„Werke erschaffen, die wachsen werden wie Gras“
Journal zur Übersetzung der autobiographischen Trilogie des slowenischen Schriftstellers Vitomil Zupan (1914-1987)
Also Literatur: Aber kein erfundenes, belletristisches Gesöff, sondern die Niederschrift des Lebens selbst. Das Leben schreiben! Dem Leben selbst in die Fratze schreiben, Himmel und Hölle bestehlen und Werke erschaffen, die wachsen werden wie Gras.
Vitomil Zupan: Levitan. Ein Roman – oder auch keiner. Guggolz Verlag, 2024, S. 254
Es erscheint heute fast unbegreiflich, wie lange es gebraucht hat, bis ein Buch Vitomil Zupans auch in deutscher Sprache zu lesen war. Die erste Übersetzung eines Zupan-Textes überhaupt, der Roman Reise ans Ende des Frühlings, wurde 2013 im Rahmen der von mir initiierten und herausgegebenen Buchreihe Slowenische Bibliothek veröffentlicht und von der Kritik als Entdeckung begrüßt.1 Auch wenn der Buchreihe selbst kein glückliches Schicksal beschieden war und letztlich nur fünf Bände umgesetzt wurden, so war, was Zupan betrifft, der Anfang gemacht, und als im Jahr 2021 bei Guggolz der Roman Menuett für Gitarre (zu 25 Schuss) erschien, war der Autor kein ganz Unbekannter mehr. Das Buch wurde gleich nach Erscheinen zum Buch des Monats auf den Kultursendern Ö1 und SWR2 gewählt und ging bereits einige Wochen danach in die zweite Auflage. Es wurde in einer Vielzahl von Buchbesprechungen gewürdigt, die Rede war von „literarischer Sensation“2, und Karl-Markus Gauß eröffnete seine Rezension mit den Worten: „Stünde Vitomil Zupan nicht in der Ungnade des falschen Geburtsortes, würde er heute als einer der großen europäischen Erzähler des 20. Jahrhunderts gelten.“3
Der Erfolg bekräftigte uns in unserem Vorhaben, an diesem Autor dranzubleiben. Dies war allerdings schon dadurch begründet, dass Menuett für Gitarre, dieser 1975 erschienene Roman über den Krieg und den Menschen im Krieg, Teil einer autobiographischen Romantrilogie ist, die schon zu Lebzeiten in Jugoslawien Kultstatus genoss und die mit ihren insgesamt rund 2.000 Seiten die Epochen- und Systembrüche abdeckt, die Slowenien von der Endphase des Österreichischen Kaiserreichs über die jugoslawische Monarchie, über Okkupation und Widerstand bis in die sozialistische Föderation Jugoslawien geprägt haben. Mit Levitan, Zupans Roman über seine Haft nach dem sogenannten Kominformkonflikt 1948, findet diese nun auch ihre Fortsetzung in deutscher Sprache. Die Erstausgabe erschien 1982 (sieben Jahre nach dem Menuett und zwei Jahre nach der Komödie des menschlichen Gewebes) und stellt damit scheinbar den Abschluss des erwähnten Romankomplexes dar, den bereits der Autor und Kritiker Aleš Berger Ende der 1980er Jahre als Trilogie bezeichnet hat.4 Nach der Entstehungszeit – das erhaltene Typoskript ist mit 5. Februar 1970 datiert – handelt es sich allerdings um den ersten der drei großen autobiographischen Texte, die noch zu Lebzeiten des Autors publiziert wurden. Zupan begann daher, wenn man so will, mit dem Zeitraum, der ihm am nächsten war, und arbeitete sich dann in der Chronologie über die Kriegszeit vor bis zur Kindheit. Es handelt sich allerdings um kein konsistentes Erinnerungswerk mit gleichbleibendem Protagonisten, sondern vielmehr um drei für sich stehende Texte, die unabhängig voneinander funktionieren und zwischen Erinnerung und literarischer Fiktion stehen.
