„Ажно цяжко расказваць – man kann’s kaum erzählen …“
Journal zur Übersetzung von Feuerdörfer von Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik
Übersetzen ist Anverwandeln, ist Sich-Hineinversetzen in die Figuren, um authentisch aus ihnen heraus in der neuen Sprache sprechen zu können. Das gilt auch, wenn die Figuren keine literarischen Autorfiktionen sind, sondern reale Personen. In Feuerdörfer sprechen fast ausschließlich Menschen, die zu Beginn der 1940er Jahre aus Hunderten niedergebrannter belarussischer Dörfer lebend entkommen sind – Kinder, Frauen, Männer. Menschen, die zutiefst Unmenschliches erlebt und überlebt haben und dreißig Jahre später versuchen, Worte für das Unsagbare zu finden. Hunderte Einzelstimmen, hörbar vom Lande, mit dialektalen Färbungen und Eigenheiten, stammelnd, abbrechend, neu ansetzend, fassungslos, in Tränen ausbrechend, zwischen 1970 und 1973 von Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik in allen Winkeln der BSSR ausfindig gemacht, auf Tonband aufgezeichnet und anschließend von namenlosen Zuarbeiterinnen transkribiert.
Ales Adamowitsch, Janka Bryl, Uladsimir Kalesnik: Feuerdörfer. Wehrmachtsverbrechen in Belarus – Zeitzeugen berichten. Übersetzer: Thomas Weiler. Aufbau Verlag, 2024.
Wie diese Wucht ertragen, zumal als Übersetzer ins Deutsche? Wie diesen Menschen und diesem monströsen Text gerecht werden?
Von der ersten Begegnung zur Übersetzung
Ende August 1998, prächtiges Hochsommerwetter, Evangelische Jugendbildungsstätte Nordwalde, Vorbereitungsseminar des Förderkreises Sozialer Friedensdienst zur Völkerverständigung mit Osteuropa e.V., 15 Jugendliche kurz vor Antritt ihres Freiwilligendienstes in Russland, Belarus oder Rumänien. Im Abendprogramm zeigt Alf Seippel Komm und sieh, einen Anti-Kriegsfilm1 von Regisseur Elem Klimow. (Damals freilich noch auf VHS-Kassette und noch nicht in der restaurierten Fassung.)
Komm und sieh, Trailer (HD) Deutsch
Die Erschütterung angesichts der Bilder und die minutenlange absolute Sprachlosigkeit im Anschluss sind mir in Erinnerung. 1999 dann von Minsk aus der obligatorische Besuch der 1969 eröffneten nationalen Gedenkstätte Chatyn, des Feuerdorfs schlechthin. Ales Adamowitsch und seine Texte begegnen mir erst später im Studium.
Nach einer ersten gelungenen Zusammenarbeit mit Lektorin Marlies Juhnke vom Aufbau Verlag fragt sie nach Empfehlungen aus dem Bereich der belarussischen Literatur. Ich bringe das Feuerdörferbuch ins Gespräch, schreibe im November 2021 ein Gutachten, am 22. Februar 2022 liegt der Übersetzungsvertrag vor. In der Nacht vom 23. auf den 24. Februar wendet sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Fernsehansprache an die Menschen in Russland: „Der Krieg ist ein furchtbares Übel. Und dieses Übel hat einen hohen Preis, in jeder Hinsicht. Menschen verlieren Geld, ihren Ruf, ihr tägliches Auskommen, ihre Freiheit. Aber das Wichtigste ist: Sie verlieren ihre Nächsten. Sie verlieren sich selbst. Im Krieg fehlt es immer an allem. Im Überfluss gibt es nur dies: Schmerz, Schmutz, Blut und Tod, tausendfachen, zehntausendfachen Tod.“2 Wenige Stunden später startet Russland seine groß angelegte Invasion der gesamten Ukraine.
Übersetzungen des Feuerdörferbuches in mehrere Sprachen des Ostblocks erschienen schon in den 1970er bzw. den frühen 80er Jahren, außerdem eine Übersetzung ins Englische (Angelia Graf, Nina Belenkaya. Moskau: Progress 1980).
Warum wurde nie eine deutsche Fassung erstellt? Ottokar Ullrich, Slawist an der Martin-Luther-Universität Halle, schrieb 1979: „Es wäre wünschenswert, wenn für die Bürger der DDR die Möglichkeit erschlossen würde, dieses Buch in deutscher Übersetzung zu lesen.“3 Sergej Schapran erwähnt in seinem Vorwort zur russischen Neuausgabe von 2022, ein Bekannter habe Mitautor Janka Bryl zugetragen, der Lektoratsleiter für Sowjetliteratur im Verlag Volk und Welt (Leonhard Kossuth), hätte gesagt: „Eine einzelne Granate ist schon schlimm. Und ihr wollt uns eine geballte Ladung unterjubeln!“4 Die im Verlagsarchiv erhaltenen Gutachten argumentieren anders. Der Slawist und Außenlektor Herbert Krempien verfasste bereits am 18. November 1974 auf der Grundlage mehrerer in russischer Übersetzung in der Zeitschrift Oktjabr (9/1974, S. 3‒76) vorab veröffentlichter Kapitel ein Gutachten für Volk und Welt. (Danke, Nina Weller, für die Einsicht im Verlagsarchiv und den Austausch insgesamt!) Er zeigte sich von der Lektüre weniger erschüttert denn gelangweilt, ermüdet von der bloßen Häufung einander ähnelnder Augenzeugenberichte.
So blieb dieser Schlüsseltext, der so viel in Bewegung gesetzt hat5, ausgerechnet einer deutschen Leserschaft verschlossen. (Was den Moskauer Verlag AST nicht davon abgehalten hat, aufs Cover der Neuausgabe 2022 „Literarischer Bestseller in Westeuropa“ zu drucken.) Im November 2024, fast 50 Jahre nach dem belarussischen Original von 1975, liegt nun endlich eine deutsche Übersetzung vor.
Zur Genese des belarussischen Feuerdörferbuches
Wie kam es zum Feuerdörferbuch? Initiator des Ganzen war offenbar Ales Adamowitsch.
