Journale Prosa Vom Um im Un

Vom Um im Un

Journal zur Übersetzung von Was von meinem Vater bleibt von José Henrique Bortoluci

Als Kinder getrennter Eltern wuchsen meine ältere Schwester und ich bei unserer Mutter auf und verbrachten in größeren Abständen Wochenenden und Ferien bei unserem Vater. Mein Vater lebt das Leben aufgespannt, abspannen oder gar entspannen ist sein Ding nicht. Er hält sich auf Trab, oft konkret in Bewegung, bevorzugt zu Fuß oder mit dem Rad. Kinder hingegen wissen spannungsarme Zustände zu schätzen, sie verstehen etwas von der Kunst des Erschlaffens. Doch das nützte nichts. Wir mussten mit, „abhügel auf, abhügel ab“.1 Auf Wanderungen kam mit zuverlässiger Sicherheit immer der Punkt, an dem der Höchststand der Nölerei und der Tiefpunkt unserer ohnehin fraglichen Motivation erreicht war und mein Vater sagte: „Wisst ihr was, dann nehmen wir eben eine Abkürzung“, woraufhin meine Schwester und ich schlagartig zu voller Kraft fanden und schrien: „Nein, keine Abkürzung, wir wollen den langen Weg.“ Denn das hatten wir gelernt: Abkürzung, das hieß Un-af-fixes: Unwägbares, Unwegsames und Undurchdringliches unter oder über uns mit ungewissem Ausgang, nie aber hieß es kürzer.

Viele Jahre später habe ich die Gebiete jenseits der Hauptwege zu meinem Fach gemacht. Querverbindungen und Abzweigungen; Beiklänge, Nebenbedeutungen und Untertöne. Ich verfolge den Rhythmus aus Spannungsaufbau und Lockerung, Tempo und Pause in Text und Körper, Sprache und Bewegung, Atem und Tag. Umhin umher ist mein täglich Tun. In alle Richtungen habe ich das Um entdeckt:

Das Affix „um-“ verweist auf verschiedenste Bewegungen, generell von einer Stelle zu einer anderen, kreisförmig, die Wendung in eine andere, meist entgegengesetzte Richtung oder Lage, die Drehung eines Subjekts oder Objekts um sich selbst.

"Lineale" stone lithography on cotton paper by Maribel Mas
© Maribel Mas, 2024
Photo: Uwe Walter

Mein Vater hat „mitgeholfen“, meinen Blick auf das Um im Un zu richten und nicht nur das Negative, den pejorativen Nebensinn oder das Ungünstige in ihm zu sehen, sondern ihn auf das Verstärkende und Intensivierende auszuweiten – ajudar a fazer alguma coisa:

Wörtlich „dabei helfen, etwas zu tun“, eine Verbkonstruktion im Portugiesischen, die die Beteiligung an, nicht aber zwingend die unmittelbare Ausführung einer Handlung beschreibt, sondern fasst, dass jemand Anteil daran hat, dass etwas getan werden kann oder geschieht.

Diese Konstruktion findet sich im ersten Satz des autobiographischen Essays Was von meinem Vater bleibt (im Original O que é meu), der zugleich Milieustudie, Klassenanalyse, Familiengeschichte und Kulturdiagnose ist, und gehört nicht dem brasilianischen Autor José Henrique Bortoluci, sondern seinem Vater Didi: „Denk dran, dass dein Vater mitgeholfen hat, diesen Flughafen zu bauen, damit du fliegen kannst“, sagt er dort. Geholfen hat er, aber nicht selbst gebaut, sondern jenen, die bauten, Material geliefert. Er war dabei, hat Zuarbeit geleistet, in dem Präfix „mit“ drückt sich sein Stolz darauf aus.

