Gelebte Übersetzung
Journal zur Übersetzung von Allzumenschliches von Catherine Meurisse
Lebende Sprache
Paris, 2008. Mein erster Gang durch die Stadt, die mein neues Zuhause werden soll, führt mich zu Gibert Jeune. An der Place Saint Michel, gegenüber der Île de la Cité gelegen, ist diese Buchhandlung fester Bestandteil jedes Studiums an der Sorbonne. Schließlich gibt es hier nicht nur das gesamte Sortiment von Gallimard, Flammarion und anderen wichtigen Verlagen Frankreichs, sondern auch endlose Regale voll reduzierter oder gebrauchter Bücher. Weil die Ausgaben so billig sind, kaufe ich René Descartes, Michel de Montaigne, Marcel Proust, Simone de Beauvoir und alles von Jean-Jacques Rousseau. Zwanzig Bücher im Monat kann ich mir leisten, alles übrige entleihe ich in der Bibliothek der Sorbonne. In Montaignes Essais (1580-1588) verliebe ich mich auf der ersten Seite, auch wenn ich am Anfang noch mit dem Französisch des 16. Jahrhunderts zu kämpfen habe. Descartes regt mich mit seinem Discours de la méthode (1637) zum logischen Denken an, Rousseau hingegen scheint mir in seinen autobiografischen Confessions (1765-1770) ein eher weinerlicher Geselle. Über die nächsten zwei Jahre stopfe ich die Einbauregale in meiner kleinen Wohnung hoch über der Rue de Rivoli mit klassischer französischer Literatur voll. Alles will ich lesen, sei es noch so anspruchsvoll. Lego ergo sum.
Berlin, 2023. Ich ziehe Proust aus dem Bücherregal, die Seiten sind mittlerweile braun angelaufen. Die Lesezeichen und Notizen erinnern mich daran, wie oft ich À la Recherche du temps perdu (1913-1927) in den letzten Jahren zur Hand genommen habe. Die Bücherregale sind seit meiner Pariser Zeit größer und länger geworden, es hat sich mehr asiatische und afrikanische Literatur unter die europäischen Klassiker gemischt. Ein Gros der Bücher ist auf Englisch geschrieben, die Cover sind deutlich bunter als die in schlichtem Weiß gehaltenen Standardausgaben von Gallimard. Mein ganzes Leben lässt sich an dieser Bibliothek ablesen, deshalb bekommt sie nicht jede·r zu Gesicht. Diese Bände sind mein Gedächtnis, sie sprechen täglich zu mir. An diesem Morgen ruft Descartes, als wüsste er bereits, dass wenige Stunden später eine E-Mail des Carlsen Verlags in meine Inbox flattern sollte. Ob ich das Album Humaine, trop humaine (2022) von Catherine Meurisse übersetzen wolle? Was für eine Frage! Ich tue das, wovon einem jede·r erfahrene Literaturübersetzer·in abraten würde: zusagen, ohne den Text gelesen zu haben.
Alles nur Mythen
Als das Buch ein paar Wochen später bei mir ankommt, weiß ich bereits, dass es um Philosophie geht. Eine schnelle Google-Suche hat ein paar lustige Bilder und große Namen zutage gefördert: Hannah Arendt, Roland Barthes, Albert Camus, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sigmund Freud. Descartes und Rousseau sind natürlich auch dabei. Sie alle stehen bei mir im Regal und warten nun, fast fünfzehn Jahre später, auf ihren zweiten Auftritt. Übersetzen will ich das Album aber nicht wegen ihnen, sondern wegen Catherine Meurisse. Wenn es eine Zeichnerin gibt, die bewiesen hat, dass Frauen genauso gute Comics machen wie Männer, dann ist sie es. Ihr fulminantes Debüt Mes hommes de lettres (2008) ist ein Parforceritt durch die klassische französische Literatur, deren berühmteste Texte und Autoren sie gekonnt persifliert. In Le Pont des arts (2012) und Moderne Olympia (2014) wendet sie sich den Künstlern des 19. und 20. Jahrhunderts zu. Ihre Karikaturen und Zeichnungen erscheinen viele Jahre im Satiremagazin Charlie Hebdo. Das islamistische Attentat auf die Redaktion am 7. Januar 2015 überlebt sie wie Luz nur um ein Haar. In dem Band La Légèrté (2016), der ihre Rückbesinnung auf das Leben mittels Literatur und Kunst illustriert, verarbeitet sie dieses traumatische Erlebnis. Besonders beeindruckt mich aber ihr autobiografisches Album Les Grands Espaces (2018), in dem sie ihre Kindheit auf dem Land in mal lustige, mal nachdenkliche ökologische Fabeln kleidet. 2020 wird Meurisse als erste Comiczeichnerin überhaupt in die Sektion Gravur und Zeichnung der Académie des Beaux-Arts aufgenommen, deren jüngstes Mitglied sie ist. Wer, wenn nicht sie, sollte die großen Philosoph·innen Europas aufs Korn nehmen dürfen?
