Seelenschrift
Journal zur Übersetzung von Schattenvolk. Erzählungen von Can Xue
Can Xue legt die innere Komposition der Seele frei [...]
Genau genommen ist dies das Thema all ihrer Schriften und die Quelle des Zaubers ihres Werks.
Deng Xiaomang1
Schnee: wer
dieses Wort zu Ende
denken könnte
bis dahin
wo es sich auflöst
[...]
Rolf Dieter Brinkmann2
Can Xue 殘雪 ist der Nom de Plume von Deng Xiaohua, die 1953 in Changsha als Tochter einer Verlegerfamilie geboren wurde. Als Intellektuelle fielen ihre Eltern Ende der 1950er Jahre der Kampagne gegen sogenannte »Rechtsabweichler« zum Opfer. Deng Xiaohua wuchs mit ihren Geschwistern in großer Armut in der Obhut der Großmutter auf. Auf diese schwere Zeit folgte die Kulturrevolution (1966 bis 1976), während der das Haus beschlagnahmt, der Vater eingesperrt und die Mutter zur »Umerziehung durch Arbeit« auf eine Kaderschule geschickt wurde. Mit dreißig, Deng Xiaohua hatte sich nach den Zehn Jahren Chaos mit ihrem Mann als Schneiderin selbstständig gemacht, begann sie zu schreiben.
Ich spürte, dass ich für diese zehn Jahre und die Zeit danach eine Sprache hatte, und dass sich die Leute das, was ich zur Sprache brachte, nie vergegenwärtigt, nie ausgedrückt hatten. Ich wollte es in Form von Literatur, von Phantasiegebilden zur Sprache bringen. Etwas Abstraktes und zugleich emotional Reines begann sich allmählich in meinem Inneren zu verdichten. Ich fing an zu schreiben, jeden Tag ein kleines Stück, ohne ganz genau zu wissen, warum ich auf diese oder jene Weise schrieb; unbedingt aber hielt ich an meinem Paradies fest, drehte und wendete jedes Wort im Mund, es war mir eine Freude.
In dieser Passage aus einem ganz frühen, autobiografischen Text, Sommersonne im schönen Süden, klingen bereits Splitter des Pseudonyms an, unter dem die Autorin seither schreibt: 殘雪Can Xue. Can Xue bedeutet übriggebliebener Schnee, noch nicht geschmolzener Schnee. Die Kombination dieser beiden Schriftzeichen ist rar, taucht aber bereits in klassisch chinesischen Gedichten auf. Der Schnee als etwas Reines und Verdichtetes, das wie das auf das Weiße des Papiers niedergelegte Wort »nichts anderes zu tun hat, als im Glanze seines Seins zu glitzern«,3 leuchtet unmittelbar ein. Als abstrakt lässt Schnee sich insofern begreifen, als sich in seiner Weiße die Abwesenheit von Farbe und zugleich grenzenlose Leere offenbart. Schnee, der nicht schmilzt, der sich nicht restlos auflöst, der wie das Wort, das in keiner Bedeutung restlos aufgeht, zu lesen und auszulegen bleibt. In diesem Sinne birgt das Pseudonym Can Xue, wenn man so will, ein ganz frühes poetologisches Programm. Nicht zuletzt erinnert auch das Wort Phantasiegebilde der Literatur aus obenstehender Passage des autobiografischen Textes an ein Gedicht von Rolf Dieter Brinkmann:
mich überrascht jedesmal neu, daß die Dinge
auf einem Blatt Papier imaginär werden,
sie sind imaginär. Sie sind Erscheinungen.4
Text als Performance: eine Übung im Lesen für Körper und Geist
Inzwischen liegt von Can Xue ein breites mit großen Preisen ausgezeichnetes Werk vor, das nicht nur Erzählungen und Romane, sondern auch literaturkritische und philosophische Schriften umfasst. Sie gilt seit Jahren als wichtigste Vertreterin der experimentellen literarischen Avantgarde in China. Seit Susan Sontags Statement, »If China has one possibility of a Nobel laureate it is Can Xue«, steht sie im Vorfeld der Verleihung des Literaturnobelpreises regelmäßig auf den Listen der Buchmacher, 2023 ganz oben. Ihre Bücher sind in viele Sprachen übersetzt, in Japan gibt es ein eigenes Forschungsinstitut zu ihrem Werk, und in den USA wird kaum ein Kurs im Fach Creative Writing abgehalten, bei dem Can Xue nicht zur Pflichtlektüre gehört.