Gedanklicher Ausreißer: Ein Hoch auf Präfix! Infix! Suffix! – Unmittelbar darauf: ein Lautstreich: Suff-hichs. – Dann: Lautes Selbstgespräch: Hummitzsch! Echt jetzt! Schmeiß das wieder raus. – Gedanke: Das Selbstgespräch als produktives Mittel der Textproduktion ist unterbewertet.

José Henrique Bortoluci: Was von meinem Vater bleibt. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Maria Hummitzsch. Aufbau Verlag, 2024.

Sechs lange Interviews hat José Henrique Bortoluci im Januar und Februar 2021 mit seinem damals fast achtzigjährigen Vater über dessen Leben geführt. Und sein Vater, in seiner Heimatstadt Jaú von allen nur „Didi“ genannt, auf der Straße wiederum nur „Jaú“, erzählt diese Geschichte im Zeichen der Arbeit. Fünfzig Jahre lang, von 1965 bis 2015, hat er als Lkw-Fahrer das Land bereist:

Ein durch das Wort „reisen“ ausgelöstes Echo: „Es wird sich auf der Reise verwandeln – zu sich als anders-selbst.“2 – Dem gleich ein zweites auf das Ankündigungswort „Echo“ folgt: „Unsere Sprache ist immer von Echos und anderen durchdrungen.“3

Unmittelbar: Sprung in den Zweifel am gesetzten Verb: reisen ... das Land bereisen ... klingt das nicht zu euphemistisch?

Zu den Eindrücken und Erinnerungen des Vaters gehören die Sichtung eines UFOs im Nirgendwo von Mato Grosso ebenso wie Zusammenstöße mit bewaffneten Soldaten, bezeugte Unfälle und auf dem Motor gebratene Steaks. Vor allem aber berichtet er vom Berufsalltag, den Härten – finanziellem und zeitlichem Druck, Einsamkeiten und Gefahren, langem Getrenntsein von der Familie, Raubbau am eigenen Körper –, ebenso wie von seinem Reiz – Fernweh, Abenteuerlust und Freiheitsgefühl, Solidarität unter Gleichen und dem geteilten Aufstiegswunsch, es zu etwas zu bringen.

Gedanklicher Ausreißer: die Bedeutung stehender Wendungen wie „es zu etwas bringen“ nicht als gegeben, sondern samsig Wort für Wort zu nehmen, verschafft mir Weite in der Sprache, wo es gerade noch eng war.

Weite durch Variation finde ich auch im Buch: In den Zeitsprüngen, Stimm- und Registerwechseln, der thematischen Vielfalt und gedanklichen Beweglichkeit des Autors. In den Entstehungs- und Schaffensprozess des Buches fallen zwei Verheerungen: das Coronavirus und die Darmkrebsdiagnose des Vaters. Sie fallen ein: in Leben und Text, legen sich auf den Weg und zwingen zu einem Umgang. Ohnehin schreibt Bortoluci nicht zuvorderst als der promovierte Soziologe, der er ist, sondern als Sohn. Er hat weder eine Sozialgeschichte der brasilianischen Fernfahrer noch eine historische Soziologie dieser Berufsgruppe oder eine reine Biographie seines Vaters im Sinn. An Elementen dieser Genre bedient er sich trotzdem, aber die häufig in Biographien zu findende Fixiertheit auf das Geradlinige will er nicht, und hält Wort:

Plötzlich aufploppende, sich mir nicht unmittelbar erschließende Assoziation, genauer, Erinnerung an einen Spruch, der mal auf einem Zettel an meinem Bildschirm klebte: „Sog statt Druck.“ – Und davon abgelöst die Erinnerung an den Zettel eines Freundes aus einer anderen Zeit, auf dem stand: „Kein Angsthase sein.“

Wieder begegnet mir ein Aufgespanntsein. Diesmal das des Texts. Das Gespanntsein, die Kraft im Inneren des elastisch-festen Textkörpers, wirkt in unterschiedlichen Intensitäten. Je nachdem wie groß die Belastung auf die Textfläche infolge von Gegensätzen und Widerstreitendem ist.