Die Prämisse ihres neuen Albums ist einfach: Keine historische Persönlichkeit, kein philosophischer Grundsatz ist unantastbar. Alles darf hinterfragt, angezweifelt, persifliert werden. Ursprünglich sind die Doppelseiten als Kolumnen im französischen Philosophie Magazine erschienen, das Album versammelt alle Beiträge der letzten fünf Jahre. In insgesamt 46 Philosoph·innen gilt es sich einzulesen, von denen ich einige wie Odysseus, Proust oder Don Juan nicht auf dieser Liste erwartet hätte. Mit Simone de Beauvoir, Hannah Arendt und Simone Weil sind nur drei Frauen dabei, was einen interessanten Kontrast zum feministischen Unterton der Kolumnen bildet: Fast immer tritt Meurisse selbst als scheinbar unbedarfte Leserin auf, hinterfragt die Theorien der männlichen Philosophen und vermag es, auch aus den trockensten Argumentationen noch einen Gag hervorzuzaubern. Das ist sehr originell, allein schon wegen der vielen Wortspiele, und nie macht sie es sich leicht, indem sie etwa mit dem feministischen Vorschlaghammer auf „alte weiße Männer“ einknüppelte. Während der ersten Lektüre bleibe ich an Sokrates hängen: Beim Gang durch Delphi fragt ihn Meurisse nach seinen Theorien aus, die er ihr nur ungern erläutert. Viel lieber erzählt er von Grillabenden mit den Nachbarn und speist die Wissbegierige mit einem geflügelten Wort ab, das ihm von seinem Schüler Platon zugeschrieben wurde: „Ich weiß nur, dass ich nichts weiß.“
Überschrieben ist diese Kolumne mit dem Titel „Complètement mytho“, was auf den mythomane, den krankhaften Lügner, verweist. Doch natürlich geht es hier auch um Mythen, schließlich befinden wir uns im antiken Griechenland. Fast alle Kolumnen fußen auf solchen Wortspielen, meist ziehen sie sich vom Titel über einzelne Panels bis zur Pointe durch. Schnell wird mir klar, dass ich kreativ werden muss. Hier hilft nur eins: Ich muss meinen funny bone finden, den ich bislang beim Übersetzen nie wirklich einsetzen konnte, damit die deutschsprachigen Leser·innen am Ende auch etwas zu lachen haben. „Complètement mytho“ wird spontan zu „Alles nur Mythen“, was sowohl auf Sokrates‘ Lehren, die uns nur in den Schriften seiner Schüler überliefert sind, als auch auf das Gerede seiner Zeitgenossen Bezug nimmt. Genau können wir es nicht wissen und ist beim Grillen nicht ohnehin die Größe des Koteletts entscheidend?
Rousseau ist schuld
Bevor ich mich vollends in den Text stürze, rufe ich bei Uli Pröfrock an, der Meurisse lange Jahre übersetzt und nun den Staffelstab an mich übergeben hat. Mit Sprachspielen à la Catherine kennt er sich bestens aus, hat in Weites Land, der deutschen Version von Les Grands Espaces, so einige Nüsse geknackt und sich für das 2021 erschiene Album La jeune femme et la mer, zu Deutsch Nami und das Meer, sogar in japanische Haiku-Theorie eingelesen. Uli bestätigt meinen ersten Eindruck: Der Comic steht und fällt mit den Witzen, aber ebenso wichtig sind literarische, musikalische und popkulturelle Referenzen.