Vitomil Zupan: Menuett für Gitarre (zu 25 Schuss). Aus dem Slowenischen und mit einem Nachwort von Erwin Köstler. Guggolz Verlag, 2021.
Vitomil Zupan: Levitan. Ein Roman – oder auch keiner. Aus dem Slowenischen und mit einem Nachwort von Erwin Köstler. Guggolz Verlag, 2024.
Levitan (1970/1982/2024)
Die Niederschrift des Romans fällt noch in die Zeit der gesellschaftlichen Liberalisierung in den späten 1960er Jahren. Das Buch sollte ursprünglich 1973 erscheinen, der Cankar-Verlag hatte es bereits im Programm und das Autorenhonorar war ausbezahlt. Letzten Endes wurde der Text aber mit der lapidaren Bemerkung an den Autor retourniert, dass die Zeit noch nicht reif dafür sei. Man kann davon ausgehen, dass nicht die Gefängnisthematik ausschlaggebend für diesen faktischen Akt der Zensur war, sondern Themen, die Zupan am Rande, wenn auch explizit erwähnt, vor allem was das „Umerziehungslager“ auf der Insel Goli otok und die Verfolgung ehemaliger Häftlinge deutscher KZs im Rahmen der sogenannten Dachauer Prozesse betrifft. Bis zu Titos Tod (1980) durfte über diese Dinge nicht öffentlich gesprochen werden. Als Levitan 1982 schließlich erschien, stellte sich die Frage der Zensur nicht mehr, das Buch erschien ohne wesentliche Kürzungen, die über das für ein Verlagslektorat übliche Maß hinausgegangen wären. Das Originaltyposkript enthielt noch eine kurze, im Buch nicht abgedruckte Präambel, in der der Autor schreibt, dass Levitan kein Erinnerungsbuch sei, sondern dass darin vielmehr Erlebtes und Fiktives eine Einheit bildeten. Von einem „Gefängnisroman“ zu sprechen, wird dem Buch aber auch nicht ganz gerecht, man könnte es ebenso gut einen Gesellschaftsroman nennen, weil die Belegschaft des Gefängnisses im Grunde ja die gesamte damalige Gesellschaft repräsentiert.
Jugoslawien ging aus dem Zweiten Weltkrieg als sozialistischer Staat nach stalinistischem Vorbild hervor. Der blieb es auch bis zum Bruch zwischen Tito und Stalin, den 1948 der Ausschluss Jugoslawiens aus dem Kominform besiegelte. Die Konsequenzen dieser Geschehnisse hatten nicht nur politische Kader und Funktionäre, sondern im Grunde die gesamte Bevölkerung Sloweniens zu tragen. Hatte man davor Probleme bekommen, wenn man etwas Kritisches über Stalin geäußert hatte, so konnte man jetzt im Gefängnis landen, wenn man sich nicht entschieden genug gegen ihn aussprach. Nicht einmal gestandene Kommunisten und Widerstandskämpfer waren sicher vor Verfolgung, und noch viel weniger waren es Intellektuelle, die sich von vornherein in kein Freund-Feind-Schema fügten. Ein solcher war auch Vitomil Zupan, der nach seiner heldenhaften Rückkehr aus dem Krieg vor allem mit seinem auffälligen Lebenswandel und allerlei Eskapaden auf sich aufmerksam machte. 1947 hatte der damals 33-Jährige mit dem Prešeren-Preis die höchste Republiksauszeichnung für Literatur erhalten – allerdings für ein Theaterstück, das die Partei- und Kulturideologen Sloweniens wegen seines dekadenten Individualismus verurteilten. Im August 1948 wurde der Autor verhaftet, weil er sich zusammen mit dem ehemaligen Partisanenkommissar und späteren Literaturwissenschaftler Dušan Pirjevec den Scherz erlaubt hatte, dem hohen Genossen Josip Vidmar per Telefon mitzuteilen, dass Tito und die gesamte Belgrader Regierung einem eben im Schweizer Radio gesendeten Bericht zufolge zurückgetreten seien, was angeblich für einige Unruhe im slowenischen Kabinett gesorgt hatte. Nach Monaten der Untersuchungshaft, in denen Zupan nicht einmal wusste, was ihm zur Last gelegt wurde, wurde er in einem monströsen Schauprozess im Februar 1949 unter anderem wegen Störung der „öffentlichen Moral“, sexuell abnormen Verhaltens, versuchten Mords und Mitschuld am Selbstmord einer Genossin, wegen Feindpropaganda, Spionage und Hochverrats zu fünfzehn (nach Berufung zu achtzehn) Jahren Haft verurteilt, von denen er mehr als sechs in verschiedenen Gefängnissen absaß. In der Folge konnte er bis 1960 in Slowenien nicht unter eigenem Namen veröffentlichen (in Serbien merkwürdiger Weise schon, zumindest ein Buch ist vor 1960 unter seinem bürgerlichen Namen erschienen); und erst danach konnte er sich als Schriftsteller etablieren, denn obwohl er ein mit den höchsten Ehren versehener Autor war, gab es von ihm fast nichts Gedrucktes zu lesen. Soweit der biographische Hintergrund für die Geschichte Levitans, des Titelhelden dieses Romans.