1966 fuhr er zur Eröffnung eines Denkmals für getötete Partisanen ins Dorf Koŭtschyzy, Rayon Swetlahorsk, Gebiet Homel.6 Mit einer Amateurkamera filmte er die Partisanenkameraden von einst. „Und in einer dieser Gruppen filmte ich eine Frau, die gerade erzählte, was danach geschah, nachdem die Deutschen uns mit Panzern aus dem Dorf verdrängt hatten. Sie wurde mit ihren Kindern zu einem Graben gebracht, wo die Faschisten schon die Bewohner erschossen, all ihre Nachbarn, die sie im Dorf oder im Wald erwischt hatten: 102 Personen. […] Als der Film entwickelt war und ich die Bilder sah, das Gesicht, die Augen dieser Frau, da wusste ich auf einmal, wovon die Novelle handeln sollte, die ich vor längerer Zeit begonnen hatte, mit der ich aber nicht weitergekommen war. Jemand musste von den ‚belarussischen Lidices‘ erzählen. […] Ich legte dem belarussischen Filmstudio ein Drehbuch für den Dokumentarfilm Zweihundert Lidices7 vor. […] Ich reiste mit dem Filmteam, meine Novelle im Kopf, schaute, hörte zu, versuchte zu begreifen, was ich als 16-jähriger schon gesehen hatte, ohne mir damals weiter Gedanken darüber zu machen. Und in meinen Notizblöcken hielt ich die Erzählungen der Menschen fest, die (von innen heraus!) vom gleißenden Licht ihrer unerträglichen Erinnerung geblendet wurden.“8
Der Film Chotyn ‒ 5 km wurde am 18. April 1970 bei den XVI. Westdeutschen Kurzfilmtagen Oberhausen im Block „Filme aus der UdSSR“ ab 11.00 Uhr in der Stadthalle im Großen Saal mit deutschen Untertiteln gezeigt. Allerdings in einer auf 25 Minuten beschnittenen Fassung. ©Archiv der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen
Die Novelle erschien in den Ausgaben 8 und 9/1972 der Zeitschrift Maladosz unter dem Titel Chatynskaja apowesz. Mitten in den Erzähltext montiert sind O-Töne Überlebender aus den Feuerdörfern, „als hätten sie eine ‚Schneise‘ in die Novelle gebrannt und wären dort geblieben.“9 Als 1970 die Arbeit an der Novelle schon weitgehend abgeschlossen ist, stellt Adamowitsch fest, dass er noch einen Schritt weiter gehen muss. Er ist auf der Suche nach einer Form, die in der Lage sein soll, das verzehrende Feuergedächtnis „im Zustand des Plasmas“ zu erhalten, ohne selbst davon pulverisiert zu werden. Unterstützt von seinen Schriftstellerkollegen Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik, auch sie ehemalige Partisanen, begibt er sich mit dem Tonbandgerät auf die Suche nach Überlebenden. (Zeitgleich befragen Sjanon Pasnjak und Jaŭhen Schmyhaljoŭ Zeugen des vom NKWD in den Jahren 1937‒1941 bei Minsk verübten Massenmords von Kurapaty.)10
1975 erscheint Я з вогненнай вёскі… (wörtlich: Ich bin aus einem Feuerdorf …) nach einigen Querelen mit der Zensurbehörde in Minsk im Staatsverlag Mastazkaja litaratura in einer Auflage von 10.000 Exemplaren zum Preis von 3 Rubeln und 15 Kopeken.
Weberknecht und Lebenslast
In Jáchym Topols Roman Die Teufelswerkstatt verschluckt der Protagonist auf seinem Weg nach Chatyn einen Memory-Stick mit zahllosen kostbaren Kontakten von Überlebenden der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Er nennt ihn den „Weberknecht“ (Pavouček): „Ich träume vom Weberknecht. Er ist in mir. Löst sich auf. Vergiftet mich. All die Daten und Kontakte überfluten meine Eingeweide.“11 Ein ähnliches Gefühl stellt sich bei der Lektüre des Feuerdörferbuches ein.
Lasar Lasarew schrieb in seiner Rezension über die Vorabauszüge aus den Feuerdörfern: „Dieses Buch zu lesen fällt schwer. Unerträglich schwer.“12 Sakrat Janowitsch schrieb an seinen Autorenkollegen Janka Bryl: „So etwas habe ich noch nie gelesen, nicht nur auf Belarussisch! Ein überwältigender Eindruck!! Ich habe gelesen und geweint!“13 Die in den USA lebende Lyrikerin Valzhyna Mort befand später: „The reading of these books [particularly Khatyn and Out of the Fire] should be accompanied by some kind of breathing exercises, gardening, music practice, or prayer. They offer no catharsis. They testify to the failure of humanity as a project in humaneness.“14
Die Autoren des Feuerdörferbuches waren häufig krank, während sie am Buch arbeiteten, wie aus ihrer Korrespondenz hervorgeht (vgl. im Anhang der deutschen Ausgabe den Beitrag von Ljudmila Rubleŭskaja).15
Auch ich musste mich während der Übersetzung über lange Zeit der Last der Inhalte aussetzen. Zeitweise habe ich mich an den Schreibtisch gequält. Wer über Monate mit derart brutalen Verbrechen umgehen muss, geht nicht unbeschadet daraus hervor. Der Weberknecht verrichtet sein Werk. Im Vorübergehen las ich während einer Zugfahrt auf einem DB-Plakat zu Sauberkeit im Zug „Kinderleiche“ statt „kinderleicht“.
Ich habe beim Übersetzen versucht, eine Distanz zum Geäußerten herzustellen, anders wären die knapp 700 Seiten Text nicht zu bewältigen gewesen. Jedenfalls nicht für mich. Geholfen hat immer wieder die Fokussierung auf das Sprachliche, Handwerkliche. Ales Adamowitsch schrieb 1985 im Vorwort zu Swetlana Alexijewitschs Erstling Der Krieg hat kein weibliches Gesicht: „Was Swetlana sich aufgeladen hat, das reicht für ein ganzes Leben. Aber wir wollen sie nicht bedauern. Fremde Lasten zu tragen, Lebenslasten, ist die Pflicht und Schuldigkeit des Schriftstellers. Das macht seine Profession aus. Wenn man sie denn ernst nimmt.“16 Übersetzer sind in diesem Sinne Mit-Leidtragende.