Zuerst mache ich mich auf die Suche nach den Originaltexten, auf denen die einzelnen Kolumnen basieren. Schon an Descartes zeigt sich, dass Meurisse es mit ihren Quellen sehr genau nimmt: Sie zitiert wörtlich – in französischer Übersetzung, schließlich schreibt Descartes meist auf Latein –, verkürzt und redigiert hier und da, hält sich im Großen und Ganzen aber an das Original. Meinen ersten Einfall, mit existierenden deutschen Übersetzungen der Klassiker zu arbeiten, muss ich schnell verwerfen. Zum einen kann es eine definitive Übersetzung eines Grundlagenwerks wie den Méditations métaphysiques (1641) kaum geben; zum anderen sind die deutschen Übertragungen, die ich in der Staatsbibliothek zu Berlin, in den öffentlichen Berliner Bibliotheken und diversen digitalen Archiven finde, oft so weit vom Französischen entfernt, dass sie mir im Kontext des Comics mit seinen vielen Kürzungen nicht mehr angemessen scheinen. Ein Vergleich mit dem lateinischen Original verstärkt meine Verwirrung.
Nach einigen Stunden ergebnisloser Recherchen schlage ich die Bücher zu und besinne mich auf den Comic zurück. Ich lese die Doppelseite erneut und merke, dass es hier um etwas ganz anderes geht:
Aus Descartes‘ Meditationen werden Mepilationen in einem Schönheitssalon. Meurisse unterzieht sich vor ihrem Date mit dem Philosophen einem schmerzhaften Brazilian Waxing, während im Hintergrund die bekannte Meditation über das Wachsstück läuft:
Beginnen wir mit der Betrachtung der gewöhnlichsten Gegenstände …
… das heißt mit den Körpern, die wir ertasten und erblicken.
Nehmen wir zum Beispiel ein Stück Wachs. Doch nähern wir es nun dem Feuer.
In der Folge zeigt Descartes, dass die Materie weder durch Sinne noch Vorstellungskraft, sondern durch eine dem Verstand entsprungene „Einsicht des Geistes“ erkannt wird. Auf der Bildebene macht sich die Angestellte des Salons an Meurisse‘ Bikinizone zu schaffen, was von drastischen Soundwords begleitet wird. Das Date ist schließlich kein Erfolg, weil Descartes selbst im Bett nicht von seinen Meditationen lassen kann. „Zu verkopft“, ist Meurisse‘ Urteil. Und sie setzt noch eins drauf:
Ich sag’s dir, der Stängel von Descartes ist eine riesige optische Täuschung.
Der Stängel, im Französischen bâton, ist selbstverständlich doppeldeutig: Er verweist auf Descartes‘ Untersuchung der optischen Täuschung, dass ein in Wasser getauchter Stab oder Stängel durch die Brechung an der Wasseroberfläche zweigeteilt wirkt, auch wenn er es in Wirklichkeit nicht ist. Ein weiterer Beweis dafür, dass den Sinneseindrücken nicht zu trauen ist. Zugleich steht der bâton für das männliche Geschlechtsteil, der Gag beruht also auf dem sexuellen Versagen des Philosophen.
Kaum ist diese erste Hürde genommen, geht mir die Textarbeit leichter von der Hand. Die französischen Originaltexte übersetze ich fortan selbst und bilde durch eine leichte Patinierung den Bruch zwischen historischen Zitaten und modernen Dialogsequenzen nach. Texte deutscher Philosophen, wie Gottlob Frege oder Martin Heidegger, füge ich jedoch selbstverständlich im Original ein und bewundere die Fähigkeit der französischen Übersetzer·innen, diese komplexen Argumentationen so elegant zu übertragen. In den Ausgaben von Blaise Pascal, Friedrich Nietzsche und dem heiligen Augustinus, anhand derer ich die Texte im Comic auf Kürzungen und Anpassungen prüfe, stolpere ich immer wieder über Notizen aus meiner Studienzeit: Einige kann ich nachvollziehen, andere scheinen mir vollkommen obskur. Was habe ich mir damals nur gedacht? Konnte ich die sprachlichen Feinheiten der Pascalschen Pensées (1670) im Studium wirklich erfassen? Und werde ich in zwanzig Jahren, wenn ich diese Bücher wieder lesen werde, den gleichen Gedankengängen nachgehen? Schließlich lande ich bei Rousseau, genauer bei seinen Rêveries du promeneur solitaire (1782), die mich damals in Paris so ermüdet hatten.
