rhythmus verlieh, sich aber in ihrer eigenen Sprache behäbig gab.6

In mir keimt der Verdacht auf, dass Bruno heimlich selbst übersetzt. Ich stelle mir vor, wie er nachts im Bademantel am Schreibtisch sitzt, vor seinem alten Computer, und übersetzt, nur für sich, nur zum Vergnügen, vielleicht Thomas Mann oder Jonathan Franzen, ein Gedicht von Emily Dickinson. Vielleicht ist das Schreiben dem Übersetzen auch einfach nur so ähnlich? Oder habe ich in den letzten Jahren so viel preisgegeben?

Sie nahm einen Schluck Tee, er war noch nicht durchgezogen. Vielleicht müsste sie noch einmal ganz von vorn anfangen. Mit steifem Nacken, trockenen Augen, der frühen Dämmerung und den Sirenen, im flimmernden Zimmer und voll hereinstürzender Traurigkeit, ja, so, ja, dahin geht die Zeit.7

Ich kann mich nicht entscheiden, ob die verdoppelte Verdopplung mich inspiriert oder beängstigt. Hinzu kommt, dass der Ich-Erzähler des Romans so sehr damit beschäftigt ist, auf den Spuren dieser Unbekannten zu wandeln, der er nie begegnen wird, dass auch die Grenzen zwischen ihm und ihr immer poröser werden.

Ich setzte mich an den Tisch, schraubte das Fläschchen auf und strich den Pinsel am Rand ab. Meine Handgriffe verdoppelten sich, ich sah die Übersetzerin dieselben ausführen. Sie musste sich Zeit gelassen, sich unterbrochen haben, um vorsichtig etwas im Wörterbuch nachzuschlagen oder die Schreibweise eines Adjektivs zu überprüfen. Schließlich bewunderte sie ihre Nägel in Mitternachtstaupe (...). Aber so sehr ich mich bemühte, die Flasche schüttelte, eine zweite Schicht auftrug, der Lack war alt und klumpte.8

Mich als Übersetzerin in diesem Roman zu bewegen, ist wie mich in ein Spiegelkabinett vorzuwagen.  Der Text spielt mit Anwesenheit und Abwesenheit, Parallelen, Ungesagtem. Er lässt viel Raum für Deutung, verwehende Namen, verwischende Spuren.

Jede meiner Übersetzungen hatte bisher ihren eigenen Soundtrack. Musik, meist ein einzelner Song, manchmal ein Album, die mich während des Übersetzens begleitet, die für mich musikalisch einen Kern trifft, einen Gedanken, eine Stimmung. Während ich Dans la ville provisoire übersetze, ist dieser Soundtrack: „Walzer Für Niemand“ von Sophie Hunger.9 Sie singt:

Niemand, keiner kennt mich wie du
Unbedingt, ich geb' alles zu

Und direkt vorher:

Niemand, ich habe Geschenke für dich
Was wäre ich geworden gäb es dich nicht

Meine gesammelten Werke, bitte sehr
Alles gehört dir

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Sophie Hunger: Walzer Für Niemand

3 Die provisorische Stadt

Neben dem Ich-Erzähler und der Übersetzerin gibt es in Brunos Roman noch eine dritte Protagonistin: die Stadt.

©Bruno Pellegrino

Dreißig Jahre ist es her, dass die Übersetzerin sich dort niedergelassen hat, und der Ich-Erzähler bereist die Stadt zum ersten Mal. Sie bleibt zwar namenlos, aber schnell wird klar, dass ihre Gemäuer nicht nur von Wasser umgeben sind, sondern durchdrungen werden, und so habe ich doch eine ziemlich genaue Ahnung davon, welche Bilder ich bei meinen Recherchen aufsuchen muss. Ich lese Artikel über ein Sturmflutsperrwerk namens „Modulo Sperimentale Elettromeccanico“ (kurz MO.S.E), sehe auf der Karte nach, wo der Fluss Sile verläuft, betrachte Nahaufnahmen von Kreuzfahrtschiffen, bin sehr verzückt, als ich auf das Wort „Duckdalbe“ stoße, und muss wiederum laut lachen, als ich auf Wikipedia erfahre, dass das Wort angeblich auf den Herzog von Alba zurückzuführen ist, der wohl in Häfen der ehemals spanischen Niederlande solche Pfähle hat aufstellen lassen; klar, Herzog von Alba, auf Spanisch Duque de Alba, Duckdalbe eben.

Hier flossen die Flüsse des Festlands zusammen, verwoben ihre Mündungen und bildeten so eine von kleinen Inseln übersäte und von Strömungen durchzogene Fläche, die ein Küstenstreifen vom Meer abschirmte.10

Am Horizont werden Licht und Wasser ununterscheidbar, überall tropft und sickert es, das Meer ist allgegenwärtig, eine behäbige Masse, ein leises Plätschern, sanfte Wellen, die Fluten machen vor nichts Halt, hartnäckig arbeiten sie sich vor und nagen an den Dingen.

Als ich später schließlich die Augen aufschlug, waberte ein Aquariumsschimmer durch den Raum. Türkisfarbene, wogende Lichtreflexe versetzten die Decke in Aufruhr. Um mich herum kräuselten kleine Wellen die Laken.11

Ich frage mich, ob mein Erzähler mit feuchtem, klammem oder schwitzigem Oberkörper im Bett hochschreckt, wenn die Sirenen mitten in der Nacht losgehen. (Für mich: mit klammem.) Ich suche nach fließenden Sätzen, flüssigen Bildern, Synonymen für „Meer“ und „Kanal“, mein Wasser strömt und spritzt und rinnt und murmelt, Gischt schäumt, Wellen schlagen gegen den Kai. In meinem letzten Überarbeitungsdurchgang entscheide ich mich dann, ein paar Stellen im Text doch wieder trockenzulegen. Aus:

Die feuchte Luft sickerte durch die Laken.