Zur Übersetzung
Vitomil Zupans autobiographische Romane sind ungemein reich an zeitgeschichtlichen, politischen, kulturhistorischen Realien und Referenzen, weswegen sich von vornherein ein erheblicher Aufwand an Einzelstellenkommentaren ergibt, um ein vertieftes Textverständnis zu ermöglichen. Da jedem System ein bestimmter Sprachgebrauch entspricht, betrafen diese Anmerkungen bei Menuett für Gitarre zum Beispiel eine Vielzahl von Begriffen und Namen aus dem Partisanenjargon, wobei Fremdwörter wie „teren“ (Terrain) oder „miting“ (Meeting) keine sprachlichen Probleme bereiten, weil im Deutschen zwanglos die anglophonen Formen verwendet werden können. Die Bedeutung aber ist eine spezielle und muss erklärt werden (ein „Meeting“ zum Beispiel bezeichnet eine Veranstaltung, die der politischen und allgemeinen Bildung sowie der kulturellen und künstlerischen Betätigung dient; „Terrain“ ist nicht nur ein Synonym für Gelände, sondern bezeichnet auch eine Organisationseinheit). Noch einmal anders verhält es sich mit Begriffen, die als Neologismen in den Zieltext eingehen: Das Wort „hajka“ (Kesseltreiben) bezeichnet punktgenau die Hetzjagden der Deutschen auf die Partisanen (das zentrale Motiv des Romans), zudem gibt es Ableitungen wie das Verb „zahajkati“ (während einer Hajka eines Ausrüstungsgegenstandes verlustig gehen): Ich habe diese Begriffe nicht umschrieben, sondern als Lehnwörter („Hajka“, „verhajken“) aufgenommen, um der Redeweise der Protagonisten gerecht zu werden. Generell manifestiert sich in der im Roman herrschenden Polyphonie aus Erlebtem, Gedachtem, Gelesenem, aus Erfundenem und faktisch Überprüfbarem, aus Anekdoten, Witzen und skurrilen Einfällen eine Vielfalt an Idio- und Soziolekten, die in der Übersetzung natürlich herausgearbeitet werden mussten.