Meurisse zeichnet ihn als mal beleidigten, mal weinerlichen Spaziergänger, der die Tier- und Pflanzenwelt mit seinen Tiraden in den Wahnsinn treibt. „Wer ist dieser Irre?“, fragt ein kleiner Frosch, der die Gefühlsausbrüche des Philosophen nicht mehr ertragen kann. Das Naturerleben endet im Super-GAU: Während Rousseau sich selbst findet, brennen die Tiere aus reiner Verzweiflung den Wald ab. Meurisse fragt am Ende der Kolumne ganz unbedarft:
Und, Jean-Jacques, wie war der einsame Spaziergang so?
Worauf Rousseau antwortet:
Prima. Die Natur und ich haben uns gefunden.
Das Gleiche könnte man über Rousseau und mich sagen: Wir haben uns (wieder)gefunden, nach zwanzig Jahren Funkstille. Im grauen Berliner Spätherbst lese ich seine Naturbeschreibungen mit großem Genuss, freue mich an den „funkelnden Blumen“ und dem „Emaille der Wiesen“. Nachdem ich die Doppelseite abgeschlossen habe, lege ich den Band nicht weg, sondern lese die nächsten Tage immer wieder ein paar Seiten der Rêveries.
Schmierereien
Doch Humaine, trop humaine wäre kein Comic, ginge es nur um Sprache. Ebenso wichtig ist die Bildebene, auf der Meurisse ihre Gags vorbereitet und zum Höhepunkt führt. Wie im Falle von Descartes ergibt sich der Witz nicht selten aus dem Kontrast zwischen dem, was in Texten oder Sprechblasen erzählt wird, und dem, was sich in den Bildern abspielt. An der Figurenzeichnung ist deutlich erkennbar, dass Meurisse aus der Karikatur kommt: Nicht nur die Philosophen, auch die Künstlerin selbst zieren eine übergroße Nase, tiefe Stirnfalten und Augenringe. Ihre Zeichnungen sind dabei alles andere als die „Schmierereien“, die Hegel in einer der Kolumnen präsentiert. Während der große deutsche Philosoph Meurisse die Überlegenheit des Kunstschönen über das Naturschöne auseinandersetzt, versucht sie redlich, einen ästhetischen Zugang zu seinen eher schlichten Gemälden zu finden. Titel der Ausstellung ist „Hegel: L’Esthétique à bras-le-corps“, was so viel wie „die Ästhetik anpacken“ bedeutet. In meiner Übersetzung wird daraus „Ästhetik mit Schmackes“.
Ein Beispiel für eine besonders komplexe Verschränkung von Text- und Bildebene findet sich einige Seiten weiter. Aristoteles tritt hier als Chef eines Designbüros auf, das sich auf die Entwicklung von Logos spezialisiert hat. Schon der erste Begriff zeigt, wie Meurisse vorgeht: Die Namen bekannter Logos wie Coca-Cola werden durch philosophische Begriffe wie „connaissance“ ersetzt, wobei der Schriftzug so genau wie möglich nachgeahmt wird.
In der Übersetzung ergeben sich zwei Schwierigkeiten: Zum einen beginnen die meisten der deutschen Begriffe nicht mit dem gleichen Buchstaben, connaissance entspricht „Erkenntnis“, was nicht zu Coca-Cola passt. Zum anderen gehören einige der Logos zu französischen Marken, die in Deutschland niemand kennt. Wer hätte je von Picard, Darty oder der RATP gehört? Ein Anruf in der Carlsen-Redaktion ergibt, dass Letterer Olav Korth die Schriftzüge wohl anpassen, nicht jedoch vollkommen neue Logos einbauen kann. Ich entscheide mich daher dafür, zu retten, was zu retten ist. Glücklicherweise lassen sich Begriffe wie discours, intelligence und raison ohne große Verluste ins Deutsche bringen. Dass sich dahinter Disney, Intel und Reebok verstecken, sollten auch deutsche Muttersprachler·innen erkennen können. Im Falle von rhétorique aber wird der Verweis auf die RATP, die öffentlichen Verkehrsbetriebe der Île de France, nur denen verständlich sein, die schon einmal in Paris waren. Erklärende Fußnoten sind wie auch im Rest des Albums keine Lösung, schließlich ist ein Witz, den man erklären muss, nicht mehr lustig. Auf Deutsch sieht die Doppelseite schließlich so aus:
Und was ist der Gag, der die Kolumne zusammenhält? Selbstverständlich ist es ein Sprachspiel, denn neben Logos ist auch der griechische logos gemeint, mit dem sich Aristoteles in seiner Philosophie so ausführlich beschäftigt hat.