Vom O- zum Ü-Ton
Die Autoren wollten dokumentieren, die Wahrheit festhalten. Daher die Porträtfotos der Befragten im Buch, die glücklicherweise teilweise auch in die deutsche Ausgabe eingegangen sind, die beigelegten Schallplatten mit O-Tönen von Maryja Kot, Michail Kasjol, Nina Knjasewa, Pjotr Arzjomaŭ und Alena Bulawa, die aufwendig gesammelten, transkribierten und komponierten Stimmen der Zeugen. Ein Text, der derartig von O-Tönen einer solchen Vielzahl von Personen geprägt ist, verlangt nach einer Richtungsentscheidung für die Übersetzung. Mein Hauptanliegen war es, die Texte als verschriftlichte Rede kenntlich zu machen, ihre Mündlichkeit herauszuarbeiten. Auch wollte ich den Denk- und Erinnerungsbewegungen folgen, die hier eben meist nicht flüssig und geschmeidig sind, sondern sprunghaft, subjektiv und teilweise kaum nachvollziehbar. In solchen Passagen nicht klärend einzugreifen, war mitunter eine echte Herausforderung.
Ich bin meiner Lektorin Marlies Juhnke sehr dankbar dafür, dass sie diese Linie tapfer mitgetragen und etliche Wiederholungen, Redundanzen, Zeitsprünge und Ellipsen klaglos durchgewunken hat. Dabei war mein Anspruch jedoch nicht, noch den letzten dialektalen Ausdruck in der Übersetzung abzubilden. Nicht die Sprache sollte im Vordergrund stehen. Aber auch bei der Lektüre der deutschen Fassung sollte erlebbar werden, dass hier zumeist Menschen vom Lande sprechen, mal in geringerem, häufig in größerem Abstand zur Standardsprache. Menschen, die sich in der Sowjetunion der frühen 1970er Jahre über traumatische Erfahrungen äußern, die sie oft als Kinder oder Jugendliche gemacht hatten.
Hier finden sich die digitalisierten Audiodateien auf der Seite der Belarussischen Nationalbibliothek
Bereits im oben erwähnten Dokumentarfilm Chatyn, 5 km (Belarusfilm 1968), für den Ales Adamowitsch mit am Drehbuch schrieb, sind mehrere Protagonisten zu hören und auch zu sehen, die sich später im Buch über die Feuerdörfer wiederfinden sollten.
Ebenso in drei Kurzfilmen von Viktor Daschuk, die in Zusammenarbeit mit den Autoren parallel zur Arbeit am Buch entstanden.17 All diese Töne und Bilder waren hilfreich in Vorbereitung auf die Übersetzung.
Gesprochene Sprache verändert sich auf dem Weg durchs Mikrofon aufs Papier, Nähesprache lässt sich immer nur mit Abstrichen verschriftlichen, literarische Mündlichkeit ist nicht authentische Mündlichkeit sondern deren Simulation. Die Prosodie des Gesagten verflüchtigt sich ebenso wie das Nonverbale, der grafische Code stößt hier an Grenzen. Die Autoren des Feuerdörferbuches beschreiben mitunter den Tonfall ihrer Gesprächspartner oder geben in Klammern Hinweise wie „weint“, „legt sich auf den Boden“ oder „fängt unvermittelt an zu flüstern“. 2018 hatte ich bei der Jahrestagung des VdÜ in Wolfenbüttel einen Workshop zur Übersetzung literarischer Mündlichkeit alias fingierter Oralität angeboten, war also mit dem Thema vertraut.
Auch innerhalb des Autorentrios war das Spannungsverhältnis von Authentizität und Lesbarkeit Gegenstand von Diskussionen. In einem Brief an Janka Bryl schreibt Ales Adamowitsch am 25.08.1973: „Seine [d.h. Kalesniks] Aufzeichnungen sind näher am Wortlaut, wie wir es anfangs ja halten wollten – die geballte Ladung Ukrainisch. Aber so etwas in dieser Ausprägung kann man dem Leser in der Form nicht zumuten. Hier müssen wir die Sprache etwas stärker belarussisch und weniger ukrainisch machen.“18
Im Zuge meiner Arbeit sollte mir auffallen, dass sie auch einige andere Passagen „stärker belarussisch“ gemacht haben als sie im O-Ton waren. Da wird bei Maryja Kot aus einem auf der Schallplatte deutlich hörbaren russischen „patóm“ ein belarussisches „pótym“ und aus „patalók“ ein „stol“ oder bei Michail Kasjol aus einem „útrom“ ein „ránizami“ ‒ offensichtlich keine Transkriptionsfehler (wie an anderer Stelle), sondern bewusste chirurgische Eingriffe der Autoren. Der Lektor Wassil Sjomucha (1936‒2019), zugleich der wohl wichtigste Übersetzer deutschsprachiger Literatur ins Belarussische (Faust, Doktor Faustus, Simplicissimus, Maria Stuart, Die Sonette an Orpheus …), dürfte hierbei kaum eine Rolle gespielt haben. Er vertrat den Standpunkt: „Die Menschen sprachen ja in ihren Dialekten, und die Autoren ‚übersetzten‘ die Erzählungen mitunter in die Hochsprache. Aber das war nicht immer angebracht. Die Menschen sollten reden wie sie reden.“19
Einige der O-Töne verwendete Adamowitsch auch in Stätten des Schweigens20 und später in Henkersknechte21, sie lagen also bereits in deutscher Übersetzung vor. Weitere übersetzte Passagen konnte ich in literatur- und geschichtswissenschaftlichen Arbeiten ausfindig machen, etwa bei Ottokar Ullrich22, oder in jüngster Zeit bei Franziska Davies und Katja Makhotina23 (aus dem Russischen) bzw. Aliaksandr Dalhouski, Lukas Hennies und Christoph Rass24 (aus dem Englischen). Auch Jáchym Topols Roman Die Teufelswerkstatt25, der ausgestopften Menschen in einem belarussischen „Jurassic Park des Grauens“ O-Töne aus dem Feuerdörferbuch vom Band in Endlosschleife den Mund legt, sei der Vollständigkeit halber erwähnt.