Es lässt sich nicht über Can Xue schreiben, ohne zu erwähnen, wie sie schreibt. Denn schon früh erkannte die Autorin (die anfangs parallel zum Schreiben immer noch als Schneiderin tätig war und auch heute noch zwischendurch den ein oder anderen Entwurf für ein Kleidungsstück zeichnet) ihr »Talent, den Körper zur freien Performance einzusetzen« und wandte sich daraufhin »wie von selbst der Écriture automatique zu«.5 Can Xue schreibt jeden Tag eine Stunde lang ins Reine, das heißt, sie greift im Nachhinein nicht in das mit der Hand aufs Papier Niedergelegte ein. Ihre Texte entstehen dadurch buchstäblich in einer Sequenz von Live-Performances, in denen die Autorin ihr Werk vollzieht. Dabei folgt die Écriture automatique »einer rigorosen, emotionalen Logik und ist eine uralte, höchst kreative Kunstfertigkeit, die die Chinesen und Chinesinnen meisterhaft beherrschen, die aber zugleich fest mit der westlichen Kultur verbunden ist«.6 Es ist diese Präsenz, die sowohl geistige als auch körperliche Gegenwart der Schreibenden, die ihren Texten eine so ungeheure Intensität verleiht und den Eindruck vermittelt, ihre Lektüre sei »erschlagend existentiell«.7
Eine weitere Konsequenz aus diesem performativen Schreiben ex tempore, der Écriture automatique, ist, dass die Schreibende dabei nicht eine rational ausgearbeitete Handlung oder Geschichte mit fertigen Figuren zu Papier bringt, sondern ihre Kunst besteht darin, zuzulassen und auszuhalten, dass das Unbewusste sich Bahn bricht, und es so zu verwandeln, dass aus Nichts Etwas entsteht. Doch es ist nicht nur das Unbewusste im Freud‘schen Sinne, das den Augenblick speist, den die Schreibende zu ihrem Text wendet, sondern die Gesamtheit der Sinneswahrnehmungen, Erinnerungen und Traumbilder, die während der Performance, des Vollzugs des schöpferischen Akts auf sie einströmen. Can Xue selbst beschreibt ihre Vorgehensweise folgendermaßen: »Ich schreibe seit über dreißig Jahren und die Methode, die ich dabei anwende, ist exakt der kreative Akt in der modernen Kunst: Bei dem Vorstoß in den dunklen Abgrund des Bewusstseins wacht die Vernunft von außen über diesen Akt, und die Sinne sind dabei voll aufnahmebereit. In der Spannung zwischen diesen beiden Kräften entstehen die fantastischen idealistischen Fabeln meiner Geschichten. Ich denke, dass jemand, der so zu schreiben vermag wie ich, über eine ungeheure ursprüngliche Energie sowie einen hochgradig rationalen Geist verfügen muss, denn nur so lässt sich inmitten eines gespaltenen Bewusstseins der schöpferische Akt als Ganzes aufrechterhalten.« Dies erklärt, wie ich denke, warum die Prosa von Can Xue so erratisch scheint, aber dennoch in sich vollkommen stringent und alles andere als beliebig ist, warum sie oft surreal scheint, aber dennoch durch und durch von Materie und Material getränkt ist, die realistischer nicht sein könnten.