Beinahe nichts
Was man ebenfalls über Meurisse wissen sollte, bevor man sie übersetzt: Nicht nur in Literatur und Bildender Kunst, sondern auch in der Musik kennt sie sich bestens aus. Wo immer es sich anbietet, bettet sie französische Chansons ein. Auch die Philosoph·innen sind nicht vor der Vertonung ihrer Argumentationen sicher und als erstes trifft es den lieben Immanuel Kant. Die entsprechende Kolumne trägt den Titel „Critique de la faculté de chanter“, also „Kritik der Sangeskraft“. Im Laufe der ersten Seite stellt sich heraus, dass Kant ein großer Liebhaber von Karaoke ist. Nach vielen einsamen Stunden am Schreibtisch entspannt er sich in der örtlichen Music Hall, in der er Chansons wie „Quand on n’a que l’amour“ von Jacques Brel oder Rocksongs wie „Quand la musique est bonne“ von Jean-Jacques Goldmann zum Besten gibt. Der Trick dabei? Meurisse schreibt nicht quand, was „wenn“ oder „als“ bedeutet, sondern Kant. Aus „Quand on n’a que l‘amour“ wird „Kant on n’a que l’amour“. Der Philosoph singt über sich selbst. Wie diese Homophonie ins Deutsche bringen? Der französische Übersetzer Jean-Baptiste Coursaud gibt mir den entscheidenden Tipp: Wenn der deutsche Schlager nichts hergibt, kann ich mich immer noch bei US-amerikanischen Rock- und Popbands bedienen. Dort werde ich schnell fündig, schließlich ist es von „can’t“ zu „Kant“ nur ein kleiner Sprung. Am Ende entscheide ich mich unter anderem für „Can’t help falling in love“ von Elvis Presley und „I can’t get no satisfaction“ von den Rolling Stones. Dabei achte ich immer darauf, dass die Songs auch inhaltlich zu den französischen Chansons passen. Wer hätte gedacht, dass Johnny Hallyday und Johnny Cash ein perfektes Duo abgeben? Sie beide singen vom Gefängnis, der eine in „Le pénitencier“ und der andere in „Folsom Prison Blues“. Die Playlist zum Comic, die ich neben dem Übersetzen erstelle, wird ein bunter Genremix:
Playlist, Spotify, „Allzumenschliches“
Auch in den Kolumnen über den heiligen Augustinus und Hannah Arendt geht es um Musik. Letztere imaginiert Meurisse als Jurymitglied der Fernsehshow „La méchante star“, was in meiner Übersetzung zu „Deutschland sucht den Superschurken“ wird. Gesucht wird ein singendes Monster, doch Arendt lässt die Kandidat·innen mit Michael Jacksons „Thriller“ und „Hör auf mich“ aus dem Dschungelbuch gnadenlos durchfallen. Erst ein Schuljunge in Uniform, der Adolf Eichmann nicht von ungefähr wie aus dem Gesicht geschnitten ist, erhält ihre Stimme. Im Französischen singt er den ebenso bekannten wie brutalen Kinderreim „Une souris verte“, in dem eine kleine Maus in kochendes Öl getaucht wird. In der Version des Schuljungen tauchen jedoch Nazis auf, weshalb Arendt in ihm die Inkarnation des Bösen – und damit den Gewinner der Fernsehshow – ausmacht. Also musste im Deutschen ein Kinderreim her, der sich ähnlich umdichten lässt. In meiner Übersetzung singt der Schuljunge folgendes:
Es sind diese Anspielungen und Sprachspiele, die die Übersetzung für mich so spannend machen, schließlich gilt es die Witze nicht nur zu finden, sondern auch nachzubilden. Humor ist flüchtig und lässt sich kaum auf einzelne Worte oder Halbsätze festnageln. Doch sobald man nicht versucht, ihn mit Regeln zu belegen oder einzusperren, kann er ganz handzahm werden. Beinahe nichts unterscheidet einen kurzen Satz von einem gelungenen Witz und manchmal entwickelt sich letzterer erst in der Wiederholung. So geschehen in der Kolumne „Presque rien“ über Vladimir Jankélévitch, der seiner Frau im Haushalt zur Hand gehen will. Leider ist er nur vollkommen unbegabt im Abspülen, Bügeln und Kartoffeln schälen. Seine erfolglosen Versuche kommentiert er mit „Ça m’a échappé“, was sowohl „Das ist mir entglitten“ oder „aus der Hand gerutscht“ als auch „entgangen“, „entfallen“, „entronnen“, „entkommen“ oder „entschwunden“ bedeuten kann. Jankélévitch erwähnt das Verb „échapper“ zudem in einem Aphorismus:
Le temps, la vertu, la mort n’existent qu’en nous échappant.