Schnell stellte sich heraus, dass ich keine der bereits vorliegenden Übersetzungen einfach würde übernehmen können. Ich möchte ausgewählte Passagen nebeneinanderstellen, um zu veranschaulichen, welche Konsequenzen meine übersetzerische Richtungsentscheidung hat. Auch die Problematik der Relaisübersetzung zeigt sich an einigen Stellen. Dabei ist mir klar, dass illustrierende Beispiele in wissenschaftlichen Artikeln eine andere Funktion zu erfüllen haben als ein abgeschlossener Gesamttext, dennoch scheint mir die Synopse lohnend.
Zunächst spricht die 66-jährige Barbara Adamaŭna Slessartschuk, die im Buch als Erste ausführlich zu Wort kommt und nach der das Eingangskapitel benannt ist. Die Erzähler führen sie und ihre Art zu sprechen wie folgt ein: „Sie erzählt mit einem merkwürdigen, fast beängstigenden Lächeln, als gebe sie ein Schauermärchen zum Besten, unendlich weit weg, ewig lang her. Mitunter klingt sie auch wie eine Märchenerzählerin, in ihrem Singsang, mit Wiederholungen, die unverzichtbar sind und in ihrem Dialekt, in drei bis vier Sprachen zugleich: Belarussisch-Ukrainisch-Russisch-Polnisch.“
A Davies/Makhotina 2022:197:
Wie wurden wir getötet? Getötet … Es ist schwer zu sagen … Der Mann wurde zuerst getötet. Sie zündeten ein Feuer in der Scheune an … Ich war so krank. Vier Kinder, ich war mit dem fünften schwanger … Abends um fünf Uhr haben sie unsere Häuser angezündet. Einer meiner Jungs hütete das Vieh, und drei von ihnen waren bei mir. Meine Hütte war damals weiter hinten, wo jetzt der Hof ist. Die Deutschen kamen und haben uns vertrieben. Wir versammelten uns in der Hütte, fünfzehn Weiber. Die Weiber saßen wie Schafe in der Hütte. Wir dachten: Vielleicht töten die Deutschen nur die Männer, aber die Frauen werden nicht getötet.
A Weiler 2024:
Wie sie uns getötet haben? Getötet … Man kann‘s kaum erzählen …
Vorneweg haben sie den Mann umgebracht. Verbrannt in der Scheuer. Ich hab‘s kaum verwunden. Vier Kinder, schwanger mit dem fünften. Feuer gelegt haben sie so um fünf, zum Abend hin. Ein Deutscher kam, scheuchte uns raus. Einer meiner Jungen war Vieh hüten, drei Kinder waren bei mir. Mein Haus war damals weiter draußen, wo jetzt der Kolchoshof ist. Ein Deutscher kam, scheuchte uns raus. Wir alle in ein Haus, fünfzehn Frauen. Die Deutschen kommen, durchsuchen alles. Die Frauen hocken da, wie die Schafe, im Haus. Denken sich: Vielleicht töten sie nur die Männer, und die Frauen töten sie nicht.
Davies/Makhotina beseitigen Unklarheiten und sind um vollständige, korrekte Sätze bemüht. Ausdrücke wie „Hütte“ (auch in der russischen Übersetzung steht хата26) oder „Weiber“ (бабы) sollen wohl das dörfliche Kolorit wiedergeben. Syntaktische Verschiebungen zur Markierung von Mündlichkeit oder Dorfsprache werden nicht vorgenommen.
B Dalhouski/Hennies/Rass 2024:135: Wir konnten nichts hören. Nichts außer den Schüssen und die Häuser brannten schon an diesem Ende des Dorfes. Ja. Sie hielten uns an und sagten: ‚Geht in dieses Haus.‘ Wir gingen hinein und sahen, dass es schon voller Menschen war. Im gleichen Moment kam eine Handgranate geflogen. Bang. Sie explodierte. Welch ein Schreien brach nun aus! Sie werfen eine weitere Granate! Und eine dritte!
B Weiler 2024: Gar nichts war zu hören. Nichts hört man, nur die Schüsse und dass es am anderen Ende brennt. Ja. Tja, sie nahmen uns mit und sagten: ‚Geht in dieses Haus.‘
Wir gehen in das Haus, da ist es schon vollgestopft. Mit Menschen. Und gleich kriegen wir eine Granate rein – rums! Die Granate geht los. Geschrei! Wie sie noch schreien, die nächste! Die dritte!
Bei Dalhouski/Hennies/Rass wird ebenfalls sehr korrektes Deutsch gesprochen. Insgesamt ist das Tempo ein vollkommen anderes. Kaum vorstellbar, dass tatsächlich Sätze fallen wie „Welch ein Schreien brach nun aus!“. Das ist aber auch dem Rückgriff auf das Englische als Relaissprache geschuldet. Wo im Original der Vier-Buchstaben-Einwortsatz „Крык!“ (Geschrei) steht, heißt es in der englischen Fassung: „What shouting broke out!“ Auch das Geräuschwort „bang“ ist direkt aus der englischen Übersetzung übernommen und klingt aus dem Mund des alten Palikarp Schakunoŭ in der Sowjetunion der 1970er Jahre etwas befremdlich.
C Reschke 1982:37: Und dann kam ein Polizist auf einem Pferd, der hat ihnen den Rest gegeben. Wenn er sah, daß einer noch lebte, schlug er ihn tot. Er kam zu mir geritten, da hab ich die Augen aufgemacht und ihn still angeguckt. Die Kinder rührten sich nicht, sie waren eingeschlafen!
C Weiler 2024: Da kam der angeritten, der die Letzten umbrachte. Wenn er sieht, einer lebt noch, gibt er ihm den Rest. Ich hatte die Augen leicht geöffnet und hab ihn ruhig angesehen … Und meine Kinder rühren sich nicht, sie schlafen. Waren eingeschlafen.