Franz Kafka ist einer der Autoren, den Can Xue als prägend für ihre Arbeit nennt, und mit dem sie sich auch in ihrer Literaturkritik befasste. Deshalb liegt es vor diesem Hintergrund nicht fern, an den Tagebucheintrag zu denken, den Kafka am Morgen nach der Nacht, in der er »Das Urteil« in einem Zug niederschrieben hatte, verfasste: »Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.«
Ein Buch wie ein Kaleidoskop
2021 hatte ich für ein von Daniel Medin zusammengestelltes Dossier zu Can Xue, das in der Zeitschrift Schreibheft Nr. 99 erschien, drei ihrer Erzählungen – in einem Atemzug – übersetzt.8 Ich war bei dieser ersten Begegnung wie in einen Sog dieser konzentrierten Prosastücke geraten, die sich wie Meditationen zu jeweils einer zentralen Figur lesen. Es ist schwer zu beschreiben, was genau mich beim ersten Lesen und Übersetzen dieser Texte derart in seinen Bann geschlagen hat. Es gibt im Grunde keine Handlung im herkömmlichen Sinn, die sich logisch-linear entwickelt. Oft sind es Muster – und hier sind wir wieder beim Stoff und dem Schneiderhandwerk –, die sich innerhalb eines Textes oder über verschiedene Texte hinweg verfolgen und zusammenfügen lassen. Die Identität der handelnden Figuren bleibt meist schwer greifbar, Ort und Zeit des Geschehens sind innere, subjektiv wahrgenommene Räume und nicht objektiv nachvollziehbare Ordnungen. Die Tatsache, dass Can Xues Schreiben ihrer eigenen inneren Logik folgt, führt dazu, dass die Sprache als allgemein gültiges Bezugssystem versagt, und wir in unserem Wunsch zu verstehen auf uns selbst zurückgeworfen sind, wie die einzelnen und vereinzelten Figuren in den Erzählungen. Wieder denke ich an Kafka, »Der Weg zum Nebenmenschen ist für mich sehr lang«, heißt es in einer anderen Tagebuchnotiz.
Ich lief weiter, immer weiter geradeaus. In diesem Slum war es so, dass die Sonne plötzlich herauskommt und sich ebenso plötzlich wieder zurückzieht. Hier war es überall düster und dunkel, besonders außerhalb der Häuser. Und in den Häusern war es mehr oder weniger genauso, es herrschte die gleiche Dunkelheit, die man nicht mehr spürte, sobald man sich daran gewöhnt hatte. Ein kleines Kind lag am Straßenrand und schlief. Es sah ein wenig aus wie A-yuan, doch es war bestimmt nicht A-yuan. Wer also war es? Mir fielen vor allem die Knöchel seiner nackten Füße auf, sie waren ganz wund gerieben. Ob das Spuren von einem Seil waren? Ich stupste gegen seinen Kopf, da spuckte er eine ganze Reihe von Blumennamen aus und lachte. Ein Ferkel kam herbeigelaufen, es war das gefleckte Schweinchen, das Großväterchen hielt. Das Ferkel beschnupperte den Jungen und lief wieder weg, da lachte der Junge noch mehr. War das überhaupt ein Lachen? Ein »kikikiki«, das kaum nach einem Lachen klang. Gehörte er denn in dieses Haus da? Die Tür stand offen, ich ging hinein.9
Ann Cotten schreibt im Nachgang ihrer Lektüre der Erzählungen: »Wir sind es gewohnt, scheint mir, dass Texte, selbst wenn sie schreckliche, perverse, traumatisierende Dinge verhandeln, sinngebend wirken, den Ereignissen eine (kausale und symbolische) Ordnung geben, eine logische Kontinuität. Dass Can Xues Texte das unterlassen und vielmehr die Resilienz von Figuren in einer sich ständig stochastisch verschiebenden Welt erzählen, lässt daher anerzogene Erwartungen unbefriedigt.«10 Wir scheitern dabei, dem, was wir beispielsweise hier in einem Auszug aus »Geschichten aus dem Slum« lesen, einen Sinn zu geben. Dennoch spüren wir diese »Resilienz« der Figuren, wie Ann Cotten es nennt, die dennoch immer weiter laufen und leben, allein vom Zufall und einer namenlosen Sehnsucht getrieben. Die Figuren fragen nicht warum und nicht wohin, sie lassen es geschehen, nehmen es an und hin als Bedingung ihres Seins. Daher der Eindruck, die Lektüre sei »erschlagend existentiell«.
Wissend, dass wir keine Antwort auf die große Frage nach dem Sein und dem Sinn des Lebens erhalten, folgen wir den fantastischen Gestalten auf ihrem idiosynkratischen Zickzacklauf im Kleinen. Die Sinnbefreitheit, die wir dabei erfahren, ist eine Eröffnung – wie der Blick in ein Kaleidoskop, bei dem kleine, bunte Scherben oder Objekte aus Glas durch das Drehen des Betrachters und mehrfache, kaum berechenbare Spiegelungen immer wieder neue fantastische Figuren und Muster bilden.