Diese Anforderungen stellten sich beim Übersetzen des Levitan fast noch in höherem Maß als beim Menuett. Über die Thematisierung der in der Haft erreichbaren Lektüren knüpft der Autor ein derartiges intertextuelles Bezugsnetz, dass allein schon die Recherche der von ihm genannten Titel zu einem intensiven, in meinem Fall mehrwöchigen Bibliotheksstudium geriet. Die vielen Zitate, die Zupan gegebenenfalls nur in Paraphrase wiedergibt, mussten aufgefunden, der Wortlaut verifiziert werden, um sich anschließend vielleicht wieder nur als Paraphrase in den übersetzten Text einzufügen. Deutsche Titel und Zitate sollten, was ihre Wiedergabe in einer deutschen Übersetzung betrifft, im Prinzip keine besonderen Probleme bereiten, wenn wir davon absehen, dass geflügelte Worte in verschiedenen Varianten kursieren können. Es kann aber auch sein, dass Zupan die falsche Quelle angibt. So verlor ich etwa bei der Zitatparaphrase „Man ist nichts gegenüber so unduldsam wie eben abgelegten eigenen Irrtümern“ viel Zeit, indem ich der Quellenangabe des Autors (Goethe, Gespräche mit Eckermann) folgte, anstatt mich unbeeinflusst auf die Suche nach der richtigen Quelle zu machen (das Zitat stammt aus der Schrift Kampagne in Frankreich aus dem Jahr 1792). Bei nicht-deutschsprachigen Zitaten aus Titeln, die vielleicht mehrmals ins Deutsche übersetzt wurden, muss man sich für eine Ausgabe entscheiden, wobei das Entscheidungskriterium ganz banal die Zitierbarkeit im Fließtext sein kann (es kann sich daher um eine ganz marginale Ausgabe handeln). Schwieriger wird es dort, wo man eigentlich ein Fachmann sein müsste, um abschätzen zu können, welche Ausgabe als verbindlich und daher zitierbar anzusehen ist. Zum Teil ist die Überlieferungssituation selbst dermaßen unübersichtlich, dass eine Entscheidung ohne Expertenwissen im Grunde gar nicht getroffen werden kann – schon gar nicht, wenn die von Zupan zitierte Stelle in keiner der gewälzten deutschen Ausgaben zu finden ist. Das ist zum Beispiel der Fall bei den altindischen Veden und Upanischaden, die Zupan aus irgendeiner mir unbekannten Quelle zitiert, von der ich nicht einmal weiß, in welcher Sprache sie der Autor gelesen hat. Ich habe solche Dinge pragmatisch gelöst, indem ich in den Anmerkungen angegeben habe, dass sie für mich nicht eruierbar waren, und dass ich die Textzitate eben aus dem slowenischen Original übersetzt habe. Wo es möglich war, habe ich aber auf bestehende Übersetzungen zurückgegriffen.
Das zuletzt genannte Beispiel bezieht sich auf das Schlusskapitel des Romans, in dem Levitan davon berichtet, wie er im letzten Jahr seiner Haft plötzlich ganz offiziell die Bedingungen zum Studieren und Schreiben vorfindet und seine bisher gemachten, nach und nach beschlagnahmten und ihm nun wieder zur Verfügung gestellten Notizen zu seiner, nun ja: Universalanthropologie (Zupan nennt sie „philosophische Essays“) systematisiert und ergänzt. Es ist eine Tour de Force durch sämtliche Wissensbereiche, von der Mathematik und Logik über die Physik und Anatomie bis hin zur Psychologie, zur Philosophie und den fernöstlichen Weisheiten (und ein Buch über Yoga und eines über Karate darf auch nicht fehlen). Man kann sich vorstellen, dass allein die Recherche der Zitate einiges an Laufarbeit erforderte, sofern sich ein Buch überhaupt in irgendeiner Bibliothek auffinden ließ, das war nicht immer der Fall.
Aber es wird noch schwieriger, nämlich dort, wo Zupan beginnt, seine Ergebnisse zusammenzufassen und sich dabei nur zum Teil auf bestehende Begrifflichkeiten (zum Beispiel aus dem Bereich der Philosophie) stützt, zum Teil aber seine eigenen Begriffe kreiert. Ein Beispiel für Letzteres ist der Terminus „usodobojnost“ (in etwa: die Bereitschaft, sich mit dem Schicksal anzulegen), der als solcher nur paraphrasierbar, also unübersetzbar ist, für den aber trotzdem ein bündiger Begriff gefunden werden musste, denn Zupan setzt ihn als eine der von ihm synthetisierten vier Hauptrichtungen aller tradierten Philosophien der Welt an. Ich kann gar nicht sagen, wieviel erfolglose Suche und Lektüre es erforderte, ehe ich mich für den etablierten Begriff „Pragmatismus“ entschied und Zupans wunderbar bildhaften Terminus fahren ließ.