Die Übersetzungen von Thomas Reschke sind recht nah an dem Duktus, den auch ich erreichen wollte. Allerdings hatte er das Handicap, nur mit kurzen Zitatauszügen ohne jeden Kontext arbeiten zu müssen. Er hatte nicht das umfangreiche Korpus zur Verfügung und keinen direkten Zugriff auf das belarussische Original.
Die von Sjarhej Selichanaŭ geschaffene überdimensionale Bronzefigur zeigt Iossif Kaminski aus Chatyn mit seinem toten Sohn im Arm. „Der alte Mann hält den Jungen, als halte er ihn über dem gesamten Erdenrund. Diesen steinharten, diesen verletzlichen Knabenkörper. Die Augen des Alten zeugen in ihrem unergründlichen Schwarz davon, was hier geschehen ist, in Chatyn. Und sie fragen die ganze Welt: Was war das hier bloß, ihr Menschen, ist es denn wirklich geschehen, das, was sie uns angetan haben?“
Mit diesen Worten eröffnet das große Schlusskapitel des Feuerdörferbuches.
Foto: Alf Seippel, Ende 1980er Jahre
Die Erzählung Iossif Kaminskis aus Chatyn liegt nun in drei Übersetzungen vor, die sich deutlich voneinander unterscheiden:
D Kübart Stätten des Schweigens 1974:165:
Da wurde die Tür aufgemacht. Sie wurde aufgemacht, aber die Leute gingen nicht, rannten nicht hinaus. Warum nicht? Ja, sie schießen dort an der Tür, hieß es. Sie schießen. Das Geschrei war so groß, daß dieses Schießen, dieses Rattern gar nicht zu hören war. Das ist ja bekannt, die Leute brannten, Feuer fiel herunter, dazu die Kinder – ein Geschrei war das! Ich sagte zu meinem Jungen: „Sieh zu, daß du irgendwie über die Köpfe weg rauskommst!“ Ich half ihm hoch. Ich selbst versuchte es unten zwischen den Beinen durch. Da fielen Tote auf mich, Tote, ich konnte kaum atmen. Ich schüttelte sie ab – damals war ich noch kräftiger – und kroch los. Kaum war ich an der Schwelle, da stürzte das Dach ein, es krachte herunter, und das Feuer deckte alle zu!
D Davies/Makhotina 2022:196:
Dann öffneten die Häscher die Scheunentür und begannen, die Bürger mit Maschinengewehren, Maschinenpistolen und anderen Waffen zu erschießen. Das Schießen war jedoch fast nicht zu hören, weil das Wehklagen der Menschen zu heftig war. Das brennende Dach stürzte herab, und das schreckliche fürchterliche Geschrei verstärkte sich noch. Ich sagte meinem Sohn: ‚Über die Köpfe, über die Köpfe!‘: Ich hob ihn aus der Scheune heraus. Mir gelang es, unter den Leichen und verbrannten Menschen hindurch bis zum Tor zu kriechen. Im gleichen Augenblick fiel das brennende Dach, das Feuer griff auf alle über.
D Weiler 2024:
Da ging auf einmal die Tür auf. Sie ging auf, aber die Leute gehen nicht raus. Was ist los? Da schießen sie, sie schießen da, heißt es. Aber es herrscht ein Geschrei, dass man das Schießen, das Rattern gar nicht hört. Freilich, Menschen verbrennen, Feuer von oben, dann noch die Kinder – ein Geschrei, dass … Ich sag zu meinem Sohn: ‚Über die Köpfe weg, über die Köpfe weg musst du!‘
Ich setzte ihn oben ab. Und bin selber unten lang, durch die Beine. Und die Toten fielen auf mich. Auf mich drauf fielen die Toten, und ich krieg keine Luft. Aber ich ruderte mit den Armen – damals war ich noch kräftiger –, ich kroch weiter. Kaum war ich an der Tür, da kam das Dach herunter, das Feuer auf alle herab …
Ottokar Ullrich, Slawist an der Martin-Luther-Universtität Halle, macht in den für seinen Aufsatz zur „modernen belorussischen Literatur“ übersetzten Auszügen die Tempuswechsel des Originals mit, expliziert aber an einigen Stellen, was im O-Ton im Unklaren bleibt und unterschlägt einen schwer verständlichen Halbsatz:
E Ullrich 1981:105:
Und dann erschossen sie die dritte Gruppe.
Und dann gehen sie an die Liegenden heran, heben jene leicht an, die vielleicht noch nicht tot sind … Und sie laufen mit ihren Pistolen umher und bringen ihre Opfer endgültig um. Einer trat auch an mich heran, er hörte, daß das Kind schreit, von mir aber dachte er nicht, daß ich noch lebe … Er drückte auf das Kind ab und durchschoß mir die Finger. Wie ich das Kind am Köpfchen hielt, so durchschoß er mir die Finger. Das Kind verstummte, ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht spritzt …
E Weiler 2024:
Und dann erschossen sie die dritte Gruppe.
Ja, dann kommt er, hebt die an, die vielleicht noch nicht tot sind …
Mit Pistolen kommen sie und bringen sie vollends um. Wie er bei mir ist, hört er, dass das Kind schreit, aber von mir dachte er nicht, dass ich noch lebe – die Haare hatte es mir weg und das Kopftuch, und dann das Blut … Er knallte das Kind ab und schoss mir durch die Finger. Wie ich ihm so das Köpfchen hielt, so schoss er mir durch die Finger. Und das Kind verstummte, ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht spritzte …
Unerträglich diese Szene. Da fällt es schwer, vom Inhalt zu abstrahieren und über die sprachliche Umsetzung nachzudenken. Springen wir zu einem anderen Kapitel.
Erzählerstimmen
Deutlich abgesetzt von den O-Tönen ist die Erzählerstimme. Mal werden lyrische Landschaftsbilder gemalt, mal behutsame Porträts der Gesprächspartner gezeichnet, dann wieder finden sich fast launige Anekdoten über Autofahrten bei widrigsten Bedingungen, anderswo kurze Ausflüge in die Literatur oder, besonders im Schlussteil, Abrechnungen mit dem Faschismus. Wie haben die drei Autoren sich aufgeteilt?