Die alte Zikade
»Schattenvolk« ist ein Band mit sechzehn längeren und kürzeren Erzählungen, die Can Xue in den Jahren 1996 bis 2018 verstreut in chinesischen Literaturzeitschriften publizierte. Die Helden der Geschichten sind jeweils eher Randfiguren im allgemeinen Geschehen der Welt – ein Weidenbaum, eine Ratte, zwei kleine Jungen, ein Elsternpaar, eine Jugendliche, eine alte Frau, zwei ungleiche Freundinnen, eine Königin ohne Reich, eine Zikade und andere mehr. Auf die Frage, welche Geschichte aus dem Band ihr die liebste sei, antwortete die Autorin: »Ich mag alle meine Geschichten. Aber wenn ich eine auswählen müsste, dann wäre es Die alte Zikade. Diese Geschichte ist vollkommen und schön und, was noch wichtiger ist, sie ist von Heldentum getränkt.«11 Ich denke, Die alte Zikade ist auch meine Lieblingsgeschichte. Die alte Zikade ist ein Einzelgänger, ein Junggeselle und Vorsänger eines Chors, der vollkommen in seine Erinnerungen und Tagträume, seine Gedanken und leidenschaftlichen Gesang versunken scheint. Vom hohen Zweig einer alten Pappel aus beobachtet er eines Tages, wie eine Spinne eine weibliche Zikade tötet und fragt sich, ob das Stöhnen der Artgenossin im Augenblick des Todes Ausdruck von Schmerz oder Lust gewesen ist. Von einer Art Todessehnsucht getrieben, gerät er daraufhin selbst in einen Zweikampf mit der mörderischen Spinne, die seinen kräftigen Körper in vier Teile zerlegt. Doch sein Kopf überlebt und will, offenbar beseelt von dem Gedanken fortzuleben, seinen Körper wieder ausbilden. Durch äußerste Konzentration gelingt es ihm, diesen Gedanken umzusetzen, sich ins Leben zurückzukämpfen, auch wenn der nachgebildete Körper grotesk klein im Verhältnis zu seinem Kopf wirkt. Eine fantastische Geschichte, in der es um ein kleines Insekt und zugleich um das große Ganze geht: um das Verhältnis von Körper und Geist. In der westlichen Philosophie besteht gemäß Can Xue ein Missverhältnis zwischen diesen beiden Aspekten des Menschen, da bei uns der Stellenwert des Materiellen, der Leibhaftigkeit der Natur, nicht hoch genug ist. In ihren Texten tritt sie für eine neue Auffassung von Philosophie ein: »Ich hebe die Materie, also den Körper des Menschen und den Körper der Natur, auf die im philosophischen Sinne höchste Stufe, sodass sie mit dem Geist gleichrangig ist, und die beiden einander wesentlich sind, und einen absoluten Widerspruch bilden.«12
Can Xue: Schattenvolk. Aus dem Chinesischen von Eva Schestag. Matthes & Seitz Berlin, 2024.
Schattenvolk
Schattenvolk, die Erzählung, die dem Buch seinen Titel gibt, ist eine weiterer großer Text. Meike Rötzer, Schauspielerin und Verlegerin des Erzählbuchverlags, hat ihn im Rahmen des Projekts Translasien am CATS der Uni Heidelberg eingelesen. Ich danke Meike Rötzer für ihre genaue Lektüre, die der Aufnahme vorausging, für ihre starke Stimme und die Möglichkeit, die Tonspur hier zu verlinken. Der Vortrag des Textes setzt die Idee der Performance und des Vollzugs des Werks beim Lesen noch unmittelbarer um als die stille Lektüre, verleiht ihm kraft der Stimme geradezu einen Körper.