Dabei waren in diesem schrecklichen Kapitel noch ganz anders gelagerte Probleme zu lösen, etwa: Wie sind die Namen altchinesischer Philosophen anzusetzen, sodass sie im deutschen Text noch wiedererkennbar und auch abseits der im Internet vorhandenen automatischen Verlinkung auffindbar sind? Ich nehme an, dass die wenigsten Leserinnen und Leser in der Lage sein werden, in Han Ju ohne Weiteres Konfuzius wiederzuerkennen (den Zupan an anderer Stelle übrigens ganz konventionell „Konfucij“ nennt). Das Gleiche dürfte allerdings auch für Namensformen wie Kong Qiu, Kong Fuzi, Kǒng Qiū oder K’ung Ch’iu gelten, die uns etwa der Wikipedia-Artikel zu Konfuzius neben anderen, alternativen oder obsoleten Formen anbietet. Latinisierte Formen (Konfuzius, Menzius) bieten sich allerdings nicht durchgängig an, siehe Lao-tse, der uns am ehesten in dieser Form vertraut ist. Aber was ist mit koexistenten Formen wie Xunzi oder Zhuangzi: Müsste man sie nicht angleichen, Hsun-tse und Jang-tse schreiben – oder eben Laozi und nicht Lao-tse? Man glaubt nicht, wie lange man sich mit solchen Fragen herumschlagen kann. Ich entschied mich letztlich, die Heterogenität der Formen, die ja der Überlieferung selbst eingeschrieben ist, auch in der Übersetzung sichtbar zu machen.
Diese Beispiele können die Probleme, mit denen ich als Übersetzer dieses Romans konfrontiert war, nur andeuten. Allein die Transliteration von Namen aus verschiedensten Sprachsystemen lässt sich nicht auf einen Nenner bringen; schon die Frage, wie ein russischer Name aus der slowenischen Umschrift in eine bei uns gängige (mit oder ohne „slawische“ Diakritika) zu transliterieren sei, lässt sich nicht so ohne Weiteres entscheiden. Einige Probleme verlangten nach Lösungen, die nur für den Einzelfall galten und aus denen sich daher keine Regel für andere, vergleichbare Fälle ableiten ließen. Und auch wenn die sich daraus ergebenden formalen Inkonsistenzen unbefriedigend erscheinen mögen: Sie entsprechen meiner Ansicht nach diesem Text, der so unangepasst ist wie sein Autor und sich wirklich auf allen Ebenen einer „braven“ Lektüre verweigert.
Letzteres gilt selbstverständlich auch für die Redeweisen der im Roman auftretenden Personen, allen voran des Protagonisten, dessen Autor man schon beim Menuett eine kräftige Portion Sexismus und ein problematisches Verhältnis zu Frauen nachgesagt hat. Tatsache ist, dass Zupan in der Beschreibung von Sexszenen und erotischen Phantasien kein Blatt vor den Mund nimmt und sich durchaus auch als Macho outet. Man sollte aber nicht außer Acht lassen, dass der Ich-Erzähler nie die Position des Beobachters bzw. Selbstbeobachters verlässt und daher Erotomanie, sexuelle Praktiken, Sadomasochismus usw. nicht anders behandelt als jeden anderen von ihm beschriebenen Bereich. Und was Levitan betrifft, darf man auf keinen Fall übersehen, dass es im Schauprozess gegen Zupan immer wieder und vorrangig um „öffentliche Unmoral“, um sexuell abnormes Verhalten und Perversitäten ging, um den Verurteilten nach Kräften zu diskreditieren, und dass deshalb die ausführlichen und offensiven Beschreibungen sexueller Handlungen, die er seinem Protagonisten in den Mund legt, eine spezifische Funktion im Text erfüllen. Denn der Verurteilte geht ja, indem er beschreibt, was die Richter alles nicht wissen, auf sehr provokante Weise auf den Wahrheitsgehalt der gegen ihn erhobenen Vorwürfe ein. Und er erzählt im Gegenzug, was man im Knast so alles über die Gefängnisverwalter und ihre Vorgesetzten hört, auch was die Abhaltung von Orgien (in beschlagnahmten Villen) und den Missbrauch der Autorität zu sexuellen Zwecken betrifft. Im Gefängnis, so Levitan, kriegt man eindeutig mehr mit als draußen.