Uladsimir Kalesnik war für die Fotos verantwortlich, geschrieben und redigiert haben alle drei:
„Im analytischen Teil über den Faschismus ist Adamowitschs Handschrift deutlich sichtbar, in jeder Zeile“, so Lektor Sjomucha. „Adamowitsch ist eher Publizist. Aber in den kürzeren Kommentaren ist kaum noch auszumachen, was von Kalesnik stammt, was von Bryl und was von Adamowitsch. In den Einleitungen zu den Erzählungen wiederum ist Bryl leicht zu erkennen, so konnte, kann und wird er immer schreiben können! Aber sie haben nicht preisgegeben, wer was konkret geschrieben hat. Mehr noch: Einer schrieb, ein anderer las es und korrigierte und umgekehrt.“27
Das Verhältnis von O-Ton zu Autorenkommentar wird in zahlreichen Arbeiten zum Buch (wie auch zu den Büchern von Swetlana Alexijewitsch) problematisiert. Sakrat Janowitsch zeigte sich in einem Brief an Janka Bryl tief bewegt von den wahrhaftigen Schilderungen der Frauen, merkte aber an: „Sie werden verzeihen, aber die kommentierenden Absätze erscheinen bald unvollständig, bald oberflächlich, leicht verdaulich … Gut geschrieben, mehr aber nicht.“28 Lasar Lasarew, Moskauer Literaturkritiker und der Vater von Irina Scherbakowa, befand 1975 in einer Rezension in Nowy mir: „Es ist, als fürchteten sie [die Autoren] nicht nur jedes überflüssige oder zu laute Wort, sondern überhaupt jedes Wort, ist es doch schwierig, Worte zu finden, die die Nähe zur sengenden Wahrheit der Erzählungen über die Feuerdörfer verkraften können.“29 Lasarew kannte damals, wie Janowitsch, nur vorab veröffentlichte Auszüge. Besonders im Schlusskapitel hat Adamowitsch sich dann doch noch viel Platz für seine Kommentare eingeräumt. Mitunter klingt der Wir-Erzähler etwas pathetisch und aus der Zeit gefallen. Aber die Texte sind ja auch vor mittlerweile 50 Jahren entstanden, die Patina sei ihnen gegönnt.
Interpunktorische und lexikalische Eigenheiten
1) …
In den Feuerdörfern werden Auslassungspunkte inflationär gebraucht, in den O-Tönen, aber auch im Erzähltext. Manche Punkte deuten vielleicht ein Zögern an, andere möglicherweise ein vielsagendes Schweigen oder tatsächlich eine Auslassung im Zitat. Von anderen Autoren kenne ich das Setzen des Dreipunkts auch schlicht als Masche, als interpunktorische Inkontinenz … Zunächst hatte ich den Impuls, alle mir unmotiviert erscheinenden Auslassungspunkte zu tilgen. Dann las ich das Nachwort zur russischen Neuausgabe. Darin beschreibt Janka Bryl, wie Wolha Minitsch ihnen unter Tränen von einem Partisanenkommandeur erzählte, der sie als vermeintliche Spionin mit dem Seitengewehr erstechen wollte. Das wäre nie und nimmer durch die Zensur gegangen. „In unserem Buch sind davon nur zwei Sätze übriggeblieben: ‚Alles hab ich erzählt, wie es gewesen war. Und der Kommandeur glaubt mir nicht …‘ Die Auslassungspunkte in der Hoffnung, der Leser möge es selbst erahnen.“30
2) den Rest geben
Eine unsägliche Vokabel zieht sich durch das gesamte Buch und kommt in vielen der Erzählungen vor: дабіць. Das Verb біць bedeutet schlagen, schießen oder töten, die Vorsilbe да- zeigt an, dass eine Tätigkeit vollständig ausgeführt wird, bis die letzte Grenze erreicht ist. In erklärenden Wörterbüchern werden unter diesem Lemma meistens Beispielsätze mit angeschossenen oder verwundeten Tieren angeführt. In den Feuerdörfern wurden dagegen Menschen „zu Ende getötet“, die nach dem ersten Hinrichtungsversuch noch Lebenszeichen von sich gaben. In Der Nürnberger Prozeß von Heydecker/Leeb stieß ich auf folgenden Dialog zwischen dem amerikanischen Ankläger John Harlan Amen und Otto Ohlendorf, Amtschef III im Reichssicherheitshauptamt:
Amen: „Wie wurde festgestellt, ob die einzelnen wirklich tot waren, oder nicht?“
Ohlendorf: „Die Einheitsführer hatten Befehl, darauf zu achten und gegebenenfalls selbst den Fangschuß zu geben.“31
Fangschuss – auch Ohlendorf bleibt lexikalisch im Tierreich, er kommt nicht auf den Gnadenschuss. Aber im Buch sprechen die Menschen von ihren nächsten Angehörigen oder den Dorfnachbarn, da verbietet sich die Rede von Fang- oder Gnadenschüssen.
In dem oben bereits erwähnten Aufsatz von Aliaksandr Dalhouski, Lukas Hennies und Christoph Rass fand ich ein Zitat aus den Feuerdörfern wie folgt übersetzt: „Als sie alle erschossen hatten, begannen sie, die Körper zu untersuchen. Sie erledigten dann viele, die noch lebten, ganz besonders die Kinder.“32 Im Original steht an dieser Stelle allerdings gar kein Verb, der Erzähler bricht vorher ab … In der englischen Übersetzung, die hier zugrunde gelegt wurde, heißt es: „When they had shot everyone down they began to inspect the bodies. They finished off many people then, especially kids.“33
„Erledigen“ ist ähnlich gelagert wie „den Rest geben“, was Thomas Reschke in Henkersknechte verwendet. Es funktioniert für mein Empfinden nur in Einzelfällen. Häufig habe ich mit „vollends töten“ gearbeitet, in einer Szene im Kapitel „Über zehn“ auch eine Neubildung versucht:
„Der Vater hat zu mir gesagt: ›Junge, lebst du?‹
›Ja‹, sag ich.