Die Zeit, die Tugend, der Tod existieren nur, indem sie uns entrinnen. Der Clou der Kolumne steckt in den letzten Panels: Die von Jankélévitch vernachlässigte Ehefrau entkommt ihrem grauen Alltag, indem sie ihm den Laufpass gibt. Wie aber all diese Bedeutungsnuancen in einem deutschen Verb vereinen? Am Ende entscheide ich mich für „entfallen“, weil das zum einen gut zu den abgebildeten Haushaltsunfällen passt und sich zum anderen geschmeidig in eine Beziehungskrise fügen lässt. Jankélévitch‘ Aphorismus muss ich dafür leicht abwandeln, was Philosophieprofessor·innen sicher sauer aufstoßen würde, hier aber ein Zugeständnis an das Wortspiel ist. Das Beziehungsende liest sich schließlich so:
In Humaine, trop humaine geht also um deutlich mehr als beinahe nichts. Meurisse verhandelt die Grenzen der Sprache und des Bildes, reflektiert die unterschiedlichen Traditionen beider Ausdrucksmedien und ist dabei auch noch unglaublich unterhaltsam.
Also sprach Meurisse
Berlin, 2024. Während ich an diesem Journal schreibe, ist das Album schon im Druck. Keine Chance mehr, irgendeine Formulierung zu ändern, was sicherlich auch besser ist. Je länger ich über einzelne Witze nachdenke, desto mehr – oder weniger – lustig erscheinen sie mir. Was ist das Lachen? Diese Frage stellt sich nicht nur Henri Bergson, der selbstverständlich einen Auftritt in Allzumenschliches hat, sondern auch jede Übersetzerin, die es mit einem humoristischen Text zu tun bekommt. Ob der Ton getroffen wurde, darüber entscheiden die Leser·innen. Was wohl Descartes dazu gesagt hätte? Ich kehre zu meiner Bibliothek zurück und konsultiere die Méditations métaphysiques. Die Vorstellung, in jeder Lebenslage eine Reihe ebenso interessanter wie eloquenter Gesprächspartner·innen zu haben, hat etwas Beruhigendes. Weniger erfreut bin ich, als ich herausfinde, dass Gibert Jeune, die mythische Buchhandlung an der Place Saint Michel, 2021 schließen musste. Den monatelangen Lockdown hat der Traditionsladen nicht überlebt. Die Bücher in meinem Regal bleiben dieselben, die Welt um sie herum jedoch verändert sich. All die Jahre zwischen 2008 und 2023 sind in die Übersetzung von Allzumenschliches eingeflossen, weshalb jeder neue Text auch immer ein biografisches Erlebnis ist. In diesem Sinne lassen sich Übersetzungen nicht nur in Angriff nehmen, erarbeiten, verwerfen, neu aufsetzen oder polieren, sondern auch leben. Und jedes Buch bedeutet einen Erkenntnisgewinn: Mit diesem Album habe ich gelernt, dass gute Gags in allem stecken, man muss sie nur zu finden wissen. Catherine Meurisse hat mir gezeigt, was man mit seiner persönlichen Bibliothek so alles anstellen und wie ein zeitgenössischer Dialog mit Klassikern – jenseits von übertriebener Hochachtung oder ikonoklastischen Exzessen – aussehen kann. Lego, ergo rideo. Wenn das keine Lehre fürs Leben ist!