Absolute Gegenwart
In der ersten und längsten Erzählung des Buchs, Geschichten aus dem Slum (in fünf Teilen), folgen wir einer Ratte, die als Ich-Erzählerin auftritt, deren Identität aber letztendlich ungeklärt bleibt, durch die engen und dunklen Straßen eines in einer Senke liegenden Slums. Sie macht dabei skurrile Begegnungen und ihr widerfährt zum Teil Entsetzliches. Dennoch hält sie auf ihrem Weg und in ihrer Bewegung – immer weiter oder fort von hier – nicht ein. Sie verzehrt sich vor Sehnsucht nach der Erinnerung ihrer Heimat. Ihr Zuhause ist der Slum. In der Übersetzung wechsle ich in der Wahl des Tempus zwischen Präsens und Präteritum. Allgemeingültige Aussagen setze ich im Deutschen in die Gegenwart, das ereignishaft Erzählte gebe ich im Präteritum wieder, unserer klassischen Zeitform der Narration. Am Ende eines jeden Kapitels, wo die Ratte über das Leben räsoniert, kehre ich jeweils wieder ins Präsens zurück. Im Chinesischen gibt es kein grammatikalisches Tempus und entsprechend keine morphologische Kennzeichnung. Ich treffe also beim Übersetzen immer eine Entscheidung, in welcher Zeitform ich den Originaltext wiedergeben möchte. Wenn ein Satz oder eine Passage beispielsweise mit »vor drei Tagen« eingeleitet wird, versteht die Leserin, dass das Ereignis zurückzudatieren ist. Sie behält dies im Hinterkopf aber liest, wie mir ein chinesischer Freund bestätigte, in der Gegenwart des Geschehens weiter. Beim Übersetzen der Texte aus diesem Band hatte ich zunehmend den Eindruck, dass es zwischen Erleben und Erzählen kaum eine Distanz gibt, sondern dass beide Ebenen synchron verlaufen, und dass das Präteritum, das ja immer auf ein Geschehen zurückblickt, hier nicht die angemessene Zeitform im Deutschen sei. Das Erlebte ist hier dem Erzählten so nah, so unmittelbar, dass sich mir das Präsens, als sei es eine neutrale oder detemporalisierte Zeitform, geradezu aufdrängte. Bei vier der insgesamt sechzehn Erzählungen gab ich diesem Drang nach. Eine davon ist »Bekenntnisse eines Weidenbaums«, wobei der Weidenbaum der Ich-Erzähler ist.
Es gibt noch andere Laute, ein undeutliches Grummeln und Tschirpen, bei dem sich nicht genau sagen lässt, woher es kommt. Doch diese Laute haben einen noch tieferen Sinn und verstärken meine Unruhe und meine Neugier. Es sind diese verborgenen Bewohner, so kann man sagen, die mein Interesse am Leben aufrecht erhalten. Zwar hat der Gärtner mir seit langem kein Wasser mehr gegeben, und dieser Kampf zwischen Leben und Tod ist bedrückend, doch es genügt, dieses Grummeln und Tschirpen zu hören, damit die dunklen Schatten in mir weichen und alles Begehren wieder erwacht. Es lässt sich kaum eindeutig sagen, wie diese Laute beschaffen sind. Meinem Gehör nach ist der erzählerische Anteil darin groß. Sie sind nicht an jemand Bestimmtes gerichtet, doch ich nehme beim Hören dieser eigentümlichen Sprache etwas Provozierendes darin wahr.13
Die Stimme des Erzählenden erhebt sich nicht rückblickend von außen, sondern aus dem Inneren der Geschichte, und erlebt zeitgleich mit den Lesenden was geschieht und was ihm widerfährt. Der Ich-Erzähler tritt hinter das Sujet zurück, wir teilen seinen Blick, seine Empfindung, seine Wahrnehmung unmittelbar. Gleichzeitig wird durch die Synchronisierung von Erzählen und Erleben die Differenz zwischen Sprache und Welt aufgehoben. Die Sprache ist die Welt.
Im elften Buch seiner »Bekenntnisse« denkt Augustinus über die Zeit und die Ewigkeit nach und kommt in Kapitel zwanzig zu dem Schluss: »Eigentlich kann man gar nicht sagen: Es gibt drei Zeiten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, genau würde man vielleicht sagen müssen: Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit und eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft. In unserem Geiste sind sie wohl in dieser Dreizahl vorhanden, anderswo aber nehme ich sie nicht wahr. Gegenwärtig ist hinsichtlich des Vergangenen die Erinnerung, gegenwärtig hinsichtlich der Gegenwart die Anschauung und gegenwärtig hinsichtlich der Zukunft die Erwartung.«14Er denkt hier, stark vereinfacht gesagt, die Zeit in ihren drei Dimensionen von der Gegenwart her. Die Gegenwart als allumfassende Zeit oder als Schnittpunkt ihrer Erstreckung im Raum.