Gegensätzliches entsteht durch die verschiedenen Registerwechsel: Literarische Passagen, durch Ellipsen verdichtet, wechseln sich mit faktengetriebenen biographischen Einschüben ab, dann wieder folgen fremdwortangereicherte, syntaktisch komplexe Analysen, geprägt von akademischem Duktus, im Wechsel mit medizinischen Berichten. Aber ganz gleich wie unterschiedlich sie sind, sie allesamt kontrastieren sprachlich mit dem Erzählen des Vaters. Bortoluci schreibt nicht zuvorderst über ihn, sondern lässt ihn durch Interviewauszüge und notierte Äußerungen unterschiedlicher Länge selbst sprechen. Unmittelbar ist der Ausdruck in seiner Mündlichkeit, direkt und klar. Das Nebeneinander der gezogenen Register von Vater und Sohn erzählt auf eigene Weise vom Wechsel der sozialen Klasse von der weißen transatlantischen Arbeiterklasse in die akademische Mittelschicht, den Bortoluci vollzieht und verschiedentlich dekliniert. Was zu der Frage führt, wie Sprache und Welt verbunden sind? Wie eins ins andere wirkt? Und was geschieht, bringt man Sprache und Welt in Kontakt, setzt man Selbst und Sprache in Gang?

Im Anfang war das Wort, fällt auch in diesen Text Biblisches ein, und im Anfang von „O que é meu“ ist eine poetische Miniatur:

„O pai caminhoneiro visita a casa, a esposa e os filhos. Ele chega, mas logo se vai. Chegavam ele e o caminhão, um par, quase uma coisa só, entidade que sobrava e faltava, impositiva e passageira. Eu, menino, queria que eles ficassem, queria que se fossem, queria ir junto deles.“

Erzählt werden in diesen wenigen Zeilen eine Geschichte, die durch Dichte und Rhythmus besticht, und ein Gefühl – Sehnsucht –, das auch Bewegung ist. Das Portugiesische bietet Offenheit im Reichtum der Vokale – grundsätzlich, und hier konkret –, und bleibt durch den Gleichklang im jeweiligen Tempus im Fluss, legt in den Endungen Weichheit als Spur. Alles ist Klang. Will voran. Ich übersetze: imitiere, verschiebe und streiche, bis bleibt:

„Der Fernfahrervater besucht sein Zuhause, seine Frau und seine Kinder. Er kommt, fährt aber bald wieder los. Er und sein Lkw, ein Paar, fast schon ein einziges Ding, das zu viel war und zu wenig, beständig und flüchtig. Als kleiner Junge wollte ich, dass sie blieben, dass sie wegfuhren, wollte ich mit ihnen fahren.“4

Vokale in großer Zahl bietet mir das Deutsche nicht, Gleichklang und Widerhall durch Flexionsendungen schon, was sich verstärken lässt durch Buchstaben- und Anlauthäufungen und den gezielten Blick auf das Ende der Adjektive, neben der semantisch stimmigen Wahl. Sonst als silbenumringt bekannt, schenkt mir das Deutsche in dieser Passage stellenweise unerwartete Kürze und einen zarten Reim. Die Folge ist Beat. Zudem fällt meine Aufmerksamkeit auf das Zauberwort „und“, das verbindet und verstärkt, vereint und anknüpft, Beziehung ausdrückt und für Kontinuität sorgt. „Und“ schafft noch viel mehr; es erschafft Rhythmus – durch üppigen Einsatz ebenso wie bei fast völligem Verzicht.

Der Textfluss führt mich weiter. Ich übersetze an Reflexionen über diversen Distanzen, Sprache und vermeintlichem Fortschritt entlang, an Passagen voller biographischer Details, an Zärtlichem und Fragilen der Vater-Sohn-Beziehung. Je konkreter und klarer in der Bedeutung, desto weniger Um, desto mehr Entspannung in meinen übersetzerischen Bewegungen. Je größer die Dichte an Kniffligem, Unbekannten, syntaktisch Komplexen, desto wacher und gespannter werde ich. Regelmäßig bleibe ich zeitweilig stecken. So wie Didi auf seinen Fahrten.