Sehr derb ist mitunter auch die Sprache, die im Gefängnis gepflogen wird, je nachdem, wer redet. Wie im Menuett erweist sich Zupan als Meister der subtilen Figurencharakterisierung in der direkten Rede, und zwar nicht nur im Hinblick auf Ausdrucksweisen, sondern auch im Bezug auf das, was gesagt wird. Das Gefängnis repräsentiert im Kleinen die slowenische Gesellschaft: ehemalige Kriegsgegner und Widerstandskämpfer, Kommunisten und Katholiken, Intellektuelle, Unternehmer und Bauern, Geistliche, Klein- und Schwerkriminelle, Kosmopoliten und überzeugte Provinzler, Leute, die sich jedem System andienen, und solche, die mit keinem können: Sie alle lässt Zupan debattieren, Konflikte austragen, Bündnisse schließen, Verrat begehen. Aus ideologischen Gesichtspunkten handelt es sich keineswegs um eine konsistente Gesellschaft, durch die sich klare Trennlinien ziehen ließen; da erzählen ehemalige Partisanen und Kollaborateure einander schon mal launige Geschichten vom Krieg, und ein früherer Gestapomann wird zum wichtigen Verbündeten gegen die Gefängnisverwaltung. Der großen sozialen Diversität entspricht auf der sprachlichen Ebene eine Vielzahl von Soziolekten und mehr oder weniger volkstümlichen Repertoires; Anekdoten, Witze, Zoten, Rätsel machen die Runde, und die Ausdrucksweise ist, heute würde man sagen: alles andere als politisch korrekt. Die Übersetzung greift hier nicht ein, die Diktion der Sprecher wurde nirgends geschönt oder willentlich verändert. Ein eigener Soziolekt ist die Gefängnissprache, die manchmal Begriffe enthält, die ebenso im Slowenischen wie im Deutschen verwendet werden (zum Beispiel „cinker“, „Zinker“),5 bisweilen aber auch hochspezifisch für die Zeit und das System sind, in dem die Geschichte spielt, und die in die Übersetzung übernommen beziehungsweise lehnübersetzt wurden (zum Beispiel „stari delikt“, „Altdelikt“, also jemand, der sich während der Okkupation etwas zuschulden hat kommen lassen). Ein Thema waren auch die zahlreichen Germanismen bzw. Austriazismen, die sich einer Übersetzung ins Deutsche klarerweise sperren und deshalb bisweilen nur durch Kursivsetzung kenntlich gemacht wurden (zum Beispiel „flajšmašina“, „Fleischmaschine“), zum Teil aber auch wieder in den deutschen Text lehnübersetzt („šufecne“, „Schuhfetzen“; „šraufati“, „schraufen“ [im Sinn von „quälen“]) oder situationsabhängig auch in der originalen Gestalt übernommen wurden („ohcigar“, „ohcigar“, gemeint ist ein Achtzigernagel). Auch hier also verschiedene Zugänge, um der Polyphonie des Ausgangstextes möglichst gerecht zu werden und auch einiges an sprachlichem Kolorit zu transportieren.
Es gäbe noch vieles über die Anforderungen zu sagen, die dieser Roman an den Übersetzer gestellt hat, einiges davon findet sich im Nachwort und in den Anmerkungen zum Buch. Ich möchte abschließend noch mitteilen, dass es mir bei Levitan – anders als beim in Zeiten der Pandemie übersetzten Menuett – möglich war, den Nachlass in Ruhe einzusehen und mir Klarheit über einige Dinge zu verschaffen, die mich zutiefst beunruhigten. So handelt ein guter Teil des Romans von den Strategien und Methoden Levitans, sich trotz Schreibverbots ein Umfeld zum Schreiben zu erschaffen und die so entstandenen Texte aus dem Gefängnis hinauszuschmuggeln. Der Ich-Erzähler beschreibt zum Beispiel, wie er sich in der Gefängnis-Buchbinderei dünne Miniaturbüchlein herstellen lässt, die er dann in Minischrift beschreibt (mit einem selbstfabrizierten Pinsel aus einem aus der Fußleiste gebrochenen Stück Holz, in das er eine Wimper geklemmt hat, und mit selbstfabrizierten Tinten, zu deren Herstellung er den vom Pisseimer gekratzten Rost mit Blut und Asche und anderen Materialien vermischt). Aus dem Text geht nicht hervor, wie viele dieser Büchlein so den Weg aus dem Gefängnis gefunden haben, es müssen aber viele gewesen sein, denn an einer Stelle teilt Zupan mit, dass sie zusammen „mehr Verse enthielten als der ganze Homer“. Allein die ersten beiden Bände hätten zusammen schon fast vierzehntausend Verse umfasst, leicht abzählbar, weil jeder fünfte Vers fein säuberlich am Rand nummeriert gewesen sei. Und im letzten Jahr schließlich, als Zupan die Freiheit hatte, zu studieren und zu schreiben, sei ein großer Teil der Handschrift seiner „philosophischen Essays“ entstanden. Ich war verblüfft, als ich einmal Ifigenija Simonović von insgesamt 60.000 Versen und 3.000 Seiten Manuskript allein dieser „Essays“ reden hörte.
Als Herausgeberin von Zupans in der Haft entstandener Lyrik musste sie ja wissen, wovon sie sprach, ich wollte das trotzdem mit eigenen Augen sehen. Und es war fast nicht zu glauben, dass ich dann diese Gedichtbüchlein in Händen hielt, genau in der Gestalt, in der Zupan sie beschrieben hat, verfasst mit verschiedenen „Tinten“, versehen mit lateinischen Impressa und Widmungen, und in der Schachtel befand sich auch die Gefängniskappe Zupans. Völlig verrückt aber war es, die Schachtel mit den dreißig „Libelli albi“, den Notizheften für Zupans Universalwerk, zu sehen, jeweils 40 bis 80 Blatt A5 und größer, winzig beschriftet, Exzerpte, Notizen und ausgearbeitete Texte, geordnet nach Fachgebieten (Logik, Principia naturalia, Genese des Denkens usw.), manche von vorn und von hinten begonnen und jeweils nur auf der Recto-Seite beschrieben, sodass zwei Texte aufrecht und kopfstehend ineinandergreifen, manches wüst hingekritzelt, manches in Reinschrift und praktisch ohne jede Korrektur, Literaturlisten, Konzepte und Inhaltsverzeichnisse, ein Band enthält auch Schreibübungen in arabischer Sprache mit Begriffserklärungen und Anmerkungen zur Grammatik in deutscher Sprache. Es gibt in dieser Schachtel, überspitzt gesagt, nichts, das es nicht gibt.
Geschmuggelte Bändchen (Nachlass Vitomil Zupans), mit freundlicher Genehmigung von Ifigenija Simonović
Es fällt mir schwer, den Eindruck zu beschreiben, den diese Materialien aus dem Nachlass auf mich machten. Um es etwas pathetisch zu sagen: Es war, als träte mir aus diesen Schachteln Levitan selbst entgegen. Ich weiß allerdings, dass man auch bei derart überwältigender Evidenz nicht den Fehler begehen darf, den Autor mit dem Erzähler gleichzusetzen. Zupan betont dies in der erwähnten Präambel zum Originaltyposkript, wo er den Ich-Erzähler kurzerhand als Erfindung bezeichnet; und er kommt im Roman selbst mehrfach auf die Problematik der Erinnerung zu sprechen, die oft gerade dort am meisten verfälscht, wo sie sich besonders authentisch gibt. Es ist deshalb auch nicht nötig, alles zu glauben, was hier erzählt wird; es für wahr zu halten reicht.