›Und bist nicht verletzt?‹
›Nein, ich merk nichts.‹ […]
Sagt er: ›Nicht bewegen, die kommen zum Nachtöten.‹“
3) err-err
Noch so eine tückische Vokabel: гергетáць. Sie bedeutet im Belarussischen entweder „schnattern“, wenn von Gänsen die Rede ist, oder „in einer unverständlichen Sprache sprechen“ und ist der Umgangssprache vorbehalten. Im Russischen scheint der Ausdruck nicht verbreitet zu sein. In den Feuerdörfern findet man die Formen гергечуць, гергочуць, гергенулі, гергануў und гергель, sowie immer wieder, quasi als „Soundword“: гер-гер. Anfangs habe ich mit „ratschen“ herumprobiert, schließlich bin ich bei „schnarren“ gelandet, das ich in Harry Burcks Übersetzung der Kiesgrube (Карьер) von Wassil Bykaŭ gefunden hatte. Das „гер-гер“ wurde zu „err-err“, wie ich überhaupt viele Geräuschwörter habe stehen lassen. Zumindest an diesen Stellen können also auch die Leser der Übersetzung den O-Ton hören.
4) Vertrackter Fliegenpilz
Einige Stellen blieben im Dunkeln. Hier sprachen ja nicht wie im Blockadebuch städtische Vertreter der Intelligenzija, daher waren Logik, Kohärenz und hochsprachliche Präzision nicht immer gegeben. Nicht selten waren gerade diese undurchsichtigen Stellen in der englischen Übersetzung ganz verschwunden. Ich habe sie trotzdem zu knacken versucht und bin auch Siarhej Matyrka und Iryna Herasimovich zu großem Dank verpflichtet, die mich bei einer Menge kniffliger Stellen mit Rat, Tat, Geduld und muttersprachlicher Kompetenz unterstützt haben. An einer Vokabel scheiterten aber auch die ansonsten oft hilfreichen Dialektwörterbücher: у мухаморы. Ein alter Mann, Viktar Prakapowitsch, hört im Traum seine im Haus verbrannte Frau Alessja zu ihm sagen: „Wieso beerdigst du mich nicht? Ich bin doch unterm Ofen, у мухаморы.“ Tatsächlich findet er dort ihre sterblichen Überreste. Immer wieder ist im Buch davon die Rede, dass sich die Menschen in ihrer Not unter den Ofen geflüchtet haben. Aber wohin genau? Ein muchamor ist ein Fliegenpilz, soweit so wenig hilfreich. Fliegenpilze unterm Ofen? Oder stand unterm Ofen die traditionelle Fliegenfalle (Fliegenpilz mit Milch)? Bei der Anfrage an die Gruppe der Berliner Russisch-Übersetzer hat mich eine Rückmeldung besonders überzeugt: „so was wie Mulm ---> Mulmicht/Mülmicht (so im 17.Jh. lt DWDS); hätte auch was von mulmig und Müll. Und zweimal ‚m‘ wären auch gewahrt.“ So ist es auch im Deutschen auf ein schillerndes Traumwort hinausgelaufen.
À la recherche ‒ verlorene Zeit
Das Buch enthält auch deutsche O-Töne: Protokolle von Lagebesprechungen im Führerhauptquartier, militärische Richtlinien, Meldungen aus den besetzten Ostgebieten, Regiments-Befehle, Zitate von Hitler, Goebbels, Rosenberg etc., Gerichtsprotokolle aus den Nürnberger Prozessen, akribische „Erfahrungsberichte“ der Mörder mit eisgrauen Sätzen. Zwei Drittel der Quellennachweise entfallen auf das umfangreiche Schlusskapitel. Die originär deutschen Texte müssen natürlich für die deutsche Fassung recherchiert werden. Allerdings haben die Autoren in den seltensten Fällen mit deutschen Quellen gearbeitet. Ganze zwei deutsche Titel finden sich in ihrer Aufstellung: Der Nürnberger Prozeß von Heydecker/Leeb und Erich Hesses Der Sowjetrussische Partisanenkrieg 1941 bis 1944 im Spiegel deutscher Kampfanweisungen und Befehle. Zitate aus Allan Bullocks Hitler. A Study in Tyranny oder der Goebbels-Biografie von Manvell/Fraenkel bringen sie nach den polnischen Übersetzungen von Tadeusz Evert bzw. Adam Kaska, The Plot against the Peace von Sayers/Kahn oder Václav Králs Zločiny proti Evropě nach den russischen von V.V. Isakovič bzw. V.N. Vinogradov, die Memoiren von Walter Schellenberg nach der französischen Übersetzung. Das setzt mitunter interessante Kettenreaktionen in Gang.
1) Schellenberg
Sucht man das Schellenberg-Zitat in der deutschen Ausgabe, (die man sich natürlich erst einmal in der Bibliothek besorgen muss,) wird man nicht fündig. Weitere Recherchen ergeben, dass die französische Übersetzung von Édith Vincent aus dem Jahr 1957 (wie die englische von Louis Hagen 1956) aus dem Manuskript veröffentlicht wurden, die deutsche Buchausgabe erschien erst 1979, herausgegeben von Gita Petersen mit einigen Auslassungen. Was tun? Doch rückübersetzen? Glücklicherweise sind die Manuskripte/Typoskripte im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte erhalten und zugänglich. Darin findet sich das gesuchte Zitat schließlich auf Blatt 73: „Das Schlimme war nur, dass eben nicht ins Konzept fallende Meldungen einfach unter den Tisch fielen. […] Aber die gemeinsame, vor allem auch 1944 aufeinander abgestimmte Berichterstattung nach oben konnte nicht zum entscheidenden Erfolg gelangen, da Hitler alles ablehnte, was ihm in der Agonie nach Realität, Vernunftsgründen und wirklich belegtem Beweismaterial allein schon ausgesehen hat.“ Stundenlange Suche nach zwei Sätzen …
Walter Schellenberg: Memoiren. Erinnerungen Teil-Abschrift 1940-1941, Bl. 73.
München: Institut für Zeitgeschichte, Archiv
2) „Geduld, Geduld …“
Die letzten Seiten des Buches, kurz vor Toresschluss … Ein längeres Zitat des Pangermanisten Генрых Клас (relativ schnell identifiziert als Heinrich Claß) aus dem Jahr 1913, mit vielen Auslassungspunkten. Die Autoren zitieren nach The Plot against the Peace von Sayers/Kahn, aus der russischen Übersetzung versteht sich. Die englische „Original“-Fassung ist im Netz schnell gefunden, sie weist das Claß-Zitat seinem „Pan-German classic If I Were Kaiser“ zu, ohne nähere Angaben zu Ausgabe oder Seitenzahl zu machen. Klingt lösbar. Ist aber im Katalog der Leipziger Unibibliothek nicht aufzufinden. Doch! Aber nur unter dem Pseudonym Daniel Frymann: Wenn ich der Kaiser wär’ (Leipzig: Dieterich 1912, in Fraktur, bestellbar, nur Präsenznutzung). Buch bestellt, in die Bibliotheca Albertina geradelt, Buch am Tresen abgeholt, reingeblättert. Erste Zitatschnipsel gefunden, gefreut, festgestellt, dass Sayers/Kahn mehrere Stellen aus dem Gesamttext zusammengestoppelt haben, daher die Auslassungspunkte, tief durchgeatmet. Nach einigen Stunden ist alles beisammen, zusammengesucht auf den Seiten 75, 153, 137, 152, 182f., in dieser Reihenfolge, nur das letzte Schnipselchen fehlt noch: „Мы чакаем фюрара! Цярплівасць, цярплівасць, ён з’явіцца.“ (We await the Fuehrer! Patience, patience, he will come.) Noch ein Durchgang, noch einer ‒ Fehlanzeige :-( Frustriert nach Hause geradelt. Später die 4. Auflage von 1913 durchgesehen, die in der Bibliothek auch elektronisch vorliegt ‒ wieder nichts. Im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek eine 5. erweiterte Druckausgabe von 1914 entdeckt, inklusive Scan des Inhaltsverzeichnisses im Katalog. Darin der Hinweis auf ein neues Unterkapitel „In Erwartung des Führers S. 263“. Neue Hoffnung, Buch bestellt, in die Bibliothek geradelt, Buch am Tresen abgeholt, S. 263 aufgeschlagen, auf S. 265 gefunden: „[S]ie warten des Führers. Geduld, Geduld, er wird nicht ausbleiben.“ In hysterische Freudenschreie ausgebrochen, Hausverbot erteilt bekommen. (Nein, ich konnte gerade noch an mich halten.)
3) Wüstenzone und Vermehrungskraft
In früheren Kapiteln streuen die Autoren immer wieder einmal Ausdrücke oder kurze Wendungen in Anführungszeichen ein, die gerne auch wiederholt werden. LTI offenbar. Sie sind nicht mit Quellennachweisen oder dem Hinweis auf einen Urheber versehen. Einige tauchen später eingebettet in längere Zitate noch einmal auf, andere leider nicht. Was fängt man nun an mit „зона пустыні“, das immer wieder auftaucht. Wüstenzone? Ödland? Niemandsland? Und wer hats gesagt? Googeleien helfen nicht weiter, das Wörterbuch NS-Deutsch von Brackmann/Birkenhauer aus dem Straelener Manuskripte Verlag (=EÜK Straelen, Glossar Nr. 4) leider auch nicht. Bei Heydecker/Leeb (1958, S. 419) fand ich auf der Suche nach anderen Zitaten den Satz: „Maßlos und ohne Gewissen zielte Hitler darauf ab, in Osteuropa einen ‚leeren Raum‘ zu schaffen, Platz für eine von Himmler gezüchtete und organisierte Herrenrasse.“ Ist das ein Treffer? Zuletzt dann, der Text ist schon im Lektorat, doch noch des Rätsels Lösung. In einem Regiments-Befehl vom 10.12.1941, aus dem im Buch eine andere Passage zitiert wird, schreibt Oberleutnant Hans Schittnig: „Die Massnahme, Schaffung einer Wuestenzone, ist von entscheidender Bedeutung fuer die Kampffuehrung im Winter und muss dementsprechend ruecksichtslos und vollstaendig vorbereitet und durchgefuehrt werden.“34 Also tatsächlich die Wüstenzone.
An drei Stellen ist von „біялагічны патэнцыял“ (biologischem Potenzial?) die Rede. Auch hier stoße ich schließlich zufällig auf die Lösung in einem Text, aus dem andere Passagen ausführlich zitiert werden: „Die bisherige Steigerung der Geburtenziffer seit dem Jahre 1933 ist an sich erfreulich, kann aber in keiner Weise für den Bestand des deutschen Volkes als ausreichend angesehen werden, insbesondere wenn man die gewaltigen Siedlungsaufgaben im Osten und die ungeheure biologische Vermehrungskraft unserer östlichen Nachbarvölker in Betracht zieht.“35
Postscriptum
Noch eine letzte Parallelstelle aus dem Kapitel „Raubtiere auf Menschenjagd“:
Ullrich 1981:105
Aber die Kleinste, sie war vier Jahre alt, sagte:
‒ Onkel, nehmt mich und Oma nicht mit, ich werde euch ein Liedchen vorsingen, das heißt ‚Ich werde Gurken säen‘. Sie sang es ihm vor und stand dabei auf dem Fensterbrett.
Weiler 2024:
Und die Jüngste, gerade mal vier Jahre, sagte: ›Onkels, nehmt die Großmutter und mich nicht mit, ich sing euch auch ein Lied, das Passeju hurotschki.‹ Sie sang es ihnen vor, wie sie im Fenster stand […].
Hier singen Palaheja Kirylenka, Maryja Dsemidsenka, Sofja Beltschanka und Eŭdakija Tschumak das Volkslied. Bjaroski, Rayon Brahin, Gebiet Homel. Juli 2015.