A palavra „atoleiro“ aparece com espantosa frequência nos relatos do meu pai. Atoleiros marcam sua memória das estradas mais do que qualquer outra paisagem, heißt es im Original. Ich übersetze: „Das Wort atoleiro taucht in den Erzählungen meines Vaters erstaunlich oft auf. Atoleiro prägt seine Erinnerung an die Straße mehr als jedes andere Landschaftsphänomen.“ Ich kenne die Vokabel – als „Sumpf“ oder „Morast“. Aber ich misstraue mir. Im einsprachigen Wörterbuch heißt es erklärend: Terreno pantanoso; lodaçal, lamaça: sumpfiges Gebiet; Sumpf, Morast. Eine Bestätigung, zugleich entsteht dadurch in mir kein Bild. Die Internetrecherche nach „atoleiro + Brasil“ ändert das, die Mehrheit der Suchergebnisse zeigt nicht nur die Landschaft an sich, sondern immer auch feststeckende Fahrzeuge.

Zu sehen sind durch den dichten grünen Wald gerodete Pisten aus dicker roter Erde, lehmartig aufgeweicht. „Sumpf“ fällt damit raus, auch wenn die Pisten wie im Pantanal und Amazonas durch Sumpf- und tropisches Feuchtgebiet führen. Inhaltlich trifft es „Morast“, doch das deutsche Wort ist auffällig. Das Register hoch. Ich teste es, verwende es in einer von Didis Passagen. In der Häufung klingt es unnatürlich. Ich wechsle zu „Schlamm“. Das passt besser. Nur: das dichte Grün ringsum, die Konsistenz und das Rot der Erde trägt dieses Wort nicht. Mindestens die Farbe müsste ich hinzufügen, aber Didi käme das nicht in den Sinn, im Brasilianischen stecken Farbe und Landschaft schon im Wort drin. Atoleiro

Didis Ausführungen, die Bortoluci den Interviews entnommen hat, weisen verschiedene Marker von Mündlichkeit und einfacher Sprache auf: Verschleifungen der Anlaute einzelner Wörter wie pra für para, die Verwendung des Indefinitpronomens a gente (wörtlich „die Leute“) zur Verallgemeinerung eine persönlichen Subjekts, die Tilgung des Plural-S (as estrada statt as estradas), und fehlende syntaktische Linearität, immer wieder wird neu angesetzt, Nachklapp folgt auf Nachklapp, als Ausdruck der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden:

„As estrada, a maioria era chão batido, poeirão, poça de lama. Tinha atoleiro na época de chuva que você às vezes ficava preso cinco, seis, sete dia sem conseguir tirar o caminhão do lugar. A gente andava em cinco ou seis caminhão atrelado, e quando um afundava, que não saía, tinha que amarrar dois ou três caminhão pra tirar esse. Por isso que eu não esqueço. De lugar bonito eu quase não lembro, porque você passa, vê, admira e daí já foi. E um atoleiro, por mais feio que seja, você fica uma semana aí parado, entendeu? [...] Então eu gravava aquilo, fica na cabeça, você não esquece nunca.“

Viele dieser Mittel funktionieren auch im Deutschen, in welchen Dosen teste ich aus. Wieder übersetze ich: imitiere, schiebe, streiche, bis bleibt:

„Die Straßen, das waren meist Pisten, staubig oder matschig. In der Regenzeit ist dann ein Schlamm entstanden, dass man manchmal fünf, sechs, sieben Tage da festsaß. Wir sind in einer Kolonne aus fünf oder sechs Lkws gefahren, und wenn einer eingesunken und stecken geblieben ist, musste man zwei oder drei Lkws davor setzen, um ihn rauszuziehen. Darum vergesse ich das nicht. An Schönes erinnere ich mich wenig, weil man dran vorbei fährt, man sieht es und freut sich, und schon ist man weiter. Aber Schlamm, so hässlich der auch ist, da sitzt man eine Woche lang drin fest, verstehst du? […] Darum habe ich mir das gemerkt, es fest im Kopf, das vergisst man nicht.“5

Bortoluci holt weitere Stimmen in den Text und schickt mich auf die Suche. Neunundzwanzig Autor·innen und Philosoph·innen sind es an der Zahl. Einige Zitate finde ich schnell im Netz oder in eigenen Beständen. Andere erfordern größeren Aufwand. Ich schreibe Kolleg·innen an, bestelle Titel in meiner Lieblingsbuchhandlung oder in der Bibliothek. Blättere, blättere, blättere. Ich stoße auf Vieles, das ich nicht gesucht habe, aber froh bin zu finden, lese mich fest, reiße mich los, freue mich und fluche über die verlockenden Ablenkungen und mich aufs Schönste in die Irre leitenden Abzweigungen. Was mich zu der Frage führt, welche Parallelgeschichte die für dieses Buch entstandene Titelliste erzählt? Wie Sprache und Lebenslektüren, aber auch die Wahl der Gespächspartner·innen aus persönlicher Korrespondenz verbunden sind? Wie wirkt eins ins andere? Und wie passt Musik in all das hinein?

Bortoluci klopft die brasilianische Literatur auf die Existenz von Fernfahrerfiguren ab. Bis auf das 1967 erschienene Buch Jorge, ein Brasilianer des Autors Oswaldo França Júnior ist die Ausbeute dürftig. Ähnlich ist das Ergebnis beim Blick auf Serien und Filme.

Gedanklicher Ausreißer: Meine Schwester und ich haben Anfang der 90er Jahre wirklich alles geschaut, was das Fernsehen hergab, jede bekackte Serie. Aber nein, Auf Achse, die beliebte Fernfahrerserie der ARD mit Manfred Krug, in der es um Autodiebe, Frachtbetrug, dubiose Bekanntschaften und Schmuggel ging, gehörte aus irgendeinem Grund nicht dazu (wahrscheinlich weil der Lkw nicht wie K.I.T.T. sprechen konnte…). Die Hintergrundinformationen im Wikipediaartikel zu Idee, Besetzung und Durchführung sind übrigens ziemlich spannend, aber – zurück:

Nur selten finden die (meistens) Männer hinter dem Steuer Eingang in die brasilianische Kunst- und Kulturproduktion. Die fehlende Repräsentation ist symptomatisch für die mangelnde Bereitschaft, sich mit der Realität der Arbeiter auseinanderzusetzen. In der Regel, so Bortoluci, trete das „Volk“ in der Kunst dieser Zeit als abstrakte Kategorie auf, oder in der wiederholten Formel eines „vorrevolutionären Volkes“, in Anlehnung an den Marxismus der damaligen Zeit, oder als Manifestationen eines „folkloristischen Volkes“, ländlich, romantisch und vormodern. Die Vielfalt in der Arbeiterschaft findet in diesen Entwürfen nicht statt.

In der Música sertaneja, einem Musikstil mit Ursprung im ländlichen, trockenen Landesinneren des namengebenden Sertão, kamen Erzählungen vom Leben der Berufskraftfahrer immerhin vor. Bortoluci analysiert sowohl den Typus, den die Sänger verkörpern, als auch zwei der Lieder. Unter anderem „Estrada da vida“ (Dt. Straße des Lebens) des Duos Milionário und José Rico, aus dem Jahr 1977, einem der meistgespielten Titel dieses Genres. Ich verschaffe mir einen Eindruck, höre es mir an. Postfolklorische Volksmusik klingt mir entgegen, eine Mischung ländlicher Stile wie Toada, Moda de viola, Cana-verde und Catira mit Einflüssen aus bolivianischer, mexikanischer, paraguayischer und nordamerikanischer Country-Musik, so ganz anders als die bekannten brasilianischen Musikstile Samba und Bossa Nova:

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Milionário e José Rico - Estrada Da Vida

Text und Reimschema (heterogener Kreuzreim, abcb) sind schlicht:

Nesta longa estrada da vida
Vou correndo e não posso parar

Na esperança de ser campeão
Alcançando o primeiro lugar…

Auf dieser langen Straße des Lebens
renne ich und darf nicht stehen bleiben
in der Hoffnung, Sieger zu werden
und es allen zu zeigen …

Länger als nötig verweile ich nicht. Vielmehr beschäftigt mich das daraus resultierende Spannungsverhältnis, dass Bortoluci drängende Themen der Arbeiterklasse im Allgemeinen und der Fernfahrer Brasiliens im Besonderen mit sprachlicher Eloquenz und Wucht aufzeigt, dies jedoch in aller Komplexität in einem Medium tut, die beide schwer zur Gruppe der Betrachtung vordringen dürften. Ließe sich dieses Dilemma auflösen? – An dem Tag, als ich die verschiedenen Songtexte übersetze, klingt mein Abend mit Billy Joels „And So it Goes“ aus, melancholisch, aber gut:

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Billy Joel - And So It Goes (Official Video)

Dem, was ich auch in der Musik finde, folge ich im gesamten Text: dem steten Anspannen-Entspannen, Anspannen-Entspannen. Kurz-Lang, schnell-langsam, laut-leise, Anstieg-Abfall, einsilbig-mehrsilbig, Strecken-Zusammensacken, Schritt, Schritt, Schritt uuund: Pause.

Pausen lege ich nicht nur nach sprachlich fordernden Passagen ein, wenn Bortoluci, der schon früh als Wunderkind aus der Arbeiterklasse galt und weltweit zu Wettbewerben aller Art geschickt wurde, rhetorisch auftrumpft und mit scharfen soziologisch historischen Analysen glänzt, oder en passant von Bau und Funktionsweise eines in den 1960ern in Russland gebauten und 2002 dort bestaunten Radioteleskops erzählt, „einem Apparat von mysteriöser Größe“, der mich zur Auseinandersetzung mit kosmischer Hintergrundstrahlung und der Beschaffenheit der Sterne zwingt, sondern vor allem nach den intensiven Stunden im Universum des Krebs. Diese Teile des Buchs sind persönlich – für Bortoluci, und für mich:

„A-d-e-n-o-c-a-r-c-i-n-o-m-a. Letra por letra a palavra se formou, cada letra uma célula que se juntou a outras para formar um significante novo, uma palavra-massa fora de lugar. Uma rápida busca no Google me esclareceu que „adenocarcinoma“ é o termo médico para um certo tipo de tumor que acomete tecidos epiteliais glandulares, como o do reto, caso do meu pai. Ela foi a primeira de muitas palavras que entraram em nosso crescente léxico familiar nos meses que se iniciavam.“

Ich denke an eine Binsenweisheit aus Studientagen: „Man kann nur übersetzen, was man auch versteht.“ Ich lese und lese. Wenn Unsicherheit bleibt, bitte ich befreundete Mediziner·innen um Rat.

„A-d-e-n-o-k-a-r-z-i-n-o-m. Buchstabe für Buchstabe entstand das Wort, jeder Buchstabe eine Zelle, die sich mit einer anderen zu einem neuen Signifikanten verband, einer nicht zuordenbaren Masse Wort. Eine erste Googlesuche ergab, dass „Adenokarzinom“ einen Tumor bezeichnet, der aus Drüsenepithelgewebe hervorgeht, im Falle meines Vaters dem des Enddarms.“6