Das Präsens steht natürlich auch in enger Verbindung mit der Präsenz, der physischen Gegenwart der Schreibenden beim Vollzug des künstlerischen Akts, der Performance. Als Übersetzende begebe ich mich damit in die Gegenwart des Erzählens: Direkt in die Mitte von nirgendwo.
Drei Fragen an Can Xue
Während des Zeitraums der Arbeit an diesem Buch – und das oben dargelegte Material zeigt, dass es dabei nicht nur ums Übersetzen, sondern insbesondere auch ums Lesen, das Eintauchen in den Raum dieser Texte, ging – hatte ich zur Autorin unregelmäßig Kontakt. Manchmal schrieb ich ihr allgemein, worüber ich im Zusammenhang mit ihren Texten nachdenke, manchmal beschrieb ich eine spezifische Schwierigkeit, die mich bei der Übertragung ins Deutsche herausforderte. Es waren weniger Fragen, vielmehr Randbemerkungen aus dem Prozess meiner Lektüre. Dankbar las ich, oft schon am nächsten Morgen, ihre immer aufschlussreichen Antwortmails. Es gab aber drei Dinge, die ich sie gerne fragen wollte. Erst als der Verleger Andreas Rötzer und ich beschlossen, Deng Xiaohua um ein Interview zu bitten, war der Zeitpunkt dafür gekommen. Das gesamte Gespräch ist auf der Webseite von Matthes & Seitz Berlin zu lesen. Hier, ergänzend zum Text meines Journals, nun meine drei Fragen an Can Xue:
Can Xue hat ein breites Werk in unterschiedlichen literarischen Genres geschaffen – Kurzgeschichten, Erzählungen, Romane, Literaturkritik, philosophische Essays. Hat Can Xue auch Gedichte geschrieben? Was ist Can Xues Verhältnis zur Lyrik?
Can Xue
Ich liebe Gedichte. Als ich sehr jung war, las ich ziemlich viel chinesische und ausländische Lyrik. Damals versuchte ich mich auch an ersten eigenen, unausgereiften Gedichten. Erst mit dreißig, als ich anfing, wirklich literarisch zu schreiben, stellte ich fest, dass die moderne experimentelle Prosa das geeignete künstlerische Genre für mich war. Die Prosa gibt mir im Vergleich zur Lyrik mehr Freiheit, sie vermag den Ausdruck subtilsten Humors auf die Spitze zu treiben und auch in ihrem Bezug zum Reichtum der menschlichen Natur übertrifft sie die Lyrik. Doch meine Leidenschaft für die Lyrik habe ich nie verloren und mir durch das Schreiben meiner Prosa einen lyrischen Zug bewahrt, der all meinen Erzählungen und Romanen Poesie verleiht.
Sie haben auch als selbständige Schneiderin gearbeitet. Nähen oder entwerfen Sie auch heute noch Kleider? Wie wählen Sie Ihre Stoffe aus? Sind Sie an der Mode oder der Arbeit anderer Schneider oder Designer interessiert? In den Texten von Can Xue findet sich ein wiederkehrendes Motiv des Webens oder Stickens, und die Namen der Figuren lesen sich manchmal wie Blumenmuster in den Stoffen (z.B. in der Erzählung Rabenberg).