Wird:

Die feuchte Luft kroch zwischen die Laken.12

Ich will mich nicht selbst verleiten, Wasserwörter inflationär zu verwenden, doch wenn sie ein Bild ergeben, das für mich stimmt, füge ich sie ein. Aus:

Das Geräusch setzte sich fort, eine Art Rascheln, gedämpfte Stimmen.

Wird in meinem letzten Durchgang:

Die Geräusche ebbten nicht ab, eine Art Rascheln, gedämpfte Stimmen.13

Während ich mir einen Weg durch das Dickichts des Texts bahne, sehe ich auch hier meinen Übersetzungsprozess wie in der Bewegung des Ich-Erzählers gespiegelt:

Ich näherte mich der Stadt, wie man sich eine Fremdsprache aneignet, mitsamt Regeln und Ausnahmen, Vokabeln und Aussprache. Sie zu durchwandern, war wie Sätze zu formulieren, es ging darum, sich nicht zu verhaspeln, keine Kehrtwendung machen oder nach dem Weg fragen zu müssen.14

Sich nicht zu verhaspeln, darum geht es mit jedem Satz, um den man ringt. Eine besondere Herausforderung sind dabei die präzisen Beschreibungen, mit denen Brunos Roman sein Bild von der Stadt zeichnet.

Au centre de la place trônait un très vieux puits de pierre, orné d’un lion sculpté et scellé par un couvercle métallique.15

Diese Detailfülle birgt ihre Tücken: Der Brunnen ist nicht nur alt, sondern auch noch sehr alt, man könnte sagen steinalt, wenn der Brunnen nicht auch noch aus Stein wäre; noch dazu ist da irgendwie eine Löwenskulptur, und der Brunnen scheint kein Wasser mehr zu führen, sondern mit einem Deckel aus Metall versiegelt worden zu sein. Ich wage einen ersten Versuch:

In der Mitte des Platzes thronte ein alter Steinbrunnen, verziert mit einer Löwenskulptur und versiegelt mit einem Metalldeckel.

Im Deutschen macht ein „sehr“ nicht immer alles stärker, also verzichte darauf; das „verziert“ und „versiegelt“ hänge ich als Nachklapp an und bleibe dabei dicht am Französischen. Manchmal funktionieren solche nachgestellten Partizipialgruppen gut – sie können durch ihre Unverbundenheit etwas sehr Offenes haben, eine poetische Schwebe entstehen lassen; nur passt dieser Effekt hier nicht zu meinem Satz und geht mindestens durch das „und“ nicht auf. Zweiter Anlauf:

In der Mitte des Platzes thronte ein alter, mit einem Metalldeckel versiegelter Steinbrunnen, ihn zierte eine Löwenskulptur.

Ich hole also ein Element vor unseren Brunnen, das andere lasse ich in einem zweiten Satz aufgehen. Allerdings wird die Löwenskulptur dadurch plötzlich wichtiger, als sie ist. Nächste Variante:

In der Mitte des Platzes thronte ein alter Steinbrunnen, er war mit einem Metalldeckel versiegelt und wurde von einer Löwenskulptur geziert.

Diese Version schafft es sogar in die Druckfahnen, aber auch die gefällt mir immer noch nicht, für mich liest sich die Stelle wie ein nicht gelungener Schulaufsatz. Letzte Fassung:

In der Mitte des Platzes thronte ein alter, von einer Löwenskulptur gezierter Steinbrunnen, den man mit einem Metalldeckel versiegelt hatte.16

Wenn ich in meinen alten Übersetzungen blättere, dann stolpere ich noch über solche Sätze – manchmal sogar über welche, mit denen ich viel weniger oder auch gar nicht gehadert habe – und dann fällt mir plötzlich eine vielleicht viel bessere Lösung ein: Wie konnte ich damals nicht darauf kommen?

Dieser verspätete Aha-Effekt macht mir keine Angst, ich finde ihn im Gegenteil beruhigend. Alles ist eben im Fluss, wir übersetzen weiter, lesen weiter, lernen weiter, Texte erscheinen in einem neuen Licht, Worte gewinnen neue Bedeutung, Gewissheiten geraten ins Wanken. Vielleicht ist jede Übersetzung am Ende auch nur eine Stadt auf Zeit, eine provisorische Stadt, man kann in ihr wandeln, sie erkunden, sich auf sie einlassen, aber man darf nicht erwarten, dass jeder Stein auf dem anderen bleibt. Alte Gebäude machen neuen Platz, Mauerwerk bröckelt, Grashalme bohren sich durch Asphalt. Man muss eine Stadt nicht aufgeben, nur weil sich ihre Gestalt verändert. Wir können sie bewundern, bereisen, bewohnen, wir können weggehen – und irgendwann wiederkommen.

©Bruno Pellegrino

16.01.2024
Fußnoten
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
PDF

©Sophie Kandaouroff

Lydia Dimitrow, geboren 1989 in Berlin, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und arbeitet als Autorin, Dramaturgin und Literaturübersetzerin. Sie übersetzt aus dem Französischen und aus dem Englischen (u.a. Pascal Janovjak, Jamey Bradbury, Bruno Pellegrino und Kwame Owusu) und wurde 2022 mit dem Terra nova Preis für Übersetzung ausgezeichnet. 2023 erhielt sie eines der Berliner Arbeitsstipendien für Literatur in deutscher Sprache, vergeben von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Außerdem ist sie Gründungsmitglied der deutsch-französischsprachigen Theaterkompanie mikro-kit.

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