Ich recherchiere Stoma, recherchiere Colostomie, recherchiere PET-CT, recherchiere Tumormarker, recherchiere bösartiges Neoplasma und kolorektales Karzinom. Ich wandere zwischen Mukherjee Siddharthas König aller Krankheiten (in der Übersetzung von Barbara Schaden) und Audre Lordes Krebstagebuch (übersetzt von Renate Stendhal und Margarete Längsfeld) hin und her. Schweife ab. Lese sie doch. Anjas letzte SMS in meinem Handy, als ihr Hirntumor schon auf das Sprachzentrum drückte:

Vorletzte Nachricht (April 2022):
„Dienstag und Mittwoch geht Kaffee trinken gern einladen. Do/Fr/Sa versandt verschiedenen“

Letzte Nachricht (Ende April 2022):
„Flügge. Mir geht’s Euch?“

Krebs ist so real und zugleich so stark als Metapher: Krebs als „wahres Epos der Besetzung des Körperterritoriums“, als „biologischer Fitzcarraldo“ (bald, bald, bald werde ich mir endlich diesen Film ansehen), als „Verkörperung eines Evangeliums des Wachstums um jeden Preis.“ Bortoluci erzählt bildreich, woran Brasilien krankte und krankt. Ich recherchiere Folter und Größenwahn der Militärdiktatur, recherchiere Belo Monte-Staudamm, recherchiere Massaker von Eldorado dos Carajás, recherchiere Paulo Paulino Guajajara und vieles mehr. Die Bilder der mannigfaltigen, menschgemachten Zerstörung des Amazonas und damit vieler Territorien der Indigenen und Quilombolas. Was mich zu der Frage führt, wie Sprache und Erfahrung verbunden sind? Wie beides ineinander wirkt? Und ob es das gibt, ein Anrecherchieren gegen Empfindsamkeit?

Erst nach Abschluss meiner Übersetzung traue ich mich herauszufinden, ob Didi das Erscheinen des Buches noch miterlebt hat: O que é meu ist im März 2023 in Brasilien erschienen; Didi im November 2023 gestorben. José Bortoluci schreibt auf seinem Instagram-Kanal am 26.11.23: „Mein Vater, Didi, ist zu seiner letzten Reise aufgebrochen.“ Der Moment ist surreal, denn in mir ist seine Stimme wach und präsent. Im Buch ist er so sehr da.

©José Bortoluci, Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Autors

Immer weiter trägt es mich. Um im Un, Um im Un, Um-Un-im. Irgendwann bleibe ich stehen. Stehe und schaue. Und erinnere mich: „Auch im Stehen ist Bewegung.“7 Auch Stille pulsiert. Gedanken als in Gang gesetzer Sinn. Kogong, Kogong drauf hin.

18.06.2024
Fußnoten
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©Thomas Hummitzsch

Maria Hummitzsch, 1982 in Magdeburg geboren, studierte in Leipzig, Lissabon und Florianópolis Übersetzung, Psychologie und Afrikanistik. Nach Praktikums-und Volontariatsstationen im Plöttner Verlag, Leipzig, und im C.H.Beck Literaturverlag, München, arbeitet sie seit 2011 freiberuflich als Literaturübersetzerin aus dem Portugiesischen und Englischen. Seitdem hat sie rund 30 Romane und Erzählungsbände ins Deutsche übersetzt und wurde mehrfach mit Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds ausgezeichnet. Sie arbeitet regelmäßig als Moderatorin und Workshopleiterin, zuletzt im WS 2023/2024 als Gastdozentin des DÜF am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2015 gründete sie das Übersetzungszentrum der Leipziger Buchmesse, das sie seitdem mit wechselnden Kolleg·innen kuratiert. Von 2013-2017 war sie Beisitzerin, von 2017-2021 2. Vorsitzende des Bundesverbands VdÜ. Seit 2018 ist sie Beirätin im Förderausschuss des Kulturamts der Stadt Leipzig für den Fachbereich Literatur. Maria Hummitzsch lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

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