Can Xue
Ich freue mich sehr über Ihre Lektüre. Experimentelle Literatur sollte, wie ich denke, genauso gelesen werden. Das Wichtigste dabei ist, Strukturen und Figuren des emotionalen Begehrens zu entdecken. Als junge Frau hatte ich Freude an Mode und großes Interesse an der Beschaffenheit und Qualität von Stoffen. In der Bibliothek, in der meine ältere Schwester arbeitete, lieh ich mir oft Modezeitschriften aus, studierte sie genau und kopierte daraus. Besonderes Augenmerk legte ich auf das Gesamtgefühl, das ein Kleidungsstück seinem Träger verleiht, was zeigt, dass ich ein Mensch bin, der Wert auf »Figuren« legt. Später übertrug ich dieses Anschauungsvermögen auf das Verfassen meiner Prosatexte. Beim Schreiben lese ich aus allem Material, das mich interessiert, durch bloße Anschauung Figuren heraus, und diese Figuren entsprechen im Grunde der Struktur meines inneren emotionalen Begehrens. Für Ungeübte ist das natürlich ungemein schwierig, und nur sehr erfahrene Leser können das erreichen. Ich verwende auch gerne die Begriffe »Muster« oder »Blumenkranz«, um die Struktur des Begehrens in meinen Texten zu beschreiben. Wenn ein sprachliches oder figuratives Material mein Begehren erregt, nutze ich diesen Impuls und schaue, was sich daraus machen lässt. Sobald ich in Aktion trete, ist meine Maxime: etwas Neuartiges zu schaffen, etwas, das noch nie jemand auf der Welt hervorgebracht hat. Normalerweise fertige ich etwas an, ohne genau zu wissen, was und wie es eigentlich beschaffen ist. Erst nach einer Weile verdichtet es sich, und ich kann langsam sagen, was es bedeutet. Doch eines ist gewiss: Sofern es sich um ein Material handelt, für das ich mich besonders interessiere, wird mein Bemühen, etwas zu konstruieren, Figuren von wesenhafter Schönheit hervorbringen. Das hat mich die Erfahrung gelehrt. Und beim Lesen ist der Text das Material für den Lesenden, das die Körperfunktion in Gang setzt und aus diesem Material die Figuren seines eigenen Begehrens konstruiert.
Beim Übersetzen von chinesischer Literatur ist es immer schwierig, die Bedeutung oder den semantischen Gehalt von Eigennamen auszublenden und lediglich deren Aussprache mit den Buchstaben unseres Alphabets nachzubilden. Die beiden Mädchen in der Erzählung »Rabenberg« zum Beispiel haben die Namen von zwei Blumen (›Seerose‹ und ›Margerite‹, wenn man so will). Wenn es in der deutschen Übersetzung nur Qinglian und Jühua heißt, geht eine ganze Dimension verloren und darüber hinaus wird der deutsche Leser mit der Aussprache von Q und J am Anfang dieser Namen zu kämpfen haben und die Umschrift als Hindernis beim Lesen ansehen. Wenn man hingegen einen Eigennamen übersetzt, bleibt ein Gefühl von Verlust hinsichtlich dessen, was ein Name an Geheimnis birgt, denn ein Name ist kein Wort, das sich übersetzen, oder ein Rätsel, das sich lösen lässt. Ich möchte Sie fragen, wie Sie die Namen Ihrer Figuren auswählen und woher sie kommen?
Can Xue
Beim Lesen der englischen Übersetzung meiner Texte begegne auch ich regelmäßig diesem Problem und empfinde dabei genauso wie Sie. Da meine Prosa zur experimentellen Literatur zählt, gebe ich meinen Charakteren Namen, die sich stark von denen der realistischen Literatur unterscheiden. Diese Namen sind alle im Kontext eines emotionalen Begehrens entstanden und ausgewählt, sogar die Nachnamen sind oftmals erfunden. Sie entsprechen also nicht den Lesegewohnheiten eines normalen Lesers. Manchmal muss der Versuch, die Eigennamen von einer Sprache vollständig in eine andere zu transportieren, einfach scheitern. Insofern ist es oft unvermeidlich, dass dabei etwas verlorengeht. In ihrer Verzweiflung bleibt der Übersetzerin oft keine andere Wahl, als eine Notiz ans Ende des Buchs zu setzen, um das Verlorengegangene möglichst zu retten. Je umfassender und häufiger mein Werk übersetzt wird und die internationalen Leser und Leserinnen mit Can Xues Prosa vertraut sind, wird dieser Verlust vielleicht ein wenig aufgefangen. An dieser Stelle möchte ich Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit in diesen Fragen danken. Tatsächlich bergen auch die Namen der Figuren in Can Xues Texten ein gewisses Geheimnis, und erst am Ende des Buchs und nach reiflichem Nachdenken kann ein Leser Vermutungen über die genaue Bedeutung dieser Namen